E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Freisitzer Hyänen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99120-063-5
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-99120-063-5
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roland Freisitzer wurde 1973 in Wien geboren und wuchs in Moskau, Warschau, Kapstadt und St. Pölten auf, bevor er sich 1989 erneut nach Moskau begab, um Komposition zu studieren und drei Jahrzehnte als Dirigent und Komponist tätig war. Nach seinem 2021 bei Septime erschienenen Debüt Frey erschien 2023 Die Befreiung. Weiters erschienen bei Septime auch Übersetzungen von Emily Maguire und Dwyer Murphy. Hyänen ist sein dritter Roman.
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Ich wartete fünf Minuten, bevor ich das Zimmer verließ. Als ich in der Lobby aus dem Fahrstuhl trat, hielt der Concierge den Telefonhörer in der Hand. Er sprach leise, aber gehetzt. Als er mich entdeckte, legte er sofort auf. Nickend schlenderte ich an der Rezeption vorbei und steckte mir vor dem Hotel eine Zigarette an. Ich war überzeugt davon, dass er irgendjemandem die Information weitergegeben hatte, dass María das Hotel verlassen hatte. Mit meinem Erscheinen so bald nach María hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Ich dämpfte die Zigarette im Aschenbecher aus, winkte ihm zur Verabschiedung und versuchte den Eindruck zu erwecken, dass ich mich auf einen Vormittagsspaziergang ohne besonderes Ziel begab.
María kam mir bereits entgegen, bevor ich mich dem Café nähern konnte. Wir hielten kurz an, sie streckte mir die Hand zum Gruß entgegen und befahl mir lächelnd, sie irgendetwas zu fragen.
»Weißt du zufällig, wo man hier eine nette kleine Wanderung unternehmen könnte?«, fragte ich.
Marías Gesicht hellte auf. Sie gestikulierte, zeigte in Richtung des Sportplatzes, wo der Weg in den Wald führte.
»Wir werden vielleicht beschattet«, sagte sie. »Ich hoffe, unsere Begegnung sieht für einen Beobachter wie eine zufällige aus.«
Während wir in Richtung Wald liefen, hielten wir Abstand zueinander. Im Wald nahm mich María an der Hand. Gleich zu Beginn mussten wir einen steilen Aufstieg nehmen, einen Serpentinenweg, der uns nach ungefähr einer Stunde zu einer Lichtung auf einem Felsvorsprung führte, von der man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt hatte. Wenige Meter vom Abgrund entfernt befand sich eine Bank, auf die wir uns setzten. Wir hatten wahrscheinlich an die zweihundert Höhenmeter geschafft und überblickten von hier das gesamte Hochplateau. María legte ihren Arm um meine Schultern und schmiegte sich an mich. Ich wollte ihr eine ganze Reihe von Fragen stellen, hielt mich aber zurück, da ich die Stimmung nicht trüben wollte. In der Stille, die uns umgab, verloren all die Fragen allmählich ihre Bedeutung. So saßen wir eine ganze Weile schweigend da. Punkt zwölf Uhr begann intensives Glockengeläut unten in der Stadt. Nach einigen Tonfolgen fiel mir auf, dass ich bisher keine Kirche in der Stadt gesehen hatte. Die Vielzahl unterschiedlicher Glocken ließen aber auf gut drei oder vier Kirchen schließen. Ich nahm mir gerade vor, María danach zu fragen, als ich in der Ferne ein Flugzeug bemerkte, das vom Flughafen in unsere Richtung abhob. Es gewann kontinuierlich an Höhe und flog im Steigflug direkt auf uns zu. Das Flugzeug hatte vier Propellermotoren, einen delfinartigen Rumpf und drei massive Seitenleitwerke. Kurz bevor es die Stadt erreichte, legte es eine lang gezogene Linkskurve ein und begann, im Tal kreisend Höhe zu gewinnen. Ich konnte es kaum fassen, aber es war eindeutig ein Flugzeugtyp, der schon lange nicht mehr in Gebrauch war, mindestens dreißig Jahre nicht, was mich beinahe noch mehr irritierte als die Kennung der Maschine, die sie der Luftwaffe des benachbarten Küstenlandes zuordnete. Ein Nachbarland, mit dem es einen bereits über ein Jahrzehnt dauernden Grenzkonflikt gab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es sich hierbei um einen offiziellen Staatsbesuch gehandelt hatte.
»Ein schönes Flugzeug«, sagte María. »Ich bemühe mich immer, am Samstag hier oben zu sein, um zuzuschauen, wie es wie ein riesiger Blechadler rund ums Tal kreist und dann in den Wolken oder hinter den Berggipfeln verschwindet.«
»Diese Maschine fliegt die Stadt regelmäßig an?«, fragte ich.
María nickte. »Beinahe jede Woche am Samstag. Sie landet immer irgendwann in der Nacht von Freitag auf Samstag und verlässt die Stadt dann um die Mittagszeit.«
»Weißt du, was da transportiert wird?«, fragte ich.
»Nein. Es gibt Gerüchte, die darauf hindeuten, dass da eine Verbindung zu den Lagerhallen besteht. Die Maschine gehört einem hohen Militär des Nachbarlandes, der ein guter Freund des Bürgermeisters ist. Aber mehr kann ich dir nicht sagen.«
Wir saßen noch eine Weile da und blickten auf die Stadt. María schmiegte sich eng an mich und als wir uns endlich küssten, begann es zu donnern. Augenblicke später fielen schwere Regentropfen. Wir flüchteten zurück auf den Waldweg, wo uns die dichte Bewaldung ein wenig Schutz vor dem Regen bot. Dennoch waren wir beide völlig durchnässt, als wir den Abstieg hinter uns gebracht hatten. Wir nahmen nun einen anderen Weg zurück, durch kleine Wohngassen und an einer Friedhofsmauer vorbei. Beim Eingang ließ ich meinen Blick über den Friedhof schweifen, konnte aber weder eine Kapelle noch eine Kirche ausmachen.
»Kannst du mir sagen, wo es hier die …«, sagte ich und bemerkte, dass María nicht mehr bei mir war. Ich sah mich um und entdeckte sie in einem Hauseingang. Heftig gestikulierend unterhielt sie sich mit einer Frau. Als ich mich den beiden näherte, erkannte ich Rachel.
»Ihr kennt euch!«, sagte ich mit heiterer Stimme, doch die beiden sahen mich nur konsterniert an.
»Rachels Freund ist vorgestern Nacht verschwunden«, erzählte María.
Rachel schilderte, wie er sich rechtzeitig vor der Ausgangssperre auf den Weg zu seinem Vater gemacht hatte, der seit einem Unfall vor einigen Monaten auf Hilfe angewiesen sei.
»Gestern bin ich den ganzen Weg mehrmals abgegangen, den Josef genommen hätte. Und da habe ich einen seiner Schuhe gefunden. Neben einer Mülltonne. Seither suche ich ihn überall. Ich war auch im Krankenhaus und auf der Polizeistation, doch niemand will ihn gesehen haben oder etwas wissen«, sagte Rachel.
Sie schilderte, wo sie den Schuh gefunden hatte, und da zählte ich eins und eins zusammen.
»Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich weiß, was mit ihm passiert ist«, sagte ich und berichtete den beiden, was ich zwei Nächte zuvor beobachtet hatte. Erzählte ihnen von der Begegnung mit Leutnant Joll. Ich hatte das Gesicht des jungen Mannes zwar nicht genau gesehen, doch Rachels Beschreibung passte. Ich bot ihr an, mit ihr auf die Polizeistation zu gehen, um Leutnant Joll aufzusuchen, der bei der von mir beobachteten Amtshandlung höchstwahrscheinlich Rachels Freund verhaftet hatte. María wollte ebenfalls mitkommen, doch Rachel lehnte ab, sie wolle María nicht in die Sache verwickeln. Josef sei immerhin ihr Freund und María habe genug eigene Probleme. María nickte zögernd, drückte meine Hand und bat mich, vorsichtig zu sein. Mit diesen Leuten sei nicht zu scherzen. Sie versprach, mich später zu besuchen.
