E-Book, Deutsch, Band 3, 290 Seiten
Reihe: Schwester Frevisse ermittelt
Frazer Der Vogelfreie. Mord im Jahr des Herrn 1434
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8412-1562-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 3, 290 Seiten
Reihe: Schwester Frevisse ermittelt
ISBN: 978-3-8412-1562-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England im Jahr 1434. Schwester Frevisse wird von einer Bande Geächteter überfallen, deren Anführer ausgerechnet ihr verschollener Cousin ist. Mit ihrer Hilfe hofft er, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Frevisse setzt ein Schreiben auf, in dem sie um Vergebung für ihren Cousin bittet. Doch während sie auf eine Antwort wartet, geschieht ein Mord, den er begangen haben könnte ...
Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.
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Kapitel 1
D er grüne Schatten des Waldes war gesprenkelt von stetig wechselndem goldenem Sonnenlicht. In den Mustern aus Licht und Schatten saßen, standen oder lagen die zwölf Männer bequem an die gewaltigen Baumstämme und ihre dicken Wurzelknorren gelehnt. Nur ihr Anführer stand aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein Lächeln schnitt tiefe Falten in sein wettergegerbtes, nicht unattraktives Gesicht. »Also«, sagte er, »wir sind uns einig, dass wir an diesem Tag nicht zu Abend essen wollen, ohne einen unerwarteten Gast an unseren Tisch zu laden?« Seine Männer beantworteten seinen Scherz mit einem Grinsen.
Ihr Anführer musterte alle nachdenklich und erklärte dann: »Will Scarlet, Little John – und äh, Hal, Evan, ihr holt unseren Gast von der Greenwood-Straße.«
Will erhob sich, zog seinen schmuddligen roten Hut und machte eine Verbeugung, die weitaus eleganter war als sein abgerissenes grünes Hemd und seine geflickte braune Hose. »Meister Robin, es soll geschehen, wie Ihr sagt.«
Aber unter den anderen Männern, die sich erhoben hatten, waren zwei, die sich gegenseitig schubsten und versuchten, den anderen aus dem Weg zu drängen. »Diesmal bin ich Little John«, erklärte der Kleinere der beiden. »Er hat mich angesehen.«
Der andere Mann, der kaum mittelgroß war, machte ein rüdes Geräusch. »Setz dich hin, Kleiner. John war der Große. Also war ich gemeint.«
Ein dritter Mann, breitschultrig, aber auch nicht größer als die beiden anderen, stieß sich von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte. »Da irrt ihr euch beide. Wenn irgendjemand hier Little John ist, dann ich. Und abgesehen von der Tatsache, dass ich eure Köpfe zusammenknallen lassen kann, wenn ich will – ich bin von uns allen am besten im Stockfechten.«
»Dafür wird es bei diesem ›Abenteuer‹ kaum Bedarf geben«, rief ein Mann, der immer noch an einem anderen Baum lehnte. »Komm schon, Nicholas. Bevor es zu einer Schlägerei kommt. Wer von ihnen ist Little John?«
Der Anführer deutete auf den mittelgroßen Mann. »Du.« Unter allgemeinem Gelächter und zahlreichen Kommentaren fügte er an den Breitschultrigen gewandt hinzu: »Du kannst zusammen mit Tom das Wildbret besorgen.«
Tom und der verschmähte Little John stöhnten auf, als sie das hörten, und von allen anderen kam Gejohle und Hohngelächter.
Der ausgewählte Little John gesellte sich zu Will und Hal, die am Rande der Lichtung warteten.
