E-Book, Deutsch, Band 2030, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
Freund John Sinclair - Folge 2030
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-4904-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hinter Mildreds Tür
E-Book, Deutsch, Band 2030, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
ISBN: 978-3-7325-4904-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es versprach ein wundervoller Tag zu werden. Soeben brachen die ersten Sonnenstrahlen durch den morgendlichen englischen Frühnebel. Die See war ruhig, spülte seichte Wellen an den Strand, der um diese Zeit noch verlassen dalag und auf den täglichen Ansturm der Badegäste und Touristen wartete.
An der Uferpromenade war das Summen eines Elektromotors zu hören. Toby Thornton, der Milchmann, befand sich mit seinem dreirädrigen Karren auf seiner Tour durch den Ort. Hinter ihm klirrten leise in sorgsam aufeinander gestapelten Trays volle und leere Flaschen. Nichts schien die Idylle des erwachenden Tages trüben zu können.
Doch so ganz stimmte das nicht, denn für Toby Thornton sollte er zur Hölle werden ...
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Noch ahnte der Mann im weißen Kittel und der Schirmmütze, die er sich keck in den Nacken geschoben hatte, jedoch nichts davon. Er bog von der Uferpromenade ab, die Ebscombe Street hinauf. Hier standen einige alte Villen, die sich noch in Privatbesitz befanden, während ringsum scheinbar jeder verfügbare Fleck mit Hotels bebaut worden war. Der Einfluss der nahe gelegenen Stadt Brighton war eben auch hier deutlich spürbar.
Toby lieferte seine Flaschen aus, nahm das Leergut wieder mit, und tat dies alles mit einem Lächeln und einem fröhlichen Lied auf den Lippen. So war es all die Jahre schon gegangen, in denen er diesem Beruf nachging. Er hatte nie etwas anderes sein wollen und falls doch, erinnerte er sich nicht mehr daran.
Bei der Ebscombe Street handelte es sich um eine Allee, die von hohen Pappeln gesäumt wurde, deren Blätter leise im Wind raschelten. Der Elektrokarren schnurrte die Straße hinauf, das letzte Haus, kurz unterhalb des Hügels, gehörte Mildred Beatty. Sie war eine alleinstehende ältere Dame, die nach Tobys Einschätzung nur selten Besuch bekam. Verwandtschaft hatte sie so gut wie keine, bis auf einen Neffen, soweit er wusste.
Hin und wieder hielten sie einen kleinen Plausch, denn die alte Dame war offenbar eine bekennende Frühaufsteherin. Sie sprachen meist über das Wetter, die ankommenden oder abfahrenden Touristen, die im Sommer den Strand und das nahe gelegene Seebad bevölkerten.
Toby Thornton ließ seinen Karren vor der großen alten Strandvilla ausrollen. Um das Gebäude verlief eine kniehohe Mauer aus Felssteinen, die lediglich durch eine grün lackierte eiserne Gartenpforte unterbrochen wurde.
Derselbe Ablauf wie jeden Morgen. Zwei Trays mit jeweils sechs Flaschen Milch rechts neben dem Durchlass abstellen, um den Griff der Pforte mit beiden Händen zu packen und die kleine Tür mit Kraft nach innen zu schieben. Sie hing schon seit mehreren Jahren leicht schief in den Angeln und scharrte über den Fußboden, wo sie sich im Laufe der Zeit eine Kerbe in den Zementuntergrund gescharrt hatte. Dabei gab sie ein quietschendes Geräusch von sich, das für Toby zu den morgendlichen Lauten seines Alltags inzwischen dazugehörte wie das Rauschen der Brandung, das allgegenwärtig im Hintergrund war.
Die Pforte war offen, Toby ging noch einmal hindurch, um die Milchflaschen von der Mauer zu klauben. Er pfiff sein Lied weiter und sang in Gedanken den Text mit. Er war bereits bei der dritten Strophe angelangt, als er die Flaschen vor der ebenfalls grün gestrichenen Haustür abstellte.
