Freud / Richards | Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 18, 905 Seiten

Reihe: Gesammelte Werke in 18 Bänden mit einem Nachtragsband

Freud / Richards Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938


1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-400168-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 18, 905 Seiten

Reihe: Gesammelte Werke in 18 Bänden mit einem Nachtragsband

ISBN: 978-3-10-400168-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die siebzehn Textbände der ?Gesammelten Werke? Sigmund Freuds, der bisher umfassendsten Edition des Oeuvres in der Originalsprache, sind zuerst zwischen 1940 und 1952 in Freuds Londoner Exilverlag erschienen, ehe S. Fischer sie 1960 übernahm. Aus verschiedenen Gründen fehlten gleichwohl wichtige Stücke des psychologisch-psychoanalytischen Werks. Einige Beispiele: die Beiträge Josef Breuers zu den ?Studien über Hysterie? (auf Freuds eigenen Wunsch); der frühe ?Entwurf einer Psychologie? (posthum zunächst im Rahmen der Fließ-Briefe veröffentlicht); die aufschlußreichen Notizen aus der Behandlung des als »Rattenmann« bekanntgewordenen Patienten (erstmals in den fünfziger Jahren erschlossen); der erst 1983 entdeckte Entwurf der zwölften metapsychologischen Abhandlung. Diese und viele andere Stücke, vor allem aus der Pionierzeit der Psychoanalyse, sammelt der mit umfangreichen editorischen Kommentaren ausgestattete ?Nachtragsband? - ein Quellenwerk ersten Ranges.

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.
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{34}Hochlöbliches Professoren-Kollegium
der medizinischen Fakultät in Wien

In meinem Gesuche um Verleihung des Universitäts-Jubiläums-Reisestipendiums für das Jahr 1885/6 habe ich die Absicht ausgesprochen, mich nach Paris in das Hospiz der Salpêtrière zu begeben, um daselbst meine neuropathologischen Studien fortzusetzen. Für diese Wahl hatten mehrere Momente zusammengewirkt: Zunächst die Gewißheit, an der Salpêtrière ein großes Material von Kranken gesammelt zu finden, welches in Wien nur zerstreut und daher schwer zugänglich ist; sodann der große Name Charcots[8], welcher in jenem Krankenhause nun seit siebzehn Jahren arbeitet und lehrt; endlich aber mußte ich mir sagen, daß ich nicht erwarten durfte, an einer deutschen Hochschule wesentlich Neues zu lernen, nachdem ich in Wien die mittelbare und unmittelbare Unterweisung der Herren Prof. Th. Meynert und H. Nothnagel[9] genossen hatte. Die französische Schule der Neuropathologie schien mir dagegen sowohl in ihrer Arbeitsweise Fremdes und Eigentümliches zu bieten als auch neue Gebiete der Neuropathologie in Angriff genommen zu haben, auf welche sich in Deutschland und Österreich die wissenschaftliche Arbeit nicht in ähnlicher Weise erstreckt hat. Infolge des wenig lebhaften persönlichen Ver{35}kehrs zwischen französischen und deutschen Ärzten hatten die teils höchst merkwürdigen (Hypnotismus), teils praktisch wichtigen (Hysterie) Funde der französischen Schule mehr Anzweiflung als Anerkennung und Glauben in unseren Landen gefunden und mußten sich die französischen Forscher, Charcot voran, oft den Vorwurf der Kritiklosigkeit oder mindestens der Hinneigung zum Studium des Seltsamen und zu dessen effektvoller Verarbeitung gefallen lassen. Nachdem mich das löbliche Professoren-Kollegium durch die Verleihung des Reisestipendiums ausgezeichnet hatte, ergriff ich daher bereitwillig die gebotene Gelegenheit, ein auf eigene Erfahrung gegründetes Urteil über die erwähnten Reihen von Tatsachen zu gewinnen, und freute mich, dabei gleichzeitig der Anregung meines verehrten Lehrers, des Herrn Prof. von Brücke[10], entsprechen zu können.

Während eines Ferienaufenthaltes in Hamburg machte das freundliche Entgegenkommen des Herrn Dr. Eisenlohr[11], des bekannten Vertreters der Neuropathologie in dieser Stadt, es mir möglich, eine größere Reihe von Nervenkranken im großen Krankenhause und im Heinespitale[12] zu untersuchen, und verschaffte mir auch Zugang in die Irrenanstalt Klein-Friedrichsberg. Die Studienreise, über welche ich hier berichte, nahm aber ihren Anfang erst mit meinem Eintreffen in Paris in der ersten Hälfte des Monats Oktober, zum Beginne des Schuljahres.