Der vierte Mann lag immer noch ausgestreckt auf dem Rücken, benutzte eine Baumwurzel als Kopfkissen und genoss mit geschlossenen Augen den Sonnenschein auf seinem Gesicht. »Vielleicht solltest du jemand anderen schicken, nicht mich. Ich könnte erkannt werden. Sie ist nicht dumm und der Verwalter auch nicht.«
Nicholas dachte darüber nach und nickte. »Stimmt. Ganz recht. Wenn die Sache fehlschlägt, brauchen wir dich für später. Cullum, geh du stattdessen.«
Mit einem erfreuten Lachen stand ein klein geratener, sommersprossiger, muskulöser Bursche auf und schloss sich Will, John und Hal an. In einem hohen Falsett, das schlecht zu seinem breiten Brustkorb passte, trällerte er die muntere Parodie des Feiertagsliedes einer Magd. »›Lang gewartet hat die Jule: fort mit Spindel, Garn und Spule! Dreh den Sorgen eine Nase; Spaß gibt’s auf des Königs Straße!‹«
Die vier bogen in einen schmalen Saumpfad und verschwanden im schattigen Wald, begleitet von weiterem Gelächter. Ruhig sagte Evan, der immer noch unter seinem Baum lag: »Weißt du, Nicholas, gelegentlich übertreibst du es mit diesem Scherz. Ich glaube, es gibt Tage, an denen du wirklich glaubst, dass du der kühne Robin bist und wir deine munteren Gefährten.«
Im Jahre des Heils 1434 war der Winter grausam gewesen, voller Frost und Schnee, und der Frühling rau und kalt. Die Leute hatten Angst gehabt, es würde noch ein weiteres Hungerjahr geben. Aber der Mai war gekommen und mit ihm schönes Wetter. Frevisse trug noch den Umhang, den sie umgelegt hatte, als sie in der Morgendämmerung aus dem Klosterhof geritten war, aber jetzt hatte sie ihn über die Schultern zurückgeworfen. Schwester Emma hatte ihren schon lange abgelegt. Sie hatte umständlich damit herumhantiert, ihn zusammengelegt und sich laut gefragt, was um alles in der Welt sie mit ihm anfangen solle, bis Meister Naylor ihn genommen und hinter seinem Sattel festgeschnallt hatte, wie auch seinen eigenen.
Die drei ritten ohne große Eile dahin, Seite an Seite, um nicht den Staub der anderen abzubekommen. Schon lange hatte Frevisse sich entspannt und genoss den Ritt und die Wärme des Tages, eingeschläfert durch den gemächlichen Trott ihres Pferdes und besänftigt durch die süß duftende Luft. Sie war sogar darüber hinaus, sich über Schwester Emmas Geplapper zu ärgern. Sommerblumen mit ihren satten Gelb-, Purpur- und Weißtönen schmückten das Gras am Wegrand und die Hecken, und manchmal waren rote oder himmelblaue Blüten zu sehen. Die Vögel sangen, als wollten sie den verlorenen Frühling wettmachen. Überall war Grün. Die Felder, die Weiden und die wildwuchernden Wegränder zeigten ihre frühsommerliche Pracht. Hier am Rande des Hochlandes, auf das die Straße hinaufgeklettert war, gab es Schafherden und hochbeinige, vergnügt dreinblickende Lämmer. Das hohe Geklapper ihrer hölzernen Glocken mischte sich in den Gesang der Vögel. Die nach Sommer duftende Luft lag warm auf Frevisses Gesicht, dort, wo es frei war von dem weißen Kinntuch und dem schwarzen Nonnenschleier. Sie hatte festgestellt, dass sie nach ihrem langen Eingesperrtsein hinter Klostermauern vergessen hatte, wie weit der Himmel sein konnte – heute war er tiefblau, und aufgetürmte, leuchtende Wolken zogen dahin. Und am Nachmittag würden sie durch einen großen Wald reiten. Wie lange war es wohl her, dass sie durch einen Wald geritten war?
Sie würden fünf Tage von St. Frideswide wegbleiben, dachte Frevisse. Oder mehr, wenn das Wetter umschlug und sie aufgehalten wurden. Die Freude, die dieser Gedanke in ihr auslöste, ließ sie sich ein wenig schuldig fühlen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie nicht hier war, weil sie sich darum bemüht hatte, sondern weil Priorin Edith sie als Begleiterin Schwester Emmas ausgewählt hatte.
Aber, wenn sie ehrlich war, musste sie eingestehen, dass die Ehrwürdige Mutter wahrscheinlich sie dazu bestimmt hatte, Schwester Emma zur Taufe ihrer Nichte zu begleiten, weil Frevisses Winterrastlosigkeit noch gewachsen und nicht mehr zu verbergen gewesen war, als der Frühling kam.
Die Reise würde ihre Widrigkeiten haben. Schwester Emma war eine Plaudertasche, deren Zunge wie geölt lief, sobald sie vom Schweigegebot des Klosters befreit war.
Aber als die Priorin Frevisse den Befehl erteilt hatte, Schwester Emma zu begleiten, war ihre Wintersehnsucht aufgeflammt wie ein Feuer, das angeblasen wurde, und Schwester Emmas Geplapper war nichts gewesen gegen die Chance, aus St. Frideswide hinauszureiten in die Welt, die all die Zeit von der anderen Seite der Klostermauern nach ihr gerufen hatte.
Nun jedoch befand sie sich seit fünf langen Stunden in Schwester Emmas Gesellschaft, und die Freude des Reisens begann sich bereits zu trüben unter dem ständigen Dahinplätschern ihrer Stimme und dem Wissen, dass noch vier weitere solcher Tage vor ihr lagen. Sie würden das Haus von Schwester Emmas Cousine heute noch vor der Vesper erreichen und morgen gemeinsam mit der Familie zum Haus ihres Bruders in Burford weiterreiten. Am Tag danach würde die Taufe sein, und dann hatten sie zwei Tage, um nach St. Frideswide zurückzukehren. Frevisse schloss die Augen: fünf Tage unablässiges Geplapper von Schwester Emma.
»Und es ist so heiß. Ich hätte nie gedacht, dass es so heiß sein würde. Und dabei haben wir erst Mai. Aber immerhin ist es gut für das Heu, glaube ich, und das ist ja schon etwas. Stehen die Wiesen des Klosters so gut, wie sie sollten, Meister Naylor? Wir Nonnen kümmern uns mehr um solche Dinge, als Ihr annehmen würdet, wisst Ihr. Und wir bemerken, wenn es schlecht steht, und in der letzten Zeit standen die Dinge schlecht genug, nicht wahr? Aber jetzt hat sich doch alles zum Besseren gewendet, hoffe ich?«
Meister Roger Naylor, der Verwalter des Klosters, nickte. Er hatte sie begleitet, weil sie natürlich eine Eskorte brauchten, und wenn sie bei Schwester Emmas Cousine angekommen waren, würde er alleine weiterreiten, um in Oxford eine Klosterangelegenheit zu regeln. Nach der Taufe würde er zurückkommen und sie abholen. Selbst zu seinen besten Zeiten neigte er nicht zum Reden, und auf seinem langen, von Falten durchzogenen Gesicht zeigte sich selten mehr als Konzentration auf die vor ihm liegende Aufgabe. Frevisse argwöhnte, dass er schon seit einigen Meilen aufgehört hatte, Schwester Emmas Worten allzu große Beachtung zu schenken.
»Und der Staub! Wirklich, sollten die Straßen schon im Frühsommer so staubig sein? Hatten wir denn zu wenig Regen? Hat es in letzter Zeit nicht genug geregnet? Ich würde doch meinen, das hat es, aber wieso ist denn diese Straße so staubig? Und erst diese Hitze. Ich wünschte fast, es würde regnen. Es wäre angenehm, im Regen unterwegs zu sein. Findet Ihr nicht? Ein kühler, sanfter Regen.« Sie seufzte bei diesem wunderbaren Gedanken. »Und ich habe irgendwo gelesen, dass Regen gut für die Haut sein soll. Oder vielleicht hat meine Schwester mir das erzählt. Nicht meine Schwägerin, die jetzt das Baby bekommen hat – wieder ein Mädchen, aber sie haben schon zwei Jungen, also ist es nicht allzu schlimm –, sondern meine Schwester...