E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Fischer Schatzinsel
Frey Schwarze Zeit
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-400954-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Fischer Schatzinsel
ISBN: 978-3-10-400954-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jana Frey wurde 1969 in Düsseldorf geboren, studierte Literatur, Geschichte und Kunst in Frankfurt, den USA und in Neuseeland. Sie hat bereits zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht und arbeitet auch fürs Fernsehen. Ihre Bücher wurden in zwanzig Sprachen übersetzt. Jana Frey lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland. Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung.
Autoren/Hrsg.
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1. Fireflies
Kalimera!
Es war Morgen. Ein Sonnenmorgen. Ein Sonnensommermorgen. Die Nacht war vorbei. Zum Glück. Adieu Nacht. Mindestens fünfzehn Stunden Licht lagen vor mir. Vor mir und meinem Leben.
Ich bin ich. Ich bin schwarz. Ich bin nicht Paula.
Ich bin eine Schattengestalt.
Potter war auch schon wach. Potter liebte Licht und Sonne und Wärme genau wie ich.
Potter hatte nur ein Auge und nur drei Beine. Drei und ein halbes. Er stammte aus Griechenland, wie ich.
Und obwohl der Kater hässlich war, war er wunderschön. Weich und wollig und gut und schläfrig und tintenschwarz war er. Sein Fell war immer voller Staub. Wenn er in der Sonne lag, so wie jetzt, konnte man den Staub um ihn herum tanzen sehen im Licht.
Griechenland war Licht und Sonne und Wärme und Zikaden und Olivenbaumhaine und Schafherden und Meer und Strand und windige Luft.
Griechenland war Glück. Mein Glück.
Mein Vater lebte dort. Irgendwo dort.
Von ihm hatte ich meinen Vornamen. Annis. Annis wie Anis. Lakritz ist aus Anis. Und Anisplätzchen sind aus Anis. Und Ouzo, Anisschnaps, ist aus Anis.
Mein Vater war Schafhirte, Dichter, und Schweiger, in dem griechischen Frühling, in dem ich entstanden war. Und er liebte Ouzo. Er hatte ihn mit meiner Mutter getrunken am Strand, während sie zusammen über das Meer schauten. Und noch andere Dinge taten.
Was aus meinem Vater geworden war, wusste ich nicht. Und wo er war, auch nicht.
Ich bin ich. Ich bin, wie schon gesagt, Annis. Aber ich bin auch Elektra, die Geladene. Denn ich sprühe Funken und verteile Stromschläge, das wissen alle, die schon mit mir und meinen Stromhänden, meinen Elektrahänden, zu tun hatten.
Keiner konnte sich das erklären. Meine Freundin Jelena, die meine einzige Freundin war, sagte, es hätte mit meiner Geburt zu tun.
Levi, der im Nachbarhaus wohnte, nannte mich MrsGeller, nach Uri Geller, dem Bühnenmagier mit den telepathischen Kräften.
»Mach es wie er«, sagte Levi manchmal sinnend und zappte sich durch seine zweiundvierzig Fernsehsender, Levi schaute praktisch rund um die Uhr Fernsehen. Tag und Nacht. Nur die Schule zwang ihn zu Vormittagsfernsehpausen wider Willen.
»Bring stehengebliebene Uhren wieder zum Laufen, nur indem du sie ansiehst, verbieg mit deinem düsteren Stahlblick Besteck, nimm Kontakt zu Aliens auf, Annis! Dann bist du eine gemachte Frau. Dann bist du richtig hipp! Schräg bist du doch sowieso.«
Jelena glaubte, wie gesagt, es hinge mit meiner Geburt zusammen, dass ich immer wieder Stromschläge an die Leute verteile, die mich berühren, und sei es auch nur ganz flüchtig. Manchmal reicht es auch schon, einfach dicht neben mir zu stehen. Wenn ich mich im Dunklen ausziehe, tanzen hellblaue Funken um meinen Kopf. Und Fernseher spielen in meiner Gegenwart verrückt. Verlieren die gespeicherten Sendeplätze. Flackern. Schalten das Programm um, ohne dass jemand auch nur die Fernbedienung berührt.