Rachel schwieg den ganzen Weg zum Polizeigebäude und ich drängte mich ihr nicht auf. Sie wirkte abgezehrt, um Jahre älter als noch vor wenigen Tagen.
»Wir finden ihn«, sagte ich aufmunternd, als wir die Polizeistation betraten, doch ich glaubte mir selbst nicht.
Wir gingen zu einem Schalterfenster, das mit der Aufschrift Anmeldung versehen war. Dahinter saß eine Polizistin mittleren Alters. Sie hatte die Lokalzeitung offen vor sich liegen und zog den rechten Zeigefinger Zeile für Zeile beim Lesen nach. Wir warteten ein wenig, dann räusperte ich mich.
»Ja, bitte?«, sagte sie.
»Ich würde gerne mit Leutnant Joll sprechen. Ist er im Dienst?«, fragte ich.
»Er ist derzeit mit einer Befragung beschäftigt. Sie können gerne hier auf ihn warten, ich kann allerdings nicht genau sagen, wie lange es dauern wird. Nehmen Sie doch einfach im Warteraum Platz.«
Leutnant Joll erschien nicht einmal eine halbe Stunde später. Anders als in besagter Nacht trug er jetzt Zivilkleidung. Er wirkte ziemlich außer Atem, aber gut gelaunt, knöpfte sich die Hemdsärmel zu und richtete sich die Krawatte. Er hatte den Daumen in den Hosenbund gesteckt, die anderen Finger der rechten Hand ruhten lässig auf der Pistole im Halfter.
»Sieh an. Da ist ja der neue Ermittler der Behördenaufsicht. Was führt Sie zu uns? Haben Sie bereits alle Beweise zusammen, um die ganze Stadtverwaltung und mich hinter Gitter zu bringen?«, fragte er belustigt.
Ich vermied es, auf die Provokation einzugehen, und kam gleich zur Sache, sprach ihn auf die Verhaftung von Rachels Freund aufgrund seiner mutmaßlichen Teilnahme an außerehelichen Frivolitäten an, der ich zufällig als Zeuge beigewohnt hatte. Leutnant Joll nickte zuvorkommend, fügte aber hinzu, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, da ihm dieser Tatbestand nicht geläufig sei. Soweit er wisse, gebe es diesen im Gesetzbuch überhaupt nicht. Falls er sich irre, solle ich ihn bitte aufklären und den Paragrafen nennen, damit er derartige Vergehen auch in der Stadt ahnden könne. Es solle ja alles so zugehen wie in der Hauptstadt.
»Der junge Mann, den wir wegen Lärmbelästigung, Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verletzung der Ausgangssperre in der Nacht von Donnerstag auf Freitag verhaftet haben, erinnert sich nicht an seinen Namen. Das ist auch der einzige Grund, wieso er überhaupt noch hier ist. Sonst hätten wir ihn mit einer geringen Strafe noch in derselben Nacht nach Hause geschickt. Er ist übrigens der einzige Festgehaltene, der uns derzeit mit seiner Gesellschaft beehrt. Vielleicht ist er ja der abtrünnige Freund der jungen Dame. Kommen Sie mit«, sagte er, öffnete die Durchgangstür und stapfte los.
Rachel und ich tauschten einen Blick, der bestätigte, dass wir ihm beide nicht trauten. Er führte uns eine Stiege hinauf in den ersten Stock. Am Ende des Flurs bogen wir nach links ab und erreichten die aneinandergereihten Zellen, die, zumindest das entsprach Leutnant Jolls Aussage, alle leer waren. Hier stank es abscheulich. Es war ein Bouquet aus Fäkalien, Pisse, Kotze und Schweiß. Vermutlich auch Blut. In der letzten, unbeleuchteten Zelle lag ein leblos wirkender Körper mit dem...