Er hatte noch den Kopf gesenkt, als er plötzlich spürte, dass etwas an diesem noch jungen Morgen anders war. Die Tür hatte sich geöffnet.
Sein Blick fiel auf flauschige, blaue Hauspantoffeln, an denen lange, künstliche Federn befestigt waren. Eine davon bewegte sich leicht im Wind. Darüber folgte der fleischige Ansatz ihrer Waden, die scheinbar direkt über den Fußknöcheln begannen. Tobys Blicke wanderten weiter über den Saum eines seidenen Morgenrocks, der in der etwas üppigen Leibesmitte der Frau mit einem Gürtel aus demselben Material zusammengehalten wurde.
Toby richtete sich gänzlich auf und blickte in das Gesicht einer Frau, die beinahe die Siebzig erreicht hatte. Zumindest sah sie schon seit Jahren so aus. Wie alt sie in Wirklichkeit war, mochte wohl nur sie selbst wissen.
»Guten Morgen, Misses Beatty«, sagte Toby freundlich und legte zum Gruß Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand an den Schirm seiner Mütze.
»Hallo, Mister Thornton«, kam es von der Türschwelle zurück.
Die alte Frau hatte eine etwas rauchige Stimme, so als hätte sie in ihrem Leben schon die eine oder andere Flasche echt schottischen Whiskys getrunken.
Vermutlich pur und ohne Eis, dachte Toby, während er die Hände in seine Hüften stemmte.
»Schöner Morgen heute«, sagte er.
Mildred Beatty sah an ihm vorbei, die Straße hinunter und zur Küste hinüber, hinter der gerade die Sonne aufging.
»Im Radio haben sie für heute Nachmittag Regen angesagt«, antwortete sie nachdenklich. »Ich glaube allerdings nicht daran. Diese Brüder lügen, wo sie nur können. Früher, als Herbie noch lebte, war das anders.«
Früher, als ihr Mann Herbie noch lebte, war alles irgendwie anders gewesen. Das war dreißig Jahre her, und die Zeiten hatten sich seitdem in der Tat geändert. Nur in der Ebscombe Street hatte man diesen Eindruck nicht. Dieselben Fassaden, dieselben Gesichter, dieselben Abläufe.
Toby wollte sich bereits abwenden, als er hinter der Frau einen dunklen Schatten wahrnahm, der sich langsam näherte. Er schälte sich aus der Dunkelheit heraus, wuchs zu etwas Bedrohlichem heran. Toby erkannte zwei grünlich leuchtende Punkte, wie Augen, die ihn böse anfunkelten.
Der Milchmann blinzelte irritiert. Er wollte etwas sagen, doch seine Kehle schien plötzlich wie zugeschnürt. Er spürte eine Gefahr, die von dem Schatten ausging. Eine entsetzliche Gefahr, die näher und näher kam, auf die alte Frau zu, die noch immer offenbar keine Ahnung hatte, was sich hinter ihr abspielte.
Toby hörte ein tiefes, grollendes Knurren, das gleichermaßen entsetzlich und … hungrig klang.
Der Schatten bäumte sich hinter Mildred Beatty auf, etwas blitzte aus dem Dunkel heraus, und das Glühen der Augen bekam nun eine eindeutig bedrohliche Wirkung.
»Um Gottes willen, passen Sie auf!«, schrie Toby, als der Schatten in der Finsternis zum Sprung ansetzte.
Der Milchmann wollte nach der alten Frau greifen, doch im selben Moment wusste er, dass es zu spät war. Er würde zu langsam sein.
Toby streckte die Hand nach Mildred Beatty aus, während aus seiner Kehle ein krächzender Schrei drang.
Und plötzlich passierte etwas. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde veränderte sich der Schatten, als er sich über die Türschwelle und hinein ins Licht bewegte.
Ein fetter roter Kater mit struppigem Fell tapste behäbig heran und strich um die Beine der alten Frau.
