Franzetti | Richtig im Kopf | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 148 Seiten

Reihe: Lenos Polar

Franzetti Richtig im Kopf

Kriminalnovelle
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-85787-593-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Kriminalnovelle

E-Book, Deutsch, 148 Seiten

Reihe: Lenos Polar

ISBN: 978-3-85787-593-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Dante Andrea Franzetti erzählt in seiner Kriminalnovelle die berührende Geschichte von einem behinderten Kind, einer alleinerziehenden Mutter und einem zynischen Fernsehmann, der unversehens in die mörderischen Ereignisse stolpert. Darf man Schwerverbrecher verurteilen? Nein, ist die Hirnforscherin Regine Odenaal überzeugt. Wenn diese Täter töten, werden sie von abnormen Neuronenströmen geleitet, für die sie nichts können. Im Gespräch mit dem Drehbuchautor Mauro de Feo, der sie filmisch porträtieren soll, erläutert sie, warum pädophile Mörder oder notorische Vergewaltiger strafrechtlich nicht belangt werden dürften. Strafe könne es nur für Menschen geben, die eine Wahl hätten, nicht aber für Täter, die von ihrem kranken Gehirn gesteuert würden. Sie seien nicht richtig im Kopf. Auf die Probe gestellt wird Regine Odenaal, als sie selbst unmittelbar von einem grausamen Mord betroffen ist. De Feo und sie sind mittlerweile ein Paar, doch er muss feststellen, dass er gegen das unaufhaltsame Abdriften seiner Partnerin in Wahnsinn und Rachsucht machtlos ist. Die überlegene Wissenschaftlerin stürzt plötzlich in den bodenlosen Strudel der Realität. Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit den neuesten neurologischen Theorien, die dem Menschen jede Verantwortung für sein Tun absprechen. Das Dasein, die Realität widerlegt aber solche Konstrukte: Ohne Schuld- und Verantwortungsgefühle ist ein menschliches Zusammenleben nicht möglich.

Dante Andrea Franzetti, geboren 1959 in Zürich, ist Autor, Publizist und Dozent. 1985 wurde er durch 'Der Grossvater' bekannt und veröffentlichte danach weitere Romane und Erzählungen. Er wurde u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (1994) und dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank (2013) ausgezeichnet. Franzetti war zeitweilig Reporter und Italienkorrespondent verschiedener Zeitungen und lebt heute in Zürich und Rom. 2014 startete er die publizistische Website Interessen.org.
Franzetti Richtig im Kopf jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


VI.


Esterina Pepe


Wird es schon dunkel? Kaum halb vier, und ich schaue die Toledo hinauf, über die Vorhügel hinweg, zum Vulkan. Eine alte Gewohnheit: Manchmal speit er, und Asche fliegt auf. Ich vergesse immer: Eine andere schmierige Asche verdüstert seit mehreren Wochen den Himmel, verpestet die Luft, verkürzt die Tage und vermiest mir die kurze Stunde des Einkaufs: kein murrender Mann mit hängenden Mundwinkeln, der sein gestreiftes Hemd für den Kartenabend in der Bar nicht findet – armer ungeschickter Gennaro, der schon mit sechzig Jahren die Brille sucht, die er auf der Nase hat, und sich in den Bart sabbert, wenn er die Minestrone schlürft, und manchmal auf mir einschläft, ausgestreckt und zufrieden schnarchend, während ich unter seinem Gewicht ächze und ihn von mir zu schieben und wegzurollen versuche, als wäre er plötzlich in Ohnmacht gefallen, mittendrin und ohne Mumm, es zu Ende zu bringen, trotz der blauen Pillen, die er neuerdings vom Schwarzmarkt mitbringt; kein quengelnder Sohn, der sich nur zusammennimmt, bis seine kleine hinkende Freundin in den Armen der Signora verschwindet, um sich auf den Heimweg zum Herrenhügel zu machen – armer Walter, der mit seinen einundzwanzig Jahren nur ein grosser Junge sein kann, solange er Mathilda beschützt, während sie gleichzeitig auf ihn aufpasst, und danach wieder zum Kind wird und wie ein Säugling nach Essen, Aufmerksamkeit und Zuneigung schreit, worauf sein Vater ebenfalls zu toben beginnt, um seinem Sohn Konkurrenz zu machen, der jetzt in einem echten oder unechten epileptischen Anfall – die Ärzte wissen es nicht – auf dem Küchenboden herumzuckt und mit den Fäusten auf den Kühlschrank und den Geschirrspüler einschlägt und Schaum vor dem Mund hat; kein Mann, kein Kind und auch keine Frau und Mutter, ja, mir kommt es vor, als ginge ich auch ohne Esterina einkaufen: ohne Esterinas Aufgaben, Verpflichtungen, Sorgen, Rollen, die mich ausmachen als das, wofür ich angesehen werde von allen rundherum, und es hilft wenig, dass meine Schwester Mariasole, die Buchhalterin, mich zu klug und zu gebildet für meine Umgebung findet, nur weil ich ein Buch lesen und eine Steuererklärung ausfüllen kann, und dass ich den falschen Mann geheiratet hätte, weil Gennaro nicht einmal die erste Klasse der Sekundarschule abgeschlossen hat und fast noch als Kind in die Fabrik gegangen ist, wobei er ja ein guter und offenbar treuer Mann sei, aber eben ein antriebsloser, dumpfer, bescheidener, schicksalsergebener, womit Mariasole, die sich modern und zeitgemäss auszudrücken gelernt hat im Immobilienkonzern, für den sie arbeitet, nichts anderes als einen Verlierer, zu Englisch (und sie sagt es auf Englisch) einen loser, meint. Mir fällt ein, während ich die zweihundert Meter der Via Toledo den Hügel hinauf in Angriff nehme unter einem Fetzen blauen Himmels – ein Wind hat die schwarzen Schwaden zum Hafen geblasen –, dass ich Mariasole nicht mehr mit dem Satz ärgere, mit Gennaro und mir hätten sich die letzten beiden, vollumfänglich überzeugten Kommunisten aus dieser Stadt gefunden und im Namen ihres nicht zu erschütternden Glaubens zusammengetan, worauf meine um zehn Jahre jüngere Schwester jeweils ein Schreikrampf befiel: Das gibt es doch nicht, Rosa Luxemburg und Lenin haben geheiratet!; und wenn das vorüber war, erklärte sie mir, die ich zu gebildet bin für einen Hausmeister an einer Schule, wie einem zehnjährigen Kind, was der Sinn und die Segnungen von Renditen, Krediten, Investitionen, Finanzoperationen und, wichtig in ihrem Sektor, von Hypothekarzinsen und Bausparverträgen seien, worauf ich, bis sie verzweifelt den Tisch eines Cafés oder meine Wohnung verliess, gebetsmühlenhaft wiederholte: Wir leben schlecht mit unseren 1200 Euro, aber wir sind ehrliche Leute, ehrliche Leute …

