Frick | Gerufen oder nicht gerufen? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Frick Gerufen oder nicht gerufen?

Spiritualität in der Analytischen Psychologie
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-042130-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Spiritualität in der Analytischen Psychologie

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-17-042130-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein" - diese Überschrift wählte C. G. Jung für sein Leben und Sterben. Äußert sich die spirituelle Suche im Rufen nach einem Gott, in einem Gebet, oder bleibt die kindliche Vorstellung von Gott unbewusst im Hintergrund? In der Psychotherapie kann das Gottesbild, entstanden aus frühen Bindungserfahrungen und kollektiven religiösen Erinnerungen, in spirituellen Nöten, in Träumen oder Imaginationen auftauchen. Am Beginn des Lebens hilft das Gottesbild, mit der Abwesenheit oder der ersehnten Präsenz Gottes umzugehen. In den Krisen des Lebens und vor allem des Sterbens ermöglicht es einen Anfang im Abschied. Der Autor befasst sich mit der Bedeutung der Spiritualität in der Analytischen Psychologie und zeigt auf, wie die spirituelle Suche im Individuationsprozess begleitet werden kann. Das Werk richtet sich insbesondere an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich vertieft mit Spiritualität auseinandersetzen möchten, um deren Potenzial für Coping und Heilung im therapeutischen Prozess nutzen zu können.