Mildred Beatty blinzelte den Milchmann an. Den Kater hingegen schien sie gar nicht wahrzunehmen. »Was ist mit Ihnen? Ist Ihnen nicht gut?«
Toby ließ die angestaute Luft aus seinen Lungen entweichen. »Doch, doch«, antwortete erleichtert. »Mir geht es gut. Ich dachte nur für einen Moment …«
»Ja?«, fragte Mildred Beatty, als der Milchmann nicht weitersprach.
Toby schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Vielleicht bin ich nur ein bisschen überspannt, das ist alles. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Misses Beatty.«
Damit wandte sich Toby Thornton ab und war plötzlich froh, diesen Schritt getan zu haben. Er wollte weg von hier, und das so schnell wie möglich. Er wusste nicht, was er da vorhin in Wirklichkeit gesehen hatte, er wusste nur, dass da wirklich etwas gewesen war und dass er sich nichts eingebildet hatte.
Er kam genau zwei Schritte weit, als er plötzlich einen heftigen und äußerst schmerzhaften Stich im rechten Oberarm spürte.
Vor Überraschung schrie er auf und wirbelte auf der Stelle herum.
Unmittelbar vor ihm stand Mildred Beatty, mit deren schulterlangem grauen Haar der Wind spielte. In ihrer rechten Hand hielt sie eine lange, spitze Nadel, mit der sie offensichtlich zuvor ihre Frisur festgesteckt hatte.
Im Blick der alten Frau lag etwas Lauerndes.
Toby blickte ungläubig auf seinen rechten Oberarm. Auf dem Ärmel seines weißen Kittels war ein kleiner roter Punkt zu sehen. Der Milchmann starrte darauf, spürte den Schmerz, der von dieser Stelle ausging. Aber da war auch noch etwas anderes. Ein gewisses Taubheitsgefühl ging von diesem Punkt aus. Ein Gefühl, das beinahe angenehm war, weil es den Schmerz vergessen ließ. Nur widerwillig löste Toby Thornton seinen Blick von dieser Stelle und sah die alte Frau vor sich an.
»Was haben Sie gemacht?«
»Es tut mir leid, dass es Sie trifft«, sagte Mildred, »aber ich wusste mir auf die Schnelle keinen anderen Rat. Ich musste etwas tun.«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?«, fragte Toby.
Er starrte die Alte an und sah sie doch nicht. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht. Mildred Beatty wirkte auf einmal verschwommen, er konnte sie nicht mehr klar fixieren. Die Umgebung, das Haus, der Garten, alles hatte plötzlich begonnen, sich zu drehen. Zuerst ganz langsam, als wäre er gerade in ein Karussell für Kinder eingestiegen. Dann jedoch wurden diese Bewegungen immer schneller. Er tat einen Schritt nach vorne. Es fühlte sich an, als wäre er in ein tiefes Loch getreten.
Von irgendwoher drang ein furchtbares Geräusch an seine Ohren. Eine entfernte innere Stimme sagte ihm, dass es sich um das Maunzen des Katers gehandelt haben musste, aber für Toby hörte es sich in diesem Augenblick vollkommen anders an. Es war das hungrige Fauchen eines Tigers gewesen, was da an seine Ohren gedrungen war. Noch etwas nahm er wahr: das Pochen und Pulsieren hinter seinen Schläfen. Ihm wurde übel.
Aus dem Karussell war inzwischen eine Achterbahn geworden, die in rasender Geschwindigkeit direkt ins Bodenlose zu rasen schien.
Toby wollte nach Mildred Beatty greifen, doch seine Hände fassten ins Leere. Sein Oberkörper schien plötzlich das Zehnfache zu wiegen.
Toby Thornton taumelte nach vorne und stolperte über die Türschwelle in das dunkle Haus der freundlichen alten Dame.
Zwei Sekunden später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
***
Der Elektrokarren rollte wieder.
Er fuhr die Straße hinunter und bog in die Grocery Lane ein, die parallel zur Ebscombe Street verlief. Wer um diese noch immer...