Also: Die fünfzigjährige Frau, die für eine Stunde nicht mehr Esterina sein wird, hat mit einer Münze einen Einkaufswagen ausgelöst und betritt die Super Esse am obersten Punkt des Hügels, den die Toledo hinaufführt. Ich werde nicht viel Zeit vertrödeln, denn für Walters Geburtstag fehlen mir nur wenige Zutaten, vier Steaks – Mathilda ist auch da – und die einundzwanzig Kerzen; den Pizzateig habe ich vorbereitet, die Peperoni und Broccoli sind schon auf den Tellern im Kühlschrank, die bestellte Schwarzwälder holt Gennaro in der Pasticceria ab; ich brauche noch Mascarpone und Kakaopulver für das Tiramisu – zwei Desserts! –, Milch, Müsli und Joghurt für das Frühstück, Rosmarin und Knoblauch; schon bin ich zuunterst auf der Liste angelangt.

Eine Sonderaktion für Gummistiefel – wohl um unbeschadet in Müll und Asche herumzuwaten. Und weshalb preist eine halbnackte Blonde, die mit ihren langen Armen nur notdürftig die freien Brüste verdeckt und nur mit einem Fuss in einem Stiefel steckt, diese innen gefütterten Garden Boots an? Zum Glück, denke ich, glotzt Walter die in allen Läden und auf jeder Plakatwand posierenden Frauenkörper nur ungläubig mit offenem Mund und starrem Blick an, ohne genau zu verstehen, worum es geht. Oder bilde ich mir das nur ein? Mit demselben blöden Blick blätterte er einmal ein Heftchen durch, das er gefunden hatte. Ich beobachtete ihn, doch ich stellte ausser Unverständnis und Ungläubigkeit keine Reaktion fest, er hatte auch keine Erektion wie jeweils am Morgen. Dieser Doktor Ruggero in der Klinik meinte: Auch das ist wie bei einem Kind. Walter weiss nicht, was Sexualität ist, aber sie ist da, macht sich bemerkbar, fordert etwas von ihm. Als ich den Arzt fragend ansah, schüttelte er lächelnd den Kopf: Nun ja, er wird vielleicht einmal masturbieren, das ist schon alles, gute Frau. Vielleicht dachte er, was Mariasole manchmal ausspricht, wenn ich tadelnd bemerke, dass ihr Immobilienkonzern mit sonnenbadenden nackten Mädchen wirbt, die sich auf buntgestreiften Liegestühlen im Garten irgendwelcher Villini ausstrecken, sogar im Fernsehen: Du bist eine prüde, humorlose alte Schachtel geworden! Ich muss es laut vor mich hergesagt haben, denn Doktor Ruggero unterdrückte sein Lachen nicht mehr und beruhigte mich: Gewiss nicht, Frau Pepe. Sie kennen die Männer und sind weder prüde noch unmodern, noch humorlos. Und bringen Sie Walter wieder einmal mit. Er ist ein guter Junge.

