Buch, Deutsch, 364 Seiten, Format (B × H): 154 mm x 228 mm, Gewicht: 537 g
Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne
Buch, Deutsch, 364 Seiten, Format (B × H): 154 mm x 228 mm, Gewicht: 537 g
ISBN: 978-3-593-39389-6
Verlag: Campus
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Inhalt
Kapitel 1
Gefühle definieren: Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten. 9
Ute Frevert
Gefühls-Debatten in der Moderne. 10
Zusammenhangsvermutungen. 13
Gefühle im Lexikon. 16
Gefühlswissen im Jahrhundert der Aufklärung. 20
Gefühlsbegriffe: Affekte, Leidenschaften, Emotionen. 24
Gefühls-Kontexte: Nationen, soziale Klassen, Geschlechter. 31
Kapitel 2
Topografien des Gefühls. 41
Monique Scheer
Innen und Außen als Quellenbegriffe. 44
Gefühle in der Seele. 46
In den Tiefen des Gemüts. 51
Zeitlichkeit und Tiefe. 57
Kapitel 3
Gefühle zeigen, Gefühle deuten. 65
Anne Schmidt
Perspektiven der Ästhetik. 66
Im Fokus der Aufklärer – die kommunikativen
Funktionen des Gesichtsausdrucks. 69
Die naturwissenschaftliche Wende. 78
Neue und alte Fragen. 88
Kapitel 4
Der Ursprung der Gefühle – reizbare Menschen und reizbare Tiere. 93
Pascal Eitler
'Unnöthige Zänckereyen'? Unterscheidungen und
Anschlussunterscheidungen zwischen Menschen und Tieren. 95
Eine Genealogie der Emotionen?
Emotionengeschichte – Körpergeschichte – Tiergeschichte. 101
Geistige Triebe und dunkle Gefühle:
Mensch-Tier-Unterscheidungen zwischen Physiologie und Psychologie 107
Mitgefühl und Mitleid:
Zur Pädagogisierung und Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen 113
Kapitel 5
Gefühle heilen. 121
Bettina Hitzer
Der Mensch als Einheit in fragiler Balance:
Ein frühneuzeitliches Konzept. 124
Die Einheit bröckelt – ein Übergang auf Umwegen:
Das kurze 19. Jahrhundert. 127
Neurosen, Psychosen und gefühllose Zellen: 1890–1930. 135
Von unbewältigten Gefühlen, Adrenalinschüben und sonstigen
Störungen: 1930–1990. 142
Die Geschichte geht weiter. 148
Kapitel 6
Alter(n) mit Gefühl. 153
Nina Verheyen
Gute Aussichten? Die glücklichen Alten. 153
Die Pflege der Leidenschaften auf den Lebensstufen:
Perspektiven des 19. Jahrhunderts. 157
Die Angst vor Affekten in Lebenskrisen:
Perspektiven des 19. Jahrhunderts. 161
Die Verwissenschaftlichung der Emotionen in allen
Lebensabschnitten: Perspektiven des 20. Jahrhunderts. 169
Der Siegeszug des Sanguinikers. 177
Kapitel 7
Gefühlte Entfernungen. 179
Benno Gammerl
Gefühl als Getast:
Emotionen, sinnliche Wahrnehmung und räumliche Nähe. 181
Gefühl zwischen Vereinzelung und Alliebe:
Von der subjektiven Reflexion zur Totalisierung der Nähe. 185
Sympathie, Gemütlichkeit und soziale Liebe:
Gefühlstopografien zwischenmenschlicher Beziehungen. 191
Kapitel 8
Zusammenfühlen – zusammen fühlen?. 201
Christian Bailey
Die naturlichen Voraussetzungen:
Gemeinsinn – biologische Unterschiede – Persönlichkeitsprofile. 204
Institutionen der Gefühlsbildung:
Bürgergesellschaft – nationale Gemeinschaften – Familien und Erzieher 212
Kollektive Gefühle in gefährlichen Gruppenbildungen:
Die Wilden – die Fremden – die Massen. 222
Kapitel 9
Zivilität und Barbarei – Gefühle als Differenzkriterien. 233
Margrit Pernau
Civility: Der Einzelne in der Gesellschaft. 236
Civilisation: Die Gesellschaft in der Geschichte. 242
Die Somatisierung der Differenz: Biologie und Anthropologie. 249
Kapitel 10
Gefuülswissen in der Moderne – Entwicklungen und Ergebnisse. 263
Ute Frevert
Begriffe und Leitwissenschaften. 263
Gefühle zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, Physis und Psyche 266
Gefühle zwischen Individuum und Gesellschaft. 267
Universalität und Partikularität. 270
Moralisierung der Gefühle. 275
Anmerkungen. 279
Anhang. 345
Editorische Anmerkungen. 345
Liste der zitierten Lexika und Kurztitel. 346
Dank. 360
Sachregister. 361
Kapitel 1
Gefühle definieren: Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten
Ute Frevert
Alle sprechen über Gefühle. Im sogenannten therapeutischen Zeitalter, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzte, sind Gefühle zum Dauerthema geworden, und dies nicht allein zwischen Psychologen und ihren immer zahlreicheren Patienten. Manager und Personalchefs lernen in teuren Fortbildungsseminaren, wie wichtig es für den Geschäftserfolg ist, Gefühle bei sich und anderen zu lesen und zu regulieren. Politiker und Personen des öffentlichen Lebens werden danach beurteilt, ob sie Gefühl haben und die richtigen Gefühle an der richtigen Stelle zeigen. Die Werbung hat Gefühle und Passionen als Verkaufsschlager entdeckt und Firmen taufen ihre Autos oder Kosmetikprodukte ebenso schlicht wie vielversprechend "Emotion". "Emos" nennen sich auch jene Anhänger einer Jugendkultur, die ihren Gefühlen in Musik, persönlichem Habitus und Kleidungsstil Ausdruck verschaffen wollen.
Zugleich liefern Wissenschaften immer neue Entdeckungen über Gefühle und ihre Wirkmächtigkeit. Gefühle, heißt es, spielen eine wichtige Rolle bei Gesundheit und Krankheit. Sie begründen Werturteile und beeinflussen Entscheidungen. Neurowissenschaftler wollen zeigen, wie sie im Gehirn entstehen, welche Hirnregionen affiziert werden und wie sie sich mit anderen Handlungsmotivationen verknüpfen.
Diese Gefühlsoffensive scheint auf den ersten Blick etwas radikal Neues zu sein. Nie zuvor, meint der geschichtsvergessene Betrachter, habe es eine solche Obsession gegeben, nie zuvor seien Gefühle derart intensiv verhandelt und öffentlich inszeniert worden. Erst der Triumph des therapeutischen Paradigmas im Zeitalter des Narzissmus, so die amerikanischen Kulturwissenschaftler Philip Rieff und Christopher Lasch, habe das Gefühlsleben des Individuums ins Zentrum gerückt und zum Brennpunkt vielfältiger medialer, kommerzieller und wissenschaftlicher Strategien gemacht.
Aber stimmt das überhaupt? Sind das späte 20. und beginnende 21. Jahrhundert tatsachlich in besonderer und einmaliger Weise gefühlsbesessen? Hat man sich zuvor nicht um Gefühle geschert? War das Wissen um Gefühle und das, was sie anrichten können, geringer? Zeigte sich das Publikum, das jenes Wissen aufnahm, weniger interessiert und lernbegierig?
Dass Gefühle nicht erst heute zum Thema populärer und wissenschaftlicher Reflexion geworden sind, ist in Bibliotheken und Archiven verbrieft. Philosophen, Literatur- und Kunstwissenschaftler haben in den vergangenen Jahren gezeigt, wie Affekttheorien die antike Rhetorik, das frühneuzeitliche Theater oder die moderne Literatur geprägt haben. Das 18. Jahrhundert und die Epoche der Empfindsamkeit, aber auch die Romantik sind als Hoch-Zeiten künstlerischer Gefühlsemphase identifiziert worden.
Weniger Tiefenschärfe findet man in den experimentellen Kognitions- und Neurowissenschaften. Wenn sie sich mit Gefühlen beschäftigen, tun sie das in der Regel ohne Kenntnis ihrer Vorgänger, die als Philosophen, Mediziner und Psychologen seit mehreren Jahrhunderten das menschliche Gefühlsleben erforschten. Wie sich das dabei akkumulierte Wissen sortierte, wie empirische Ergebnisse anhand theoretischer Konzepte geordnet wurden und wie solcherart gesichertes Wissen an die Öffentlichkeit gelangte, bleibt außerhalb des heutigen Horizonts. Dafür erwärmen sich bestenfalls Wissenschaftshistoriker und Wissenssoziologen; allerdings haben auch sie das Gefühls-Thema noch kaum entdeckt.
Gefühls-Debatten in der Moderne
Daran wird dieses Buch nichts ändern. Es bietet keine Wissenschaftsgeschichte der philosophischen oder psychologischen Gefühlsforschung, ebenso wenig wie es die literatur- und kunstwissenschaftlichen Studien über Affektpoetik und -politik fortsetzt. Sein Ansatzpunkt ist ein anderer: Es interessiert sich für gesellschaftliche Reflexionen und Auseinandersetzungen, die Zeitgenossen der Moderne über Gefühle führten. In diese Reflexionen gingen wissenschaftliche Lehrmeinungen ebenso ein wie moralische und pädagogische Erörterungen. Theologische Referenzen spielten (anfangs) eine Rolle, aber auch politische und ökonomische Überlegungen. Mediziner meldeten sich zu Wort und selbst Juristen hatten etwas dazu zu sagen. Im Ergebnis entstand eine vielstimmige Debatte, die im 18. Jahrhundert mit kondensierter Kraft anhub und bis heute anhält.
Wie aber lässt sich eine solche Debatte rekonstruieren? Und zu welchem Zweck, was ist damit gewonnen? Der Erkenntniswert einer Rekonstruktion bemisst sich an den Fragen, die man stellt. Auf übergeordneter Ebene geht es um die Bedeutung, die Gefühlen in der Welt der Moderne beigemessen wurde. Damit sind nicht einzelne, spezifische Gefühle wie etwa Zorn, Scham oder Angst gemeint. Vielmehr soll der Platz bestimmt werden, den Gefühle generell in den sich schnell und radikal wandelnden Gesellschaften Europas seit dem 18. Jahrhundert einnahmen. Wie ließen sie sich überhaupt erkennen und identifizieren? Welche Bedeutung hatten sie für das, was man jeweils unter Menschsein, Individualität und Subjektivität verstand? Welche Rolle spielten sie in gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen? Fand man sie wichtig oder entbehrlich? Galten sie als störend oder hilfreich? In welcher Form und Dosierung waren sie genehm oder unangenehm? Wurden sie als gegeben akzeptiert oder nahm man sie als gestalt- und wandelbar wahr? Ließen sie sich bilden und trugen sie ihrerseits zu Bildung und Erziehung bei? Gab es Lebensbereiche, in denen Gefühle eher von Nachteil schienen, wahrend sie in anderen Zusammenhangen als unverzichtbar galten? Sah man alle Menschen mit gleichen Gefühlen ausgestattet? Oder unterschied und bewertete man sie nach ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, Gefühle zu empfinden und auszudrücken?
Hinter diesen Fragen verbirgt sich Skepsis gegenüber der oft referierten These Max Webers, wonach die Moderne die Welt entzaubert und von Grund auf rationalisiert habe. Für Gefühle sei in dieser Welt kein Ort reserviert; höchstens im privaten Leben könnten sie sich tummeln und ebenso viel Heil wie Unheil anrichten. Aus der Wissenschaft aber sowie aus den öffentlichen Beziehungen der Wirtschaftssubjekte, Staatsbürger und Gesellschaftsmitglieder seien sie tunlichst zu verbannen. Hier herrschten rationale Interessen und deren distanzbewusste Aushandlung.
An Webers These schloss Norbert Elias mit seinem viel zitierten Werk über den europäischen Zivilisationsprozess an. Darin suchte er nachzuweisen, dass der Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung einherging mit einer zunehmenden Affektkontrolle der Untertanen. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen seien kontinuierlich gestiegen und die Ober- und Mittelschichten hatten sich angewohnt, ihre Affekte im Zaum zu halten. Mit wachsender gesellschaftlicher Differenzierung hatten sich die Interdependenzketten vervielfacht und verdichtet; Menschen seien dadurch zu einer Rationalisierung ihrer Wunsche und ihres Verhaltens gezwungen worden. Außenzwänge seien in Innenzwänge übersetzt, emotionale Impulse durch planvolles Handeln ersetzt worden.