Auch für Handys bin ich Gift. Immerzu verlieren sie in meinen Händen ihr Netz und beenden gegen meinen Willen meine Telefongespräche.
»Es war diese Nacht. Da bin ich mir sicher. Es war dieses Gewitter. Du hast doch gehört, was deine Mutter gesagt hat. Und auch noch mitten im Winter. Das gibt es sonst nie. Im Sommer gibt es haufenweise Gewitter. Aber nicht im Winter. Es war November. Es lag Schnee, Annis! Schnee! Und vergiss nicht den Baum in eurem Garten.«
Ich nickte. Das stimmte. Ein Blitzschlag hatte dem alten Kastanienbaum die halbe Krone abgeschlagen und den Rest in Brand gesteckt. Ein paar Augenblicke später wurde ich geboren. Zu früh. Zuhause. Ganz plötzlich. Unerwartet.
Während sich die freiwillige Feuerwehr unseres Stadtteils um den brennenden Baum kümmerte, kümmerte sich ein Notarztteam um mich. Ich war klein, dünn, hässlich, aber ich hatte viele schwarze, verklebte Löckchen auf meinem winzigen Kopf. Mein griechisches Erbe.
»Und du hattest seine Augen«, erzählte meine Mutter, als sie mir von dieser Gewitternacht erzählte. »Von Anfang an.«
Seine Augen und meine Augen.
Es war ein blassgelber Ring um unsere schwarzen Pupillen in unseren fast schwarzen Augen, mehr nicht.
Ein goldener Ring. So formulierte es meine Mutter.
Sie nannte ihn nie beim Namen, meinen Vater. Sie redete überhaupt so gut wie nie über ihn.
Es gab noch mehr Dinge, über die meine merkwürdige, wortkarge, eigenbrötlerische, schwermütige Mutter schwieg.
Paula, zum Beispiel.
Und die Sache, die damals passiert war. Meine Großmutter sprach einmal davon. Ich hörte es nur zufällig, als ich an einem Abend ganz spät noch am Wohnzimmer vorbeiging, um meine Sportsachen für den nächsten Tag zu holen. »… wegen Annis«, sagte meine Großmutter, und in ihrer Stimme war etwas, das mich aufhorchen und stehen bleiben ließ. »… die Sache in der Küche. An Silvester. Diese schreckliche Nacht, damals. Weißt du noch, Tamara? Himmel, weißt du noch? Weißt du noch? Weißt du noch?«
Das hatte sie an diesem Abend zu meiner Mutter gesagt nach mehreren Gläsern Rotwein, während sie zusammen im Wohnzimmer saßen. Das war, bevor ihr die Zeit abhandenkam.
»Das ist lange her, Mutter! Warum denkst du immer noch daran? Das ist vorbei. Vorbei und vergessen«, antwortete meine Mutter damals.
»Was meinte sie wohl?«, grübelte Jelena manchmal. »Die Sache in der Küche? Diese schreckliche Nacht? Das klingt wie in einem Film. Unheimlich, spacig. Abgefahren.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
»Frag deine Mutter«, sagte Jelena.
»Das habe ich schon.«
»Frag sie noch mal«, drängte Jelena.
»Das hat keinen Sinn. Wenn sie etwas nicht sagen will, sagt sie es nicht. So ist sie eben.«
Aber eines Tages fragte ich sie doch. Ich erinnerte sie an diese Rotweinnacht und fragte nach der Sache in der Küche, die damals passiert war.
Was war passiert? Wann? Wem?
Mir? Ihr? Uns? Meiner Großmutter?
Etwas Schlimmes? Gefährliches? Ein Unfall?
