E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Fried Glücksspieler
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13806-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-13806-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Schwestern Kim und Mona wollen alles – Liebe, Geld, Sex – aber leider wollen sie es vom selben Mann. So lassen sie sich beide in Gregors Plan einspannen: Mit einer fingierten Entführung will er seine wohlhabende Frau erpressen, um endlich das Leben führen zu können, das er sich erträumt. Als die drei sich ihrem Ziel ganz nahe glauben, ist plötzlich alles anders: Die brave Mona entpuppt sich als gerissene Betrügerin, der unsteten Kim begegnet unerwartet die große Liebe, und Gregor zahlt die Rechnung für das missglückte Gaunerstück. Am Ende müssen alle erkennen, dass sich wahres Glück nicht erzwingen lässt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Obwohl er tot war, schaffte es Monas Vater immer noch, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
Das lag vielleicht daran, dass Mona eigentlich immer ein schlechtes Gewissen hatte. Oder daran, dass der Blumenschmuck, den sie für die Beisetzung bestellt hatte, so spärlich ausgefallen war. Vielleicht war der Grund dafür aber auch, dass sie in ihrem Inneren vergeblich nach einem Gefühl von Trauer suchte. Da war keine Trauer. Kein Schmerz. Nur ein Gefühl von Erleichterung, gepaart mit einer leichten Ratlosigkeit.
Der Sarg stand wenige Meter vor ihr in der Apsis der Friedhofskapelle, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Vater blicke von irgendwoher missbilligend auf die eintreffenden Trauergäste. Niemand schien von seinem Weggang erschüttert zu sein. Einige weitläufige Verwandte hatten sich eingefunden, ein paar frühere Patienten, Vertreter ärztlicher Standesorganisationen, seine langjährigen Praxishelferinnen. Freunde hatte er wohl nicht gehabt, wie Mona ohne großes Erstaunen konstatierte. Da drüben entdeckte sie Willi, seinen alten Studienkollegen. Er würde die Trauerrede halten.
Wo Kim nur wieder blieb? Beunruhigt ließ Mona ihre Blicke über die halb gefüllten Stuhlreihen Richtung Eingang wandern. Sie sah ihre Schwester durch den Mittelgang eilen, die Jacke offen, die lockige Mähne unfrisiert, in Minirock und Stiefeln. Sie schob sich auf den freien Platz neben ihr. Mona bedachte sie mit einem strafenden Blick.
»Mach mich bloß nicht an!«, sagte Kim aggressiv.
»Ich hab keinen Ton gesagt«, gab Mona zurück. »Ich dachte nur, wenigstens zur Beerdigung deines Vaters könntest du mal pünktlich sein.«
»Davon hat er auch nichts mehr.«
Die Orgel setzte ein, die Trauergäste räusperten sich und setzten sich zurecht. Eine Sopranistin der städtischen Oper, die Mona für ein exorbitantes Honorar engagiert hatte, sang das Ave Maria. Die anschließende Predigt rauschte an Mona vorbei. Erst als Willi ans Rednerpult trat, kehrte ihre Aufmerksamkeit zurück.
Er hielt eine dieser grauenvoll verlogenen Reden, bei der jeder, der ihren Vater näher gekannt hatte, sich vor Peinlichkeit winden musste. Er rühmte die Verdienste des Verstorbenen als Arzt und Vater, sprach von seiner großen Menschlichkeit, seiner Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und zu pflegen. »Mein Freund Herbert war einer der Besten«, schloss Willi mit brechender Stimme, »und die Besten gehen immer zu früh.«
Die Wahrheit war, dass die beiden als junge Ärzte einen katastrophalen Kunstfehler begangen und gemeinsam vertuscht hatten. Bei einer Leistenbruchoperation war der diabeteskranke Patient wegen eines Narkosefehlers ins Koma gefallen und später gestorben.
