E-Book, Deutsch, Band 1, 224 Seiten
E-Book, Deutsch, Band 1, 224 Seiten
Reihe: Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts
ISBN: 978-3-8353-2025-3
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit Beiträgen und Kommentaren von Frank Bajohr, Mathias Beer, Nicolas Berg, Wlodzimierz Borodziej, Dan Diner, Norbert Frei, Saul Friedländer, Constantin Goschler, Ian Kershaw, Jan-Holger Kirsch, Volkhard Knigge, Hans Mommsen, Lutz Niethammer, Klaus Schwabe, Sybille Steinbacher, Hans-Ulrich Wehler, Bernd Weisbrod und Michael Wildt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Norbert Frei: Nach Broszat;8
3;I. Die Anfänge der empirischen Zeitgeschichte;18
3.1;Hans Mommsen: Martin Broszat und die Erforschung der NS-Zeit;20
3.2;W odzimierz Borodziej: Martin Broszat und die deutsch-polnischen Geschichtsbeziehungen;32
3.3;Mathias Beer: Martin Broszat und die Erfahrung der Dokumentation der Vertreibung;44
3.4;Diskussion;61
4;II. Die Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik;70
4.1;Hans-Ulrich Wehler: Intentionalisten, Strukturalisten und das Theoriedefizit der Zeitgeschichte;72
4.2;Ian Kershaw: Soziale Motivation und Führer-Bindung im Staat Hitlers;77
4.3;Klaus Schwabe: Martin Broszat und ein gescheitertes deutsch-deutsches Experiment;86
4.4;Diskussion;106
5;III. Alltag und Holocaust;118
5.1;Michael Wildt: Das »Bayern-Projekt«, die Alltagsforschung und die »Volksgemeinschaft«;120
5.2;Sybille Steinbacher: Martin Broszat und die Erforschung der nationalsozialistischen Judenpolitik;131
5.3;Diskussion;147
6;IV. Zeitgeschichte auf den Weg in die Diskursgeschichte;160
6.1;Nicolas Berg: Zeitgeschichte und generationelle Deutungsarbeit;162
6.2;Dan Diner: Struktur ist Intention;182
6.3;Saul Friedländer: Ein Briefwechsel, fast 20 Jahre später;189
6.4;Diskussion;196
7;Nachwort;215
8;Bibliographie Martin Broszat;217
9;Autoren und Diskutanten;221
10;Personenregister;223
Nicolas Berg (S. 161-162)
Zeitgeschichte und generationelle Deutungsarbeit
In Briefen deutschsprachiger Emigranten aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren bemerkt man einen mitunter ausgesprochen freundlichen Blick auf diejenige Nachkriegsgeneration, die seinerzeit Schule und Jugendlichkeit entwuchs und am Beginn des Erwachsenenlebens stand. Bei Hannah Arendt zum Beispiel oder auch bei Theodor W. Adorno läßt sich nachlesen, wie groß die Hoffnung war, die gleich nach dem Ende des Nationalsozialismus auf die jungen Studenten gesetzt werden konnte; beide lobten diese Generation in den höchsten Tönen.
Arendt, die, mit Ausnahme der »großartig humorvollen, menschlichen« Berliner, sonst nicht viel am damaligen Gegenwarts-Deutschland zu rühmen fand, resümierte während ihres Besuches im Jahre 1950 ihrem Mann Heinrich Blücher eine der ersten persönlichen Begegnungen mit den leicht ironischen Worten: »20jähriger Junge, hübsch und nett […].
Wir waren natürlich dick befreundet.« Insgesamt aber war Arendts Lobpreis für die Jugend nicht ironisch gemeint. Denn während sie Deutschland »ein über alle Maßen verrottetes Land« nannte und damit nicht die sichtbaren Kriegszerstörungen, sondern das politische Bewußtsein der Menschen meinte, konnte sie sich über die von ihr immer wieder als »verantwortungshungrig« beschriebenen Gymnasiasten und Stundenten über die Maßen begeistern. Sie seien gerade so, »wie man es kaum an Deutschen« kenne. Von einem Siebzehnjährigen berichtete sie nach New York, er sei »ganz wunderbar« geraten. »Wir verstanden uns gleich so ausgezeichnet, daß es wirklich zum Verwundern war.«
Arendt war offensichtlich schon darüber erleichtert, daß aus der jungen Generation freundliche Meinungen über Amerika zu hören waren. Vielleicht, so hoffte sie, hätten die Jungen erkannt, daß es dort Demokratie und Verantwortung gebe4. In einem Schreiben an ihren langjährigen Freund Kurt Blumenfeld pries sie die jungen Deutschen Anfang August 1952 in ganz ähnlichen Formulierungen; sie seien »ausgezeichnet «, mit ihnen könne man »unbefangen reden«5. Und wiederum an ihren Mann gerichtet heißt es aus denselben Wochen, es scheine, als ob »die ganz neue Generation, die heute höchstens Zwanzigjährigen, wieder in Ordnung« sei.
Sie habe ein Gespräch mit einem neunzehnjährigen Jungen geführt, »der mit solcher Präzision fragte, daß ich noch ganz entzückt über ihn bin«. Theodor W. Adorno äußerte sich im Januar 1949 in einem Schreiben an Leo Löwenthal ähnlich. Sein Bericht über die Rückkehr nach Deutschland und über seine Erfahrungen beim Versuch, als Wissenschaftler und Lehrer nach dem Zweiten Weltkrieg dort wieder anzuknüpfen, von wo er mit Hitlers Machtantritt hatte fliehen müssen, beschwört die jugendlichen Deutschen geradezu als ein, wie er schrieb, »glückvolles« und »überwältigendes« Symbol einer »europäischen Erfahrung«. Die Arbeit mit den Studenten lasse an Intensität und Beziehung alles hinter sich, was man erwartet habe, auch dasjenige, was vor 1933 gewesen sei.