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2 Ist Gott in der Seele? Oder: Zwischen Verinwendigung und Verseelung
2.1 Gott im Vokativ (Zweite-Person-Perspektive)
»Du bist mir innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes« (interior intimo meo et superior summo meo): So spricht Augustinus Gott in seinen Bekenntnissen (III, 11) an. Es handelt sich also nicht um eine Rede über Gott in der Dritte-Person-Perspektive, sondern um ein Gespräch mit Gott/ein Gebet zu Gott in der Zweite-Person-Perspektive. Wenn in diesem Buch vom Vokativ gesprochen wird, so ist damit kein eigener Kasus gemeint, den es im Deutschen nicht gibt, sondern der mit »o?(h)« oder auch mit dem Pronomen »Du« eingeleitete Anredenominativ. Das literarische und spirituelle Zeugnis des antiken Kirchenvaters Augustinus ist ein prominentes Beispiel für betende Menschen aller Zeiten. Aber auch Ausrufe wie »Oh Gott!« oder »Ach Gott!« in Gefahr oder Krankheit können als Stoßgebete oder verblasste Schwundformen von Gebeten verstanden werden (? Kap. 4). Thielicke (1962, S. 22) ist diesbezüglich allerdings skeptisch: Viele Angstgebete seien kein Sprechen mit Gott, sondern ein Sprechen mit der Gefahr. Im unwillkürlichen Ausruf »Mein Gott!« geschehe nicht in jedem Fall eine wirkliche Begegnung. Vielmehr könne das Gebet auch eine »trügerische Tempelkulisse« darstellen, »die wir um den Altar unserer eigenen Wünsche und Sorgen herumbauen«. Die angemessene Form, das Wort »Gott« zu gebrauchen, ist die Anrede, nicht das Reden über Gott (Barth, 1961/1999, S. 49). Stoßgebete, alltägliche Interjektionen wie Oh Gott!, oje!, das aus dem Arabischen übernommene spanische ¡ojalà! und der hebräische »Gott-Schrei« jàh (Rosenzweig, 1929/2001) sind Spuren dieses vokativischen Sprachgebrauchs. In einem Brief diskutiert Jung den Unterschied zwischen der Erste- und der Zweite-Person-Perspektive: Wie kann sich ein Mensch von diesem Geschehen distanzieren? Er wäre ja dann ein Philosoph, der über, aber nicht mit Gott redet. Ersteres wäre leicht und gäbe dem Menschen falsche Sicherheit, letzteres ist schwer und darum äußerst unpopulär. Eben das war mein beklagtes Los, darum brauchte es schon eine energische Krankheit, meinen Widerstand zu brechen. Ich soll überall drunter und nicht drüber sein. Wie sähe Hiob aus, wenn er sich hätte distanzieren können? (Jung an Erich Neumann, 5.?1.?1952). Wenn ich über jemanden (in der Dritte-Person-Perspektive) rede, dann verfüge ich gewissermaßen über ihn oder sie wie über eine Sache: Ich besitze die Person, habe sie unter Kontrolle oder möchte sie in meinen Besitz bringen. Ich will sie haben, indem ich sie an mich bringe oder auch nur fotografisch »festhalte«. Das Verfügenwollen in der Dritte-Person-Perspektive nennt Buber (1923/2019, S. 39) »Grundwort Ich-Es«. Über Gott im Grundwort Ich-Es verfügen zu wollen, ist eine Gefahr unsicherer Gottesbindungen in ihren verschiedenen Spielarten. Die gespürte Abwesenheit Gottes muss überspielt werden, durch Ersatzkonstruktionen und zwanghafte Rituale oder durch den Versuch, mit Gott zu verhandeln, ihm Bedingungen zu stellen (? Kap. 6.6). Andererseits produziert die Abwesenheit Gottes nicht nur derartige verfügende Versicherungen. Gerade im naturwissenschaftlich-technisch geprägten Säkularismus der Moderne hatte das Nicht-Feststellen Gottes auch das Anerkennen seiner Nicht-Feststellbarkeit zur Folge. Die Abwesenheit Gottes kann dann zur Spur des unverfügbaren Anderen (Levinas, 1963/1983), zur Chiffre der Transzendenz (Jaspers, 1962/2016) und zum Ausgangspunkt eines tröstlichen Trauerprozesses (Certeau, 1986; Westerink, 2010) werden. Insofern ist die agnostische spirituelle Suche viel näher an der Mystik eines Meisters Eckhart als die religiöse Pseudosicherheit des Menschen, der in einer Grenzsituation auf Halt und Gehäuse zurückgreift, weil er die Existenzerhellung vermeidet (Jaspers, 1932). Im Gegensatz zum Grundwort Ich-Es kann ich das »Grundwort Ich-Du« nur mit meinem ganzen Wesen sprechen: »Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung« (Buber, 1923/2019, S. 40). Es ist ein Charakteristikum der Moderne, keine prinzipielle Unverfügbarkeit der Dinge, der Personen, der Natur und Gottes zu akzeptieren, sich entweder als uneingeschränkt souverän Handelnde oder wehrlose Opfer zu erfahren. Dieser Unabhängigkeitsanspruch der Moderne ist allerdings in die Krise geraten und wird durch eine »spirituelle Abhängigkeitserklärung« abgelöst (Rosa, 2019). Auf diese Weise öffnet sich gerade durch die Moderne ein erkenntnistheoretisches Fenster, das den erwähnten Spur-?, Chiffre- und Trauerprozess möglich macht. Verfügen- und Kontrollierenwollen ist Reichtum – materielles oder auch nur erkenntnismäßiges Besitzenwollen. Umgekehrt sind Armut und Akzeptieren von Unverfügbarkeit (Rosa, 2018) nicht unbedingt mit der Abwesenheit von Besitz gegeben. Nichts zu haben oder pseudounabhängig alles wegzuschenken, kann mein Begehren und damit die Haltung des kontrollieren-wollenden Reichtums sogar noch steigern. Lange vor der Neuzeit hat die mittelalterliche Mystik eine Sensibilität und eine Kriteriologie für zwei Gefahren des spirituellen Weges entwickelt: 1. In der Dritte-Person-Perspektive kann ich versuchen, Gott durch irgendwelche Opfer oder Handlungen zu kontrollieren (»do ut des«: ich gebe, damit du gibst). 2. Auch in der Zweite-Person-Perspektive kann ich noch versuchen, einen gewissen Druck auf Gott auszuüben wie auf eine Autoritätsperson, von der ich durch Bitten und Betteln etwas erreichen will. Meister Eckharts (* um 1260; † 1327/28) Gebet (Predigt 52 »Beati pauperes«, in: Largier & Quint, 1993a, S. 550?–?562, hier: 554) spricht Gott mit dem Begehren an, ihn nicht zu begehren, nicht über ihn zu verfügen, in diesem Sinn gott-los zu sein: Her umbe sô biten wir got, daz wir gotes ledic werden und daz wir nehmen die wârheit und gebrûchen der êwicliche, dâ die obersten engel und diu vliege und diu sêle glîch sint in dem, dâ ich stuont und wollte, daz ich was, und was, daz ich wollte. Alsô sprechen wir: sol der mensche arm sîn von willen, sô muoz er als lützel wellen und begern, als er wollte und begerte dô er niht enwas. Und in dirre wise ist der mensche arm, der niht enwil.1 Eckhart spricht hier über sein Gebet (in der Dritte-Person-Perspektive). Er erklärt, dass die Zweite-Person-Perspektive nur dann authentisch und »arm« ist, wenn sie ohne Willen und Begehren, also absichtslos ist. Die Armut, so Eckhart, kann in äußerlichen Akten bestehen (ûzwendigiu armuot) oder inwendig sein. Äußere Armut (Herschenken von Besitz, Verzicht auf bestimmte Fortbewegungsmittel oder Nahrungsbestandteile ...) kann eine subtile Form des Reichtums, des Haben- und Kontrollierenwollens sein. Deshalb sagt Eckhart: Wer beide, äußerliche und inwendige Armut, verwechselt, sei ein Esel. Der Unterschied zwischen Dritte- und Zweite-Person-Perspektive hat auch eine große Bedeutung für die Religionskritik. In der Dritte-Person-Perspektive kann ich z.?B. Gott nicht feststellen wie andere Objekte meines Nachdenkens, Messens, Objektivierens. Dies kann entweder zur Konsequenz haben, dass ich Gott leugne oder ihn als nicht untersuchbares Objekt betrachte. Oder ich kann religiöse/spirituelle Handlungen und Überzeugungen durch meine Messmethoden operationalisieren. In der Zweite-Person-Perspektive (Grundwort Ich-Du) wendet sich die Religionskritik jedoch dem religiösen oder spirituell suchenden Menschen zu, z.?B. innerhalb einer Psychotherapie. Interessanterweise spricht ein wichtiges Zeugnis psychoanalytischer Religionskritik, die »Gottesvergiftung« (Moser, 1976), Gott an, in einem anklagenden Gebet. 40 Jahre später wundert sich Moser (2017) darüber, dass er als Psychoanalytiker »Zeuge vorsichtiger Gebete« wird, dass er das Beten seiner Patientinnen und Patienten therapeutisch ermutigt und wie ein spiritueller Lehrer unterstützt (? Kap. 6). 2.2 Verinwendigung
Interior intimo meo et superior summo meo: Augustinus formuliert hier eine doppelte Grenzüberschreitung, eine doppelte Transzendenz: Gott überschreitet die Grenzen des Hohen und des Inneren. Er ist einerseits höher als mein Höchstes – so haben religiöse Menschen schon immer Gott als Superlativ gesehen, als Steigerung und Überbietung hoher Kirchtürme und...


Prof. Dr. Eckhard Frick sj, Psychoanalytiker, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiater, leitet die Forschungsstelle Spiritual Care an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar der TU München.



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