Ein letztes Mal erhob sich die Stimme der Sopranistin und füllte den hohen Raum. Gegen eine flüchtige Rührung kämpfte Mona an, indem sie den Minutenpreis der Künstlerin ausrechnete. Kim starrte unbeteiligt in die Luft.
Wieder meldete sich Monas schlechtes Gewissen. War es möglich, dass sie beide so wenig für ihren Vater empfanden? Als Kinder hatten sie um ihn gebuhlt, um seine Liebe rivalisiert. Kim, die acht Jahre Jüngere, mit dem unschuldigen Charme des Kleinkinds, Mona mit den Waffen der Heranwachsenden. Viel später, als sie erkannt hatten, dass keine von ihnen diesen Wettstreit würde gewinnen können, hatten sie sich von ihm abgewandt. In den letzten Jahren hatte Mona noch mal versucht, ihm näher zu kommen. Aber mit dem Alter war ihr Vater noch egozentrischer, unbelehrbarer und starrsinniger geworden. So war ihr Versuch nicht viel mehr gewesen als das verzweifelte Aufbäumen eines abgewiesenen Kindes; für Mona nur die letzte in einer langen Reihe von Demütigungen.
Die Trauergäste erhoben sich jetzt und folgten dem Sarg zur Grabstelle. Vor diesem Moment hatte Mona sich gefürchtet. Nicht nur, dass sie die Schaufel nehmen und Erde auf den Sarg werfen musste, eine Geste, die ihr schon im Kino immer die Tränen in die Augen trieb; nein, sie und Kim würden am Rande des Grabes stehen bleiben und die Kondolenzbezeugungen entgegennehmen müssen.
Sie setzte die Sonnenbrille auf, obwohl der Himmel bedeckt war. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Schaufel aus der Hand des Pfarrers entgegennahm. Entschlossen nahm sie etwas krümelige Erde und ließ sie auf den Sargdeckel fallen. Ein mitgereister Regenwurm wand sich aus dem Erdreich und suchte das Weite. Sie reichte die Schaufel weiter. Achtlos schippte Kim ein paar Kiesel mit, die polternd auf dem Sarg aufschlugen.
»Fahr zur Hölle«, murmelte sie, und Mona sah sie erschrocken an.
Kim gab die Schaufel dem nächsten Trauergast und wandte sich zum Gehen. Mona erwischte sie gerade noch am Jackenärmel.
»Du bleibst hier!«, befahl sie. »Wenn ich mich schon sonst um alles allein kümmern musste.«
Kim blieb widerstrebend stehen, um all die Hände zu schütteln und die gemurmelten Tut-mir-so-Leids und Mein-herzliches-Beileids über sich ergehen zu lassen. Endlich waren die letzten Trauergäste gegangen. Aufatmend zog Kim ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche und steckte sich eine an. Mona nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen.
»Und jetzt?«, fragte sie erschöpft.
»Keine Ahnung.« Kim scharrte mit der Stiefelspitze im Kies.
»Eine Cola und eine Pizza mit allem«, bestellte Kim, als sie sich gesetzt hatten. Der Kellner nickte eilfertig und notierte die Bestellung, als handele es sich um ein sechsgängiges Menü.
»Für mich nur ein Wasser«, bat Mona und lächelte entschuldigend.
Die Tristesse des Lokals mit seinen Kunststoffmöbeln, den Strohblumensträußen und kitschigen Capri-Ansichten war nicht geeignet, die Stimmung zu heben. Mona fragte sich, was einen Italiener dazu hatte bewegen können, sein schönes, sonniges Land zu verlassen, um am Rande eines deutschen Großstadtfriedhofs eine Pizzeria zu eröffnen.
»Also, sag schon«, begann Kim und steckte sich die nächste Zigarette an, »springt was für mich raus?«
»Was meinst du?«
»Paps’ Testament natürlich. Er wird doch was hinterlassen haben?«
Mona holte tief Luft. »Sag mal, schämst du dich gar nicht? Dein Vater ist noch keine halbe Stunde unter der Erde, und du redest schon wieder vom Geld?«
»Warum sagst du immer ›dein Vater‹«, äffte Kim gereizt ihre Schwester nach, »erstens war er auch dein Vater, und zweitens kann ich mir Sentimentalitäten bei meiner Finanzlage nicht leisten.«
»Lass uns nicht streiten«, bat Mona und legte ihr die Hand auf den Arm. »Erzähl mir doch erst mal, wie’s dir geht.«
»Wie soll’s mir schon gehen, wie immer eben.«
»Neuer Job? Neuer Freund?«
»Ach, hör doch auf, das interessiert dich doch gar nicht.«
»Natürlich interessiert es mich!«, sagte Mona gekränkt.
Kim ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Komm schon, was ist mit Kohle? Ich sehe vor lauter Schulden kein Land mehr!«
Mona zuckte die Schultern. »Tut mir Leid, Kimmie, ich muss dich enttäuschen. Paps konnte, wie du weißt, mit Geld überhaupt nicht umgehen, und die letzten Jahre im Augustenstift haben alles aufgefressen. Am Schluss musste ich noch Geld zuschießen.«
Kim schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt!«, fluchte sie. »Das hat er mit Absicht getan, alles rauszuhauen, damit wir bloß nichts mehr kriegen!«
»Quatsch«, wehrte Mona ab, »darüber hat er gar nicht nachgedacht.«
Kim starrte finster vor sich hin. »Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie schließlich.
»Vorige Woche. Er hat mich kaum noch wahrgenommen. Sie hatten ihn mit Schmerzmitteln voll gepumpt und er hing am Tropf. Er sah ganz klein aus. Wenn ich daran denke, wie viel Angst wir früher vor ihm hatten.«
»Weißt du«, sagte Kim nach einer Pause nachdenklich, »seit ich den Sarg gesehen habe, denke ich, es war vielleicht doch ein Fehler, dass ich ihn nicht mehr besucht habe. Ich erinnere mich an ihn als gesunden Mann, und ich kann ihm einfach nicht verzeihen.«
Mona nickte. »Wenn du ihn zuletzt gesehen hättest, wär’s vielleicht anders.«
»Kann sein. Hast du ihm verziehen?«
Mona folgte dem Rauch von Kims Zigarette mit den Augen.
»Ich weiß nicht. Wenn du so oft zurückgestoßen wirst, gibst du’s irgendwann auf. Und wenn du jemanden nicht mehr liebst, ist es auch nicht mehr so wichtig.«
Kim schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Nachdem Mama weg war, warst du alles für ihn.«
»Du spinnst, Kim. Ich war ihm gleichgültig. Alle Menschen waren ihm gleichgültig. Die Einzige, die an ihn rankam, warst du. Du warst aufsässig, du hast ihn zum Wahnsinn getrieben, aber du hast wenigstens Gefühle bei ihm ausgelöst.«
Kim erhob mit einer heftigen Bewegung ihr Glas, als wolle sie die Erinnerung wegwischen.
»Auf dich, Paps!«, sagte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Vielleicht bist du da drüben glücklicher, als du’s hier warst.«
Sie stürzte sich auf die Pizza, die der Kellner in diesem Moment servierte, und aß gierig. Mona betrachtete sie aufmerksam.
»Soll ich Manfred fragen, ob er in der Firma was für dich tun kann?«, bot sie an.
Kim sah von ihrem Teller auf.
»Pah, damit ich den Flanellärschen Kaffee koche und mir den Hintern betatschen lasse?«
Einen Moment herrschte Schweigen, nur unterbrochen vom Klappern des Bestecks. Aufseufzend schob Kim den Teller von sich und griff nach den Zigaretten.
»Wie’s mir geht, willst du wohl nicht wissen«, fragte Mona.
Kim nahm den ersten Zug und blies den Rauch in die Luft.
»Ehrlich gesagt, nein. Ich hab genug eigene Probleme.«
Sie stand auf, nahm ihre Zigaretten und die Jacke. »Ich muss los. Danke für...