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E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Freisitzer Frey


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-903061-88-0
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-903061-88-0
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von seiner Frau überraschend verlassen, lässt sich Daniel Frey ziellos durch das abendliche Wien treiben. Kurz entschlossen bucht er am nächsten Tag einen Flug nach Tokio. Sein Sitznachbar heißt Daniel Bernhaugen und scheint eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Frey zu haben. Bernhaugen überredet Frey, mit ihm weiter nach Nagasaki zu reisen, wo er mit seiner Frau Naoko eine Buchhandlung betreibt. Frey stimmt schnell entschlossen zu, doch bei der Landung in Nagasaki stürzt das Flugzeug ins Meer. Daniel kommt erst Wochen später als nur einer von sieben Überlebenden in einem Krankenhaus zu sich. Er erinnert sich an nichts. Ist er tatsächlich Daniel Bernhaugen, wie Doktor Miyamoto behauptet? Wieso erinnert er sich dann nicht an seine Frau oder an die Buchhandlung? Doch niemand scheint Zweifel an seiner Identität zu haben. Daniel beginnt zu recherchieren und macht dabei eine erstaunliche Entdeckung: Ist er möglicherweise der beim Absturz ums Leben gekommene Daniel Frey, den man in Österreich des Mordes an seiner Frau bezichtigt? Die Suche nach seiner Identität wird zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das ihn an seine

Roland Freisitzer wurde 1973 in Wien geboren und wuchs in Moskau, Warschau, Kapstadt und St. Pölten auf, bevor er sich 1989 erneut nach Moskau begab, um Komposition zu studieren. Der Komponist und Dirigent ist Dozent im Bereich der zeitgenössischen Musik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Seit mehr als einem Jahrzehnt rezensiert Roland Freisitzer zeitgenössische Literatur. Frey ist sein Romandebüt.
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1

»Dann legen Sie doch mal los«, sagte Dorn ungeduldig.

Ich hörte ihn die fünfzehn Zentimeter große Wilhelm-Wundt-Büste auf seinem schräg hinter mir platzierten Schreibtisch mit viel Druck hin- und herschieben. Das knarzende Geräusch, das die Büste des Begründers der experimentellen Psychologie dabei machte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich wollte davonlaufen, übte mich jedoch in Wundtscher Selbstbeobachtung und blieb sitzen. Durch das Fenster betrachtete ich den Park, auf den man aus dem abgewetzten Ohrensessel des Therapeuten blickte. In der Hoffnung auf eine Art von Erleuchtung, eine Idee oder irgendeinen Lösungsansatz starrte ich auf die sieben spärlich belaubten Kastanienbäume, die den Park umrandeten. In die Mitte des Parks hatte man einen lieblos gestalteten Kinderspielplatz gesetzt: eine Sandkiste, zwei blaue Wippen, eine rote Schaukel und ein grünes Klettergerüst mit gelber Rutsche. Neben einer der beiden Schaukeln sah ich ein blondes Mädchen seilspringen. Ihr rotkariertes Kleid und ihre langen Zöpfe flogen wild durch die Luft. Ein Anzugträger mit Aktentasche querte den Spielplatz. Mit einem Mal blieb er stehen, fingerte ein Päckchen aus seiner Sakkoinnentasche und zündete sich eine Zigarette an. Er sah dem Mädchen kurz zu und ging weiter. Dorn seufzte und erinnerte mich daran, dass ich auf diesem Termin beharrt hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Großartig, ich hatte bereits zehn teure Minuten mit der Beobachtung des Parks verbracht.

»Wir reden heute vermutlich nicht über Ihre Wut und die besprochene Strategie, damit umzugehen«, sagte Dorn.

Ich schüttelte den Kopf.

»Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt«, sagte er.

»Meine Frau ...«, erwiderte ich. »Sie hat vor fünf Tagen ein Fernsehgerät gekauft. Während ich dienstlich in London war. Einen riesigen Flachbildschirm, wissen Sie, was ich meine?«

Dorn nickte.

»Was bedeutet das für Sie?«, fragte er. »Stört Sie die Anwesenheit des Fernsehers?«

Ich meinte, dabei einen leicht vorwurfsvollen Unterton in seiner Frage mitschwingen zu hören. Als ob mich der Fernseher allein hierhergeführt hätte! Ich unterdrückte meinen Ärger und erinnerte mich daran, dass nicht alles, was ich im ersten Moment als kritisch oder vorwurfsvoll empfand, auch tatsächlich so gemeint war.

»Nein. Das allein ist es natürlich nicht«, sagte ich.

»Gut. Was ist es dann?«

»Zuallererst hat es mich überrascht. Meine Frau hat sich bisher immer vehement gegen die Anschaffung eines Fernsehers gewehrt. Nicht einmal vor der Fußballweltmeisterschaft durfte ich einen kaufen. ›Schwachsinn, rausgeschmissenes Geld, wozu in die blöde Glotze starren, Volksverdummung, wieso sollten wir ein derart beschissenes Ding daheim stehen haben‹«, zitierte ich Sarah.

Ich blickte zu Dorn, der sich träge am linken Ohr kratzte. Dabei bewegte sich die rechte Hälfte seines imposanten, längst ergrauten Walross-Schnauzers im Rhythmus des Kratzens auf und ab.

»Meinungen ändern sich immer wieder im Leben«, sagte er. »Damit muss man rechnen.«

Ich blickte wieder aus dem Fenster. Als ob ich das nicht wüsste.

»Welche Bedeutung hat der Fernseher für Ihre Frau?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Es ist ja nur ein Fernseher und kein … sagen wir … Liebhaber«, sagte er. »Außerdem haben Sie ja auch etwas davon. Sie können nun endlich daheim Fußball schauen. Allerdings, mit Ihrer Disposition sollten Sie vielleicht Spiele unserer Nationalmannschaft vermeiden … die könnten zu unerwünschten Wutausbrüchen führen.«

Eine junge Frau setzte sich auf eine Bank im Park und zündete sich eine Zigarette an. Als ich ihr dabei zusah, verspürte ich selbst Sehnsucht nach einer Zigarette. Jammerschade, dass ich seit vier Jahren nicht mehr rauchte. Vielleicht sollte ich Sarahs Fernsehwahn einfach ignorieren und hoffen, dass sie bald selbst genug davon hatte.

»Das tatsächliche Problem ist ja in Wahrheit ein anderes«, sagte ich. »Sie sitzt seither rund um die Uhr vor dem Ding und schaut verschwitzten, testosterongesteuerten Kerlen in kurzen Hosen dabei zu, wie sie einander mit Schlägen und Tritten malträtieren.«

Ich drehte mich wieder zu Dorn um und sah ihn mit dem linken Zeigefinger in der Nase bohren. Er lächelte und entfernte den Finger aus der Nase.

»Erzählen Sie bitte weiter!«

War die Ausrichtung des Ohrensessels mit Blick aus dem Fenster strategisch gewählt? Sie erlaubte dem Therapeuten jedenfalls unbeobachtetes Nasenbohren, während er den Ausführungen seiner Klienten lauschte, die mit Blick auf den Park ihrer Kindheit oder sonstigen versteckten Erinnerungen auf den Zahn fühlten.

»Sie sieht nur mehr fern und redet kein Wort mehr mit mir«, sagte ich. »Sie beantwortet keine Fragen, sie ignoriert sie nicht einmal. Sie grüßt nicht, sie reagiert überhaupt nicht. Als hielte sie sich in einer weit entfernten Parallelwelt auf. Natürlich kommt sie auch nicht mehr ins gemeinsame Bett. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch schläft. Wenn ich morgens aus dem Schlafzimmer komme, sitzt sie genauso da wie am Abend zuvor. Nur Essen und Getränke holt sie sich von Zeit zu Zeit aus der Küche.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Dorn.

»Sie lässt die schmutzigen Gläser und Teller, mitsamt den eingetrockneten Essensresten, einfach neben der Spüle stehen. Verpackungsmüll ebenso. So lange, bis ich aufräume, abwasche oder das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler einräume.«

Dorn lachte kurz auf und klopfte mit dem Zeige- und Mittelfinger einen Rhythmus auf die Tischplatte. Er erinnerte mich an eine hinkende Variante des Schlagzeugparts aus Maurice Ravels Bolero. Wenn Dorn nur im Rhythmus bliebe! Seine irritierenden Angewohnheiten gingen mir langsam richtig auf die Nerven.

»Ihre Frau schläft also gar nicht mehr?«, fragte er, als er endlich genug geklopft hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Wenn, dann auf dem Sofa.«

Dorn schwieg, kratzte sich an der Stirn und schaute suchend umher. Er wirkte so offensichtlich ratlos, dass ich zur Beruhigung wieder aus dem Fenster sah. Gerade rechtzeitig, um ein Flugzeug im Landeanflug über die Dächer Wiens in Richtung Schwechat schweben zu sehen.

»Man kann also tatsächlich rund um die Uhr im Fernsehen derartige Kämpfe sehen?«, fragte Dorn.

Ich nickte und erklärte, dass es ein asiatischer Kabelsender sei. Dorn kritzelte ein paar Worte auf ein Post-it. Er wirkte nun hellwach.

»Ich vermute, dass es ein thailändischer Sender ist, wenn ich die Schriftzeichen am oberen Rand des Bildschirms richtig deute«, ergänzte ich.

»Gut zu wissen, danke«, erwiderte er und setzte drei Punkte an das Ende seiner Notiz.

»Sind Sie an dieser Sportart interessiert?«

Dorn ignorierte meine Frage und schloss die Augen. Nach fast einem Jahr Therapie wusste ich, dass er jetzt nachdachte und ich still auf seine Erkenntnis zu warten hatte. Ich sah erneut aus dem Fenster, unschlüssig, ob ich meine Aufmerksamkeit dem Park oder den Flugzeugen zuwenden sollte.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte er endlich, »dann klingt das nicht erfreulich für Sie.«

Ich nickte. Das hatte ich auch längst verstanden. Wozu war ich überhaupt hier?

»Ihrer Frau hingegen scheint dieser Zustand zu behagen, wenn ich all das in Betracht ziehe, was Sie bisher erzählt haben. Sonst hätte sie keinen Grund, derart gegen ihre tägliche Routine und die ungeschriebenen Verhaltensregeln in Ihrer Beziehung zu verstoßen. Es stellt sich nur die Frage, was sie damit bezwecken will«, sagte er mit einem überheblichen Gesichtsausdruck, der wie eine Schuldzuweisung auf mich wirkte. »Im Idealfall könnte es sich um eine vorübergehende Sache handeln. Vielleicht nur eine Verirrung. Oder gar ein Schrei nach Aufmerksamkeit!«

Was dachte er sich bloß dabei, mich anzusehen, als ob ich für Sarahs Fernsehwahn verantwortlich sei? Als hätte ich sie in diesen Irrsinn getrieben. Zorn stieg in mir auf. Lutsch-mich-Mister-Dorngesicht, schrie ich stumm und erkannte, dass ich aus Jonathan Lethems Roman über einen Kleinganoven mit Tourettesyndrom zitiert hatte. Ich musste lachen, weil Dorn im Gegensatz zur Romanfigur nicht darauf reagierte. Das löste mein Problem zwar nicht, aber ich fühlte mich auf der Stelle doch erheblich besser. Ich hatte keine Ahnung, was Sarah mit ihrem Verhalten bezwecken wollte, und zuckte genervt mit den Schultern.

Dorn schnaubte unzufrieden.

Du blöder, überheblicher Pisskopf, du kannst mich mal.

»Ich weiß es natürlich auch nicht«, sagte er. »Es ist ihr wichtig, das steht fest. Nur, was genau ist es? Was steckt dahinter? Diese Fragen sollten Sie möglichst rasch klären.«

Ich wandte mich von Dorn ab und schaute genervt aus dem Fenster. Er konnte mir nicht helfen. Ich hätte meinen Zorn gern laut über den Park hinausgeschrien. Auch wenn das nichts geändert hätte. Das war mir klar. Von einer Lösung meines Problems schien ich noch weiter entfernt als vor dem Termin mit meinem Therapeuten.

Ein alter Mann mit Hund ging langsam an dem Mädchen vorbei, das mittlerweile auf der roten Schaukel saß. Er wandte sich ihr zu, kramte in seinen Hosentaschen und hielt dem Mädchen irgendetwas auf der Handfläche entgegen. Das Mädchen reagierte nicht auf ihn. Der Hund bellte den Mann auffordernd an und erhielt, was der Mann dem Mädchen angeboten hatte. Der Mann schüttelte den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und ging langsam weiter.

»Was sagt Ihre Frau denn eigentlich dazu?«, fragte Dorn.

Ich hatte Dorn in der Vergangenheit immer wieder verdächtigt, in Wahrheit zu schlafen,...


Roland Freisitzer wurde 1973 in Wien geboren und wuchs in Moskau, Warschau, Kapstadt und St. Pölten auf, bevor er sich 1989 erneut nach Moskau begab, um Komposition zu studieren. Der Komponist und Dirigent ist Dozent im Bereich der zeitgenössischen Musik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Seit mehr als einem Jahrzehnt rezensiert Roland Freisitzer zeitgenössische Literatur. Frey ist sein Romandebüt.



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