Die Salpêtrière, welche ich zunächst aufsuchte, ist ein ausgedehntes Bauwerk, das durch seine einstöckigen, im Viereck stehenden Häuser wie durch seine Höfe und Gartenanlagen lebhaft an das Wiener Allgemeine Krankenhaus erinnert. Es hat seine Bestimmungen, auf deren erste der Name hindeutet (wie bei unserer ›Gewehrfabrik‹), im Laufe der Zeiten mehrmals gewechselt[13] und ist endlich [1813] zu einem Versorgungshaus für alte Frauen (vieillesse femmes), das über fünftausend Personen beherbergt, geworden. Es lag in der Natur der Verhältnisse, daß die chronischen {36}Nervenkrankheiten eine besonders reichliche Vertretung unter diesem Krankenmateriale finden mußten, und frühere Primarärzte[14] des Versorgungshauses, z.B. Briquet[15], hatten auch die wissenschaftliche Verwertung der Kranken in Angriff genommen, doch stand einer systematisch fortgeführten Arbeit die Gepflogenheit der französischen Primarärzte im Wege, das Spital, an dem sie wirken, und damit die Spezialität, welche sie studieren, häufig zu wechseln, bis sie in ihrer Karriere in das große klinische Spital Hôtel-Dieu gelangt sind. J. M. Charcot aber, welcher im Jahre 1856 Interne (Sekundararzt) an der Salpêtrière war, erkannte die Notwendigkeit, die chronischen Nervenkrankheiten zum Gegenstand eines unausgesetzten und ausschließlichen Studiums zu machen, und nahm sich vor, als Primararzt in die Salpêtrière zurückzukehren und dieselbe nicht mehr zu verlassen. Diesen Vorsatz durchgeführt zu haben, erklärt der bescheidene Mann nun für sein einziges Verdienst. Durch die günstigen Bedingungen seines Materials auf die chronischen Nervenkrankheiten und deren pathologisch-anatomische Begründung hingewiesen, hielt er durch etwa zwölf Jahre klinische Vorlesungen als freier Arbeiter, ohne Lehrauftrag[16], bis im Jahre 1881 endlich ein Lehrstuhl für Neuropathologie in der Salpêtrière errichtet und ihm übertragen wurde.

Mit dieser Institution waren eingreifende Veränderungen in den Arbeitsbedingungen Charcots und seiner unterdessen zahlreich gewordenen Schüler verbunden. Als notwendige Ergänzung zu dem stationären Materiale des Versorgungshauses wurde eine klinische Abteilung in der Salpêtrière geschaffen, auf welcher auch nervenkranke Männer Aufnahme finden und die sich aus einer einmal wöchentlich abgehaltenen Poliklinik (Consultation externe) rekrutiert. Außerdem wurde dem Professor der Neuropathologie ein Laboratorium für anatomische und physiologische Arbeiten, ein pathologisches Museum, ein Atelier für Photographie und Gipsabgüsse, ein ophthalmologisches Zimmer, ein elektrisches und hydrotherapeutisches Institut in den Räumlichkeiten des großen Spitales zur Verfügung gestellt und ihm damit die Möglichkeit gegeben, sich der dau{37}ernden Mitarbeiterschaft einiger seiner Schüler, denen die Leitung dieser Anstalten übertragen ist, zu versichern.[17] Der Mann, welcher über all diese Hilfsmittel und Hilfskräfte gebietet, ist gegenwärtig sechzig Jahre alt, von einer Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Formvollendung der Rede, die wir gewöhnlich dem Nationalcharakter der Franzosen zuzuschreiben pflegen, und von einer Geduld und Arbeitsfreudigkeit, wie wir sie in der Regel für die eigene Nation in Anspruch nehmen.

Von dieser Persönlichkeit angezogen, habe ich mich bald darauf beschränkt, das Spital zu besuchen und dem Unterricht des Mannes zu folgen. Gelegentliche Versuche, andere Vorlesungen zu hören, gab ich auf, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß man sich zumeist mit wohlgefügten rhetorischen Leistungen zufriedengeben müßte. Nur die gerichtlichen Sektionen und Vorträge von Prof. Brouardel[18] in der Morgue pflegte ich selten zu versäumen.