An Elias' Großer Erzählung ist vielfach Kritik geübt worden. Der behauptete Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Persönlichkeitsstruktur hat Soziologen nicht immer überzeugt. Historiker zweifelten die empirische Evidenz an, Anthropologen verneinten die Zielgerichtetheit des Zivilisationsprozesses. Gerade das 20. Jahrhundert habe gezeigt, dass der Prozess - wenn er denn überhaupt so verliefe - durchaus umkehrbar sei. Von individueller Selbstregulierung und Affektkontrolle sei etwa in den Gewaltexzessen des Jahrhunderts der Extreme wenig zu spüren gewesen.
Ein zentraler Punkt aber ist bislang übersehen worden: der Begriff des Affektes oder Triebes, mit dem Elias operierte und der sich auch bei Weber fand. Beiden Begriffen haftete in ihrer zeitgenössischen Definition etwas Kreatürlich-Physisches an: Affekte galten, laut Brockhaus, als heftige Gemütsbewegungen, die sich Gefühlswissen in leibhaftigen Zeichen kundtaten. Trieb wurde mit Instinkt übersetzt und, unter Hinweis auf Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, als endogenes, körpergebundenes Grundbedürfnis klassifiziert. Daran anknüpfend untersuchte Elias vornehmlich solche Affekte oder Triebe, die zur anthropologischen Basisausstattung gezahlt wurden: Sexualität, Aggression, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung.
Diese Auswahl, so sehr sie Elias in den psychoanalytisch bewegten 1930er Jahren einleuchten mochte, verengt den Blick auf das, was Persönlichkeitsstrukturen auszeichnet. Indem sie das emotionale System auf eine Handvoll angeborener Triebe reduziert, verliert sie die kulturelle Genese und Entwicklung komplexer Gefühle aus dem Blick. Gefühle, steht zu vermuten, sind mehr als spontane Wallungen und evolutionär geformte Triebe. Zieht man die einschlägige Literatur der letzten dreihundert Jahre zurate, entdeckt man eine eindrucksvolle Vielfalt von Benennungen und Definitionen, die von zarten Empfindungen über sanfte Gemütsbewegungen bis zu heftigen und lang anhaltenden Passionen führt. Um deren Einfluss auf die Psychogenese des modernen Menschen zu ermessen, reicht die auf Trieb und Affekt bezogene Rationalisierungs- und Zivilisierungsthese nicht aus.
Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Moderne seit der Aufklärung ein umfassendes, gleichwohl zutiefst ambivalentes und wechselhaftes Verständnis der Gefühle hervorgebracht hat, das sich je nach Zeiterfahrung und Blickwinkel anders gestaltete. Für philosophisch inspirierte Zeitgenossen um 1800 bedeuteten Affekte und Leidenschaften nicht das Gleiche wie für Lebensphilosophen um 1900 oder Existentialisten um 1950. Exzess und dionysischer Rausch, wie sie manche Nietzsche-Anhänger propagierten, hatten bei Kantianern blankes Entsetzen ausgelost. Pietistisch gestimmte Pfarrer und katholische Theologen bewerteten Gefühle positiver als rationalistisch eingestellte Protestanten, denen religiöse Schwärmerei ein Gräuel war. Empfindsame und Romantiker provozierten scharfe Kritik an Empfindeley und mystischer Sehnsucht. Pädagogische Schulen und Lehrmeinungen waren mal mehr, mal weniger gefühlsbetont und unterschieden sich zudem danach, welche Gefühle sie bei Kindern und Jugendlichen männlichen oder weiblichen Geschlechts bilden und kultivieren wollten. Autoren, die sich um eine gute politische Ordnung sorgten, konnten mit manchen
Gefühlen viel, mit anderen wenig anfangen. Wichtige politische Einschnitte wie Revolutionen und Kriege veränderten auch die Sicht auf Gefühle, bei Parteigängern ebenso wie bei Kritikern.