Meine Mutter bekam diese zwei scharfen, tiefen Senkrechtfalten über der Nasenwurzel und schaute mich mit ihren hellen, unruhigen Augen unruhig an. Aber sie erklärte mir nichts.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Du musst dich verhört haben. Geirrt haben. Etwas falsch verstanden haben.«
Das war alles, was sie sagte.
Jedenfalls waren bei meiner Geburt die Blitze nur so ums Haus gejagt, das Zimmer, in dem meine Mutter sich befand, die eigentlich gerade auf dem Weg ins Bett war, wurde taghell, immer und immer wieder, und dann kam ich. Einfach so. Mitten in Blitz und Donner.
»Elektra, die Geladene«, sagte Jelena und nickte zufrieden, als ich ihr die Geschichte erzählte. Jelena liebte Düsteres.
Verrückt, wie schnell meine Großmutter alles mitbekommen hatte, verrückt, wie schnell der Krankenwagen gekommen war, und nur eine halbe Stunde, nachdem ich das Licht der Welt erblickt hatte, war ich schon in meinem Wärmebettchen auf der Frühgeborenenstation des städtischen Krankenhauses.
Der Baum brannte ebenfalls nicht mehr und stand noch immer dunkel und düster im Garten. Mit verbrannter Krone und krummen, verärgerten Restästen, die krumme, ärgerliche Seitentriebe trieben seitdem.
Wenn ich die Hände spreize, knistert es leise, und es ist, als fielen Funken aus meinen Fingerspitzen.
Wenn ich in ein Auto einsteige oder jemandem die Hand gebe oder in einen Aufzug oder auf eine Rolltreppe steige, kribbeln meine Füße, prickeln meine Hände, laden sich meine Haare elektrisch auf. Ich verteile Stromschläge rund um mich herum.
Meine Großmutter, als sie noch denken konnte und die Zeit und das Leben noch nicht verloren hatte, schenkte mir eine Bernsteinkette dagegen und Jelena eines Tages einen Rosenquarz, dick und kantig und schwer und zartrosa, aber nichts half wirklich.
»Du bist eben ein hoffnungsloser Fall, MrsGeller«, sagte Levi achselzuckend.
Die Zimmertür öffnete sich.
Ich hob den Kopf aus meinem schwarzen Deckenberg.
Ich liebte zwar helles Licht und die Sonne am Himmel, aber alles andere, alles was mich unmittelbar berührte, war schwarz.
Potter. Meine Decken. Cola. After Eight – die einzige Süßigkeit, die ich mochte. Schwarzbrot. Brombeeren. Zartbitterschokolade. Meine Haare. Meine Fingernägel. Meine Anziehsachen.
»Es padingt wieder. Gleich nachdem ich aufgewitscht war. Warum padingt es? Warum? Und wem gehört dieses scheußliche Ding?«
Es war meine verschlafene Großmutter, und mit meinte sie ihren Morgenmantel, den sie mir missmutig entgegenstreckte.
»Das ist dein Mantel, Oma«, sagte ich. »Dein Morgenmantel. Tante Hannah hat ihn dir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Weißt du nicht mehr?«
»Nein. Der gehört jemand anderem. Bestimmt. Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber jetzt lag er da bei meinem Bett. Er hat mich geweckt. Wach geguckt. Ich habe es gesehen. Er ist böse.«
»Mama!«, rief ich und klopfte laut an meine Zimmerwand. »Mama, sie ist wach! Hörst du nicht, sie ist wach …«
Meine Großmutter setzte sich in der Zwischenzeit auf den Boden, und Tränen tröpfelten aus ihren alten, traurigen, verwirrten Augen.
»Ich komme«, rief meine Mutter zurück, und dann war sie auch schon da und half meiner Großmutter beim Aufstehen.
»Juch! Juch! Juch weg! Tücher! Warum? Ich will zapplinden! Wer sind Sie? Ich will zapplinden!«, schimpfte meine Großmutter außer sich und fuchtelte mit den Armen.
Ich drehte mich...