In der Salpêtrière selbst gestaltete sich meine Arbeit anders, als ich mir ursprünglich vorgesetzt hatte. Ich war in der Absicht gekommen, eine einzelne Frage zum Gegenstande einer eingehenden Untersuchung zu machen, und hatte mir, da mich in Wien vorzugsweise anatomische Probleme beschäftigt hatten, das Studium der sekundären Atrophien und Degenerationen nach infantilen Gehirnaffektionen erwählt. Man stellte mir ein äußerst wertvolles pathologisches Material zur Verfügung; ich fand aber, daß die Verhältnisse der Ausnützung desselben sehr ungünstig waren. Das Laboratorium war in keiner Weise darauf eingerichtet, einen fremden Arbeiter aufzunehmen, und was etwa an Raum und Hilfsmitteln vorhanden war, wurde durch den Mangel einer jeglichen Organisation unzugänglich. Ich sah mich also genötigt, die anatomische Arbeit aufzugeben[19], und begnügte mich mit einem auf das Verhalten der Hinterstrangskerne im verlängerten Mark bezüglichen Funde. Doch fand sich später Gelegenheit, {38}derartige Untersuchungen in Gemeinschaft mit Herrn Dr. von Darkschewitsch aus Moskau aufzunehmen, und unser Verkehr führte zu einer Publikation im , Nr. 6, 1886 [Band 5, S. 121], welche den Titel trägt: ›Über die Beziehung des Strickkörpers zum Hinterstrang und Hinterstrangskern nebst Bemerkungen über zwei Felder der Oblongata‹[20].

Im Gegensatz zur Unzulänglichkeit des Laboratoriums bot die Klinik in der Salpêtrière eine solche Fülle von Neuem und Interessantem, daß es alle meine Kräfte in Anspruch nahm, die günstige Gelegenheit als Lernender auszunützen. Die Einteilung der Woche war die folgende: Montag fand die öffentliche Vorlesung Charcots statt, welche durch ihre Formvollendung entzückte, während ihr Inhalt aus den Arbeiten der vorhergehenden Woche bekannt war. Diese Vorlesungen waren nicht so sehr Elementarunterricht in der Neuropathologie als vielmehr Mitteilungen der neuesten Forschungen des Professors und wirkten vor allem durch ihre beständige Beziehung auf den vorgestellten Kranken. Dienstag hielt Charcot die Consultation externe ab, bei welcher ihm aus einer großen Menge von ambulatorischen Patienten die typischen oder die rätselhaften Fälle von den Assistenten zur Untersuchung vorgeführt wurden. Wirkte es da manchmal entmutigend, wenn der Meister einen Teil dieser Fälle nach seinem eigenen Ausdruck »in das Chaos der noch unenthüllten Nosographie« zurücksinken ließ, so boten ihm andere Fälle Gelegenheit, die lehrreichsten Bemerkungen über die verschiedenartigsten Themata der Neuropathologie an sie zu knüpfen.[21] Mittwoch war zum Teile den ophthalmologischen Untersuchungen gewidmet, welche Dr. Parinaud[22] in Charcots Gegenwart vornahm; und an den übrigen Tagen machte Charcot die Visite auf den klinischen Zimmern oder setzte die Untersuchungen, mit denen er eben beschäftigt war, an Kranken im Konferenzzimmer fort.

Ich...


Freud, Sigmund
Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

Grubrich-Simitis, Ilse
Ilse Grubrich-Simitis (1936-2024), Psychoanalytikerin. Zuständig für die Edition von Sigmund Freuds Werk im S. Fischer Verlag. Ihre Veröffentlichungen zur Freud-Forschung, darunter ›Zurück zu Freuds Texten‹ (1993), sowie zu Theorie und Klinik der Psychoanalyse sind in viele Sprachen übersetzt worden, 1998 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Literaturpreise:
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1998
Mary S. Sigourney Award 1998

Sigmund FreudSigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.
Ilse Grubrich-SimitisIlse Grubrich-Simitis, Psychoanalytikerin. Zuständig für die Edition von Sigmund Freuds Werk im S. Fischer Verlag. Ihre Veröffentlichungen zur Freud-Forschung, darunter ›Zurück zu Freuds Texten‹ (1993), sowie zu Theorie und Klinik der Psychoanalyse sind in viele Sprachen übersetzt worden, 1998 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Literaturpreise:

Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1998
Mary S. Sigourney Award 1998



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