E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Freisitzer Die Befreiung
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-903061-97-2
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-903061-97-2
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roland Freisitzer wurde 1973 in Wien geboren und wuchs in Moskau, Warschau, Kapstadt und St. Pölten auf, bevor er sich 1989 erneut nach Moskau begab, um Komposition zu studieren. Der Komponist und Dirigent ist Dozent im Bereich der zeitgenössischen Musik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien sowie stellvertretender Schulleiter an der Friedrich Gulda School of Music in Wien. Nach seinem 2021 erschienenen Debüt Frey ist Die Befreiung sein zweiter Roman bei Septime.
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1
Sie setzt sich an einen Tisch an der Fensterfront, von dem man gute Sicht auf den Barbereich und den Fluss hat. Draußen schiebt sich gerade ein qualmender alter Touristendampfer am Lokal vorbei. Er ist so nah, dass sie die Aufregung in den Gesichtern der überwiegend grauhaarigen Passagiere erkennen kann. Am Achterdeck tanzen vereinzelte Paare eng umschlungen zu den Klängen einer vierköpfigen Band. Ein kurz aufflackernder Streit, ein paar Tische von ihrem entfernt, holt ihre Aufmerksamkeit ins Lokal zurück. Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen und sieht den fragenden Blick der Barkeeperin. Sie erwidert ihn mit einem Nicken.
Der Mann ist noch nicht hier, doch sein Stammplatz an der Bar wird bereits von einem kleinen Fahnenhalter mit Fußballwimpeln bewacht, die die für Stammgäste reservierten Plätze kennzeichnen. Die Bedienung bringt ihr den ersten Gin Tonic des Abends – wie viele werden heute folgen? –, an dem sie nippt, während sie den Eingangsbereich beobachtet. Noch ist es hier ruhig. Von Zeit zu Zeit schaut das eine oder andere Pärchen zur Tür herein, zumeist händchenhaltende Touristen mit um den Hals baumelnden Fotoapparaten. Die meisten von ihnen verlassen das Lokal sofort wieder, die anderen nach dem ersten Drink. Hier bleiben überwiegend Männer hängen. Durstige Männer auf der Suche nach einem preisgünstigen sexuellen Abenteuer. Dazu die jungen Frauen, die sich, um ihre Kinder oder Eltern ernähren zu können, für diese sexuellen Abenteuer zur Verfügung stellen.
Und der Mann, der noch nicht hier ist.
Und sie.
Kurz nach achtzehn Uhr erscheint er, das obligate Buch in der linken Hand, und blickt sich, noch im Türrahmen stehend, misstrauisch im Lokal um. Nach kurzem Zögern tritt er ein und geht zielstrebig zur Bar.
Seit vier Tagen sitzt er jeden Abend hier und wird das Hemingway’s Hell wohl auch heute – oder eher morgen – wieder erst zur Sperrstunde verlassen, die nach Lust und Laune des Besitzers variiert. Wankend und zeitgleich mit ihr, die Abend für Abend daran arbeitet, ihre Gedanken bis zur Sperrstunde in Alkohol zu ertränken. Dabei erringt sie allerdings immer nur kleine, unwichtige Tagessiege gegen ihre Erinnerungen, mehr schafft sie nie. Am Morgen danach drängen die nur oberflächlich weggespülten Gedanken zielstrebig und schmerzhaft aus dem Haufen Schutt in ihrem Kopf hervor.
Sie fragt sich, ob es dem Mann ähnlich geht.
Er trinkt ausschließlich Whisky pur und raucht jeden Abend mindestens zwei Schachteln Lark. Wo er die japanischen Zigaretten in Phnom Penh besorgt, ist ihr ein Rätsel. Er sucht keinen Kontakt und ist nicht einmal an einem harmlosen Flirt mit den Kellnerinnen interessiert, egal, wie sehr sie sich darum bemühen. Weibliche Reize – und die sind hier wirklich im Überangebot vorhanden – interessieren ihn nicht. Mit einem verständnisvollen Lächeln, das beinahe wie eine Entschuldigung wirkt, erstickt er Annäherungsversuche sanft, aber deutlich bereits im Keim. Obwohl er diese freundliche, warme Ausstrahlung hat, ist doch klar, dass er seine Ruhe haben will. Während die anderen männlichen Gäste, entweder allein oder in Gruppen, das Lokal spätestens nach zwei oder drei lauwarmen, kohlensäurearmen Krügen Angkor Beer in Begleitung einer jungen Frau verlassen, sitzt er unbeweglich über den überquellenden Aschenbecher gebeugt und nickt in regelmäßigen Abständen einer der Frauen hinter der Bar zu, die ihm daraufhin ein weiteres Glas Whisky bringen. Immer einen doppelten. Ohne Eis.
Seine lange Leinenhose, die feinen Halbschuhe und das dezente, einfarbige Baumwollhemd passen nicht ins Bild der hier vorherrschenden Hawaiihemden, Sandalen, weißen Socken und viel zu kurzen Hosen. Der Mann sitzt einfach nur da, trinkt und raucht.
»Wieso tust du das? Wieso sitzt du gerade in diesem abscheulichen Lokal, das eigentlich Hell’s Brothel heißen sollte, und schlägst die Zeit mit Alkohol und Zigaretten tot?«, fragt sie sich leise.
Von Zeit zu Zeit zieht er ein zerknittertes Foto aus dem Buch, das er neben sich auf der Theke liegen hat, starrt das Foto eine Weile an und steckt es dann wieder weg. Ein paar Zigaretten später öffnet er das Buch, immer an einer anderen Stelle, beginnt zu lesen und bleibt spätestens nach zwei oder drei Seiten hängen, bevor er es kopfschüttelnd zur Seite legt. Wie an allen vorhergehenden Abenden auch. In dieser Umgebung ist der Mann ebenso Fremdkörper wie sie. Mit einem Lächeln stellt ihm die Barkeeperin den ersten Whisky neben den Aschenbecher und erkundigt sich nach seinem Befinden.
Was für ein hinreißender Augenaufschlag, denkt sie, überrascht, dass sie dieses sanfte Ziehen im Bauch spürt. Zum ersten Mal seit wie vielen Jahren?
Er nickt kurz und verschwindet erneut in seiner selbst gewählten Einsamkeit. Umgeben von einer eigenartigen Traurigkeit, einer Art tief sitzenden Melancholie, die ihr Interesse geweckt hat. Seit Tagen versucht sie sich von ihrem Grübeln abzulenken, indem sie sich die Gründe für das Verhalten des Mannes vorzustellen versucht. Hat er die Liebe seines Lebens verloren? Hat sie ihm vielleicht ein anderer Mann ausgespannt? Oder hat womöglich ein bösartiger Tumor oder ein Unfall sein Glück zerstört? Irgendetwas Tragisches muss ihm passiert sein. Warum sonst würde er hier sitzen und einsam trinken?
»Heute muss ich ihn endlich ansprechen, sonst mache ich das nie!«, sagt sie wenig später auf der Toilette zu sich, während sie beim Händewaschen in den Spiegel sieht. Sie kann sich nicht erklären, woher dieser Wunsch kommt. Auch nicht, was sie sich davon verspricht. Ob sie sich überhaupt etwas davon verspricht. »Was soll denn das schon bringen? Wieso willst du jemanden ansprechen, den du nicht kennst?«, fragt sie ihr ratlos schweigendes Spiegelbild. »Du bist doch auch zu gar nichts zu gebrauchen«, fügt sie kopfschüttelnd hinzu. Inmitten all dieser Verwirrung ist ihr nur klar, dass es sein muss. Sie will ihn kennenlernen.
Zurück an ihrem Tisch nippt sie wieder an ihrem Drink und bemüht sich vergeblich, in dem Buch weiterzulesen, in dem sie seit Wochen nicht weiter als bis Seite neun gekommen ist. Was nicht am Buch liegt, das ist ihr klar. Die meisten Wörter verschwimmen vor ihren Augen zu dunklen Flecken, die sich hämisch in Luft auflösen, bevor sie sie festhalten und zu sinnvollen Sätzen destillieren kann. Nach wenigen Minuten steckt sie das Buch zurück in die Handtasche und starrt aus dem Fenster, beobachtet die am Lokal vorbeitreibenden Menschen. Was tun? Sie sollte den Drang, den Mann anzusprechen, einfach ignorieren und heute einigermaßen nüchtern zurück in die Wohnung gehen. Es ist sowieso ihre letzte Nacht hier. Wozu muss sie wissen, was den Mann zum trüben Nichtstun antreibt? Sie sollte lieber ordentlich schlafen. Um wach und bereit für das zu sein, was sie morgen erwartet. Für das, was sie nur dunkel erahnen kann. Für das, was sie in Wahrheit gar nicht kommen sehen will.
Ist mein Interesse an diesem Mann nur ein Vorwand, weil ich diese Nacht nicht allein verbringen kann?, fragt sie sich. Oder weil ich diese Nacht nicht allein verbringen will? Wie kann ich die Dämonen in mir zum Schweigen bringen?
Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es in wenigen Minuten zwanzig Uhr ist. Die letzten eineinhalb Stunden sind wie achtlos weggespült, wie so viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre ihres Lebens. Wie von unsichtbarer Hand ausradiert aus dem Gedächtnis. Einfach so. Sie trinkt den Gin Tonic aus, der nur mehr nach den längst geschmolzenen Eiswürfeln schmeckt, und bestellt einen zweiten. »Jetzt oder nie«, sagt sie laut, als das Glas auf ihren Tisch gestellt wird, und genehmigt sich noch einen kräftigen Schluck Mut. Ein halbes Glas Mut. Reicht das? Mit dem halb leeren Glas steht sie etwas zu schnell auf, wankt dabei leicht, geht zum Tresen, platziert sich unbeholfen neben dem Mann und schafft es gerade noch rechtzeitig, ein leises Rülpsen zu verhindern. Sie lacht. Die Barkeeperin wirft ihr einen gereizten Blick zu und schüttelt warnend den Kopf. Keine Sorge, Schätzchen, ich will nicht das, was du meinst, denkt sie. Das ist so ziemlich das Letzte, was ich möchte.
Sie räuspert sich und stellt sich den Auftakt zu einer längst verstummten Symphonie vor. Zwei Schläge, der erste fürs Tempo, der zweite für die Musik. Ja, ja, genau so. Dabei muss sie lächeln.
»Was bringt dich dazu, jeden Abend allein in diesem unappetitlichen Loch zu verbringen?«, fragt sie bemüht zwanglos und hört ihre Frage wie eine fadenscheinige, schmierige Anmache im Krach der im Hintergrund lärmenden Typen verpuffen. Oh mein Gott, wie peinlich …
Sie streckt sich, versucht, den Titel des neben ihm liegenden Buches zu erkennen. Niemandsland. Bevor sie den Namen des Autors lesen kann – irgendwas mit Onet –, dreht er sich ihr zu und verdeckt das Buch mit seinem linken Arm. Ohne Absicht, wie ihr scheint. Er sieht irritiert auf und kratzt sich an der unrasierten Wange. Seine Augen sind rot und geschwollen.
»Das könnte ich dich eigentlich auch fragen, wo du doch seit Tagen ungefähr dasselbe machst«, sagt er trocken und deutet mit einer unbeholfenen Geste auf den unbesetzten Hocker zu seiner Rechten. »Daniel.«
»Clara«, sagt sie und ärgert sich, dass sie sich im Vorfeld keinen besseren Satz überlegt hat, irgendeinen anderen Satz, egal welchen, einen, der zumindest nicht so plump und anzüglich gewirkt hätte.
»Brauchst du Nachschub?«, fragt er und deutet auf ihr Glas. Sie schüttelt den Kopf und setzt sich. Er betrachtet sie nachdenklich und zündet sich eine Zigarette an. Dann hält er ihr die Schachtel hin. Sie nickt und greift zu.
»Danke.«
»Auch auf die Gefahr hin, dass das,...