Das ist er wirklich. Mathilda wird Walter in ein, zwei Jahren vielleicht nicht mehr als Spielkameraden haben wollen, aber solange es so ist, macht es mir Freude, wie sich die beiden ergänzen und einander etwas geben können. Es ist nicht schön, wenn die älteren Schüler Walter für einen Affen halten, aber sie fürchten sich vor ihm, wenn er zu brüllen beginnt, und nähern sich Mathilda nicht. Wenn Walter Boxbewegungen in der Luft macht, sagt sie ihm: Schreien genügt, Schreien wie ein Orang-Utan. Nicht schlagen, nur schreien. Du kannst das, lieber Affe.

Ich glaube nicht, dass Walter diese Ironie versteht. Mathilda hat ihm beigebracht, es nicht mehr zu beachten, wenn sie vor ihm auf dem Schulhof den Affen machen. Ich liebe jeden kleinen Fortschritt meines Sohnes, liebe Mariasole, und der dumpfe, antriebslose Verlierer, der mein Mann ist, hat dieses viel zu grossgewachsene Kind in einundzwanzig Jahren nicht für einen Monat, für keine Woche, nicht einmal für einen einzigen Tag weggeben wollen, und nachdem sie sich angebrüllt haben, eine ganze Stunde lang, umarmen sie sich, bevor sie ins Bett gehen. Immer! Jedes Mal!

Wenn ich dabei bin, erledige ich gleich einen Teil des Wochenendeinkaufs. Ich weiss nicht, ob ich das tue, weil ich noch vierzig Minuten Zeit habe – Mathilda kann die halbe Stunde ab vier, bis die Signora sie abholt, gut mit Walter zusammen sein – oder weil ich den Einkaufswagen bemitleide, der, mit so wenig Esswaren gefüllt, aussieht wie ein hungriger Magen, der nur eine Vorspeise gegessen hat. Hier hast du noch: sechs Bananen, drei Packungen Mozzarella, zwei grosse Becher Vanillecrème, acht Artischocken, zwei Schachteln Crackers. Das ist der Hauptgang.

Dein Magen verdaut alles: zwei Duschfit, zwei Spülmittel, eine Schachtel Geschirrspülpulver, zwei Packungen Wischtücher, je ein Reinigungsmittel für WC und Fenster, eine Klosettbürste. Das ist das Dessert, und jetzt brauchst du noch: zwei Packungen Lavazza Famiglia, einen Nescafé Decaffeinato, eine Dose Süssstoff (für mich).

Nein, weder Limoncello noch Grappa, du bist abstinent, lieber Einkaufswagen, wie Gennaro und ich. Und ja, liebe Mariasole, mein Loser trinkt nicht, raucht nicht, spielt nicht (nur Karten einmal die Woche, ohne Geldeinsatz) – ein richtiger Langweiler, der neuerdings beim Sex einschläft und sich keine Ferien leisten kann, um zu entspannen und seine Frau durchzuvögeln, völlig unter deiner Würde und deinem Bildungsniveau, Schwesterchen, und genau der Richtige für mich.

Vielleicht denke ich so oft beim Einkaufen an meine Schwester, weil sie sich ihr Essen in der Rotisserie und bei Balducci besorgt, den Fisch bei Segolera. Mein Einkaufswagen hat jedenfalls viel Gesellschaft erhalten, und anhand des Gegendrucks an meinen Armen spüre ich, dass ich etwas Gehaltvolles vor mir herschiebe. Ah, diese Beschwingtheit und Kampfeslust beim Einkauf in der Super Esse, wo ich für mich allein bin und nicht zum Reden gezwungen werde wie in den Quartierläden! Ich bin in einem Stummfilm, und meine Verärgerung über nackte Reklame, meine Empörung über die Abgedroschenheit meiner Schwester, mein Spott über die Rüpelhaftigkeit meines Mannes sind ein bisschen gespielt: der kurze, aber intensive Auftritt einer Hausfrau in einer der vielen Nebenrollen in diesem Film.

Meine Ausgelassenheit hilft auch besser ertragen, dass sich Oscar hinter dem Tresen der Metzgerei befindet. Als die Super...


Dante Andrea Franzetti, geboren 1959 in Zürich, ist Autor, Publizist und Dozent. 1985 wurde er durch "Der Grossvater" bekannt und veröffentlichte danach weitere Romane und Erzählungen. Er wurde u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (1994) und dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank