Frayn Das Spionagespiel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25527-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-25527-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Frayn, 1933 in London geboren, studierte Philosophie in Cambridge und war Reporter und Kolumnist beim Guardian und beim Observer. Bei Hanser erschienen zuletzt Das Spionagespiel (Roman, 2004) und Celias Geheimnis. Die Kopenhagen-Papiere (2001). Frayn ist auch als übersetzer (u.a. von Tschechow) und als Dramatiker international erfolgreich. Er wurde mit vielen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet. 2004 wurde ihm für seine Aufarbeitung bedeutender Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte innerhalb seines ?uvres das Bundesverdienstkreuz verliehen.
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Alles ist wie früher, stelle ich fest, als ich mein Reiseziel erreicht habe, und alles hat sich verändert.
Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit ich zuletzt an dieser kleinen Station aus Holz ausgestiegen bin, aber meine Füße tragen mich mit müheloser, traumwandlerischer Selbstverständlichkeit hinunter zu der friedlichen, nachmittäglich belebten Hauptstraße, nach links zu der unordentlichen kleinen Ladenzeile und am Briefkasten wieder links in die vertraute Allee. Auf der Hauptstraße gibt es lauter komplizierte neue Verkehrsregelungen, die Geschäfte haben neue unpersönliche Namen und Fassaden, und aus den schmächtigen Pflaumenbäumchen, die in meiner Erinnerung die Allee säumten, sind nun weise und würdevolle Bäume geworden. Doch als ich um die Ecke biege, von der Allee in den Close …
Dort ist es noch wie früher. Die gleiche altvertraute, stille, süße, langweilige Durchschnittlichkeit.
Ich stehe an der Ecke, betrachte das alles, höre es, atme es ein, kann nicht genau sagen, ob ich gerührt bin, nach all dieser Zeit wieder dazusein, oder ob es mich gleichgültig läßt.
Langsam gehe ich weiter bis zu dem kleinen Wendekreis ganz am Ende. Dieselben vierzehn Häuser, ruhig und zufrieden an diesem warmen, trägen Sommernachmittag, genau wie früher. Langsam gehe ich wieder zur Ecke zurück. Alles ist noch da, genau wie früher. Ich weiß nicht, warum ich das so überraschend finde. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Trotzdem, nach fünfzig Jahren …
Und während der erste Schock der Vertrautheit nachläßt, merke ich allmählich, daß überhaupt nichts so ist wie früher. Alles hat sich verändert. Die Häuser sind jetzt sauber und langweilig, ihre architektonische Vielfalt gewissermaßen homogenisiert durch neue Vorbauten und Lampen und aufgesetztes Fachwerk. In meiner Erinnerung war jedes Haus eine eigene Welt, so verschieden von den anderen wie die Menschen, die darin wohnten. Jedes Haus war, hinter seinem Schirm von Rosen oder Geißblatt, Linden oder Buddleia, ein Mysterium. Nun sind diese üppigen Pflanzen fast überall verschwunden und durch Abstellplätze und Autos ersetzt worden. Auch am Straßenrand bilden Autos geräuschlos eine Schlange. Die vierzehn einzelnen Reiche haben sich vereinigt zu einer Art gärtnerisch gestalteten Parkplatz. Alle Mysterien sind gelöst. In der Luft der höfliche, internationale Geruch von schnellwachsenden Immergrünpflanzen. Doch von dem wilden, unanständigen Geruch, der mich hierherlockte, ist selbst an diesem Spätjunitag nicht ein Hauch geblieben.
Ich schaue in den Himmel, das einzige Element jeder Landschaft und jeder Stadt, das von Generation zu Generation und von Jahrhundert zu Jahrhundert fortbesteht. Doch selbst der Himmel hat sich verändert. Einmal stand dort, in einem Wirrwarr heroischer Kondensstreifen, der Krieg geschrieben. Es gab die aufgerichteten Finger der nächtlichen Scheinwerfer und die riesigen bunten Leuchtraketengebäude. Jetzt ist selbst der Himmel mild und nichtssagend geworden.
An der Ecke zögere ich wieder. Langsam komme ich mir ziemlich töricht vor. Habe ich diese Reise unternommen, nur um die Straße hinauf- und hinterzugehen und den Duft der Zypressenhecken zu riechen? Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun oder empfinden könnte. Ich bin am Ende meiner Pläne angekommen.
Und dann merke ich, daß sich die Atmosphäre um mich herum verändert, als würde die Vergangenheit aus der Luft heraus wieder Gestalt annehmen.
Es dauert einen Moment, bis ich die Ursache erkenne. Es ist ein Geräusch – das Geräusch eines unsichtbaren Zuges, erst gedämpft und fern, plötzlich ganz deutlich, als er in dem Einschnitt hinter den Häusern am oberen Ende des Close auftaucht, genau wie der Zug, mit dem ich vor zwanzig Minuten angekommen bin. Unsichtbar fährt er den Bahndamm entlang, hinter den Häusern auf der linken Straßenseite, überquert dann eine Brücke und nähert sich, langsamer werdend, dem Bahnhof.
Während dieser vertrauten Abfolge von Geräuschen verändert sich vor meinen Augen das ganze Erscheinungsbild des Close. Das Haus links an der Ecke, vor dem ich stehe, gehört nun den Sheldons, das Haus gegenüber den Hardiments. Jetzt höre ich noch andere Geräusche. Das endlose Klappern von Mr. Sheldons unsichtbarer Gartenschere hinter der hohen Buchenhecke, die inzwischen verschwunden ist. Die endlosen Tonleitern, die die blassen Kinder der Hardiments in dunklen Räumen hinter dem Schirm aus hübsch miteinander verwachsenen Linden (noch vorhanden) spielten. Ich weiß, wenn ich den Kopf zur Seite drehe, werde ich weiter unten die beiden Geest-Zwillinge bei einem komplizierten Himmel-und-Hölle-Spiel sehen, die identischen Pferdeschwänze identisch wippend … und auf der Zufahrt der Averys ein ölverschmiertes Knäuel aus Charlie und Dave und den Einzelteilen eines zerlegten Dreirads …
Aber im Moment richte ich den Blick natürlich auf Nr. 2, das Haus neben den Hardiments. Selbst dieses Haus ähnelt sonderbarerweise all den anderen, obwohl es mit Nr. 3 verbunden ist – das einzige Doppelhaus hier im Close. Inzwischen hat es offenbar einen Namen: Wentworth. Als ich darin wohnte, hatte es nur eine Nummer, und auch das kaum, denn das Namensschild am Gartentor war mit Teerfarbe überstrichen. Aber trotz des grandiosen neuen Namens und der frisch verputzten Fassade und der strikten Herrschaft, die Steinplatten und ein unpersönlich wirkender Rasen über den Vorgarten ausüben, strahlt das Haus noch immer eine gewisse Verlegenheit aus. Unter dem glatten weißen Putz glaube ich fast das alte, rissige, wasserfleckige Grau sehen zu können. Aus den Fugen der schweren Steinplatten sprießen die Geister wilder unbekannter Sträucher, um die mein Vater sich nie kümmerte, und das kleine kahle Rasenstück. Unsere Haushälfte wurde noch unansehnlicher durch die andere Hälfte, die in einem noch schlimmeren Zustand war, weil der Garten der Pinchers als Müllhalde für ausrangierte, vom Regen verzogene Möbel und Holz- und Metallreste diente, die Mr. Pincher an seinem Arbeitsplatz gestohlen hatte. Zumindest glaubten das die Leute in der Straße. Vielleicht, denke ich jetzt, lag das auch nur an seinem Namen. Jedenfalls waren die Pinchers die unerwünschten Elemente im Viertel – noch weniger erwünscht als wir –, und wegen der furchtbaren Verbindung unserer Häuserhälften färbte das auch auf uns ab.
Heute kann ich das so sehen. Aber hat er das damals auch schon so gesehen? Ich meine den schüchternen Jungen, der in diesem unordentlichen Haus zwischen den Hardiments und den Pinchers wohnt – Stephen Wheatley, der mit den Segelohren und dem zu kurzen grauen Schulhemd aus Flanell, das aus den zu langen grauen Flanellshorts hängt. Ich sehe, wie er aus der verworfenen Haustür tritt und sich noch immer einen Rest vom Nachmittagstee in den Mund stopft. Alles an ihm ist Grau, in den verschiedensten Tönen – selbst der elastische Gürtel, gestreift wie das Band eines altmodischen Strohhuts und zusammengehalten mit einer S-förmig verschlungenen Metallschlange. Die Streifen des Gürtels sind in zwei unterschiedlichen Grautönen, denn Stephen ist ganz und gar monochrom, und zwar deswegen, weil ich ihn so in Erinnerung habe, von den alten Schwarzweißfotos her, über die meine Enkel ungläubig lachen, wenn ich ihnen erkläre, daß ich das bin. Ich bin genauso ungläubig wie sie. Ohne die Schnappschüsse würde ich nicht wissen, wie Stephen Wheatley aussieht, oder jemals ahnen, daß er und ich verwandt sind, wenn auf der Rückseite nicht der Name stünde.
Aber noch jetzt spüre ich in den Fingerspitzen die zart schuppige Beschaffenheit der Schlangenhaut.
Stephen Wheatley … Oder einfach Stephen … Auf den Zeugnissen S.J. Wheatley, im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz einfach Wheatley. Merkwürdige Namen. Keiner paßt so richtig zu ihm, wenn ich ihn jetzt vor mir sehe. Er dreht sich noch einmal um, bevor er die Haustür zuwirft, und ruft mit vollem Mund irgendein unpassendes Schimpfwort als Antwort auf eine der vielen herablassenden Bemerkungen seines unerträglichen älteren Bruders. Einer seiner schmuddeligen Tennisschuhe ist nicht zugeschnürt, und ein grauer Strumpf schlängelt sich als dicker Wulst um seine Knöchel. In den Fingerspitzen spüre ich, so deutlich wie die Schuppigkeit der Schlange, das hoffnungslos ausgeleierte Gummiband des heruntergerutschten Strumpfs.
Weiß er in seinem Alter eigentlich schon, welchen Ruf er in der Straße genießt? Er weiß es sehr wohl, auch wenn er nicht weiß, daß er es weiß. In seinem Innersten spürt er, daß bei ihm und seiner Familie etwas nicht ganz stimmt, daß sie nicht ganz passen zu den Geests mit ihren Pferdeschwänzen und den ölverschmierten Averys, nie ganz passen werden.
Die Gartentür braucht er nicht zu öffnen, denn sie ist schon offen, hängt schief in den Angeln. Ich weiß, wohin er geht. Nicht hinüber zu Norman Stott, der ganz in Ordnung wäre, wenn nicht sein jüngerer Bruder Eddie wäre. Irgend etwas mit Eddie stimmt nicht – er hängt ständig herum, sabbert, grinst und will einen immer anfassen. Nicht zu den Averys oder den Geests. Ganz sicher nicht zu Barbara Berrill, die so listig und verräterisch ist wie die meisten Mädchen und noch unsympathischer, seit sein Bruder Geoff sich Brillantine ins Haar schmiert und in der Abenddämmerung mit Barbaras älterer Schwester Deirdre herumsteht und Zigaretten raucht. Der Vater der beiden Mädchen ist in der Armee, und alle sagen, daß die beiden es bunt treiben.
Wie ich schon ahnte, überquert Stephen nun die Straße, zu sehr in Gedanken, um auf den Verkehr zu achten – allerdings gibt es mitten im Krieg auch nicht viel Verkehr, auf den er achten müßte, abgesehen von gelegentlichen Fahrrädern und den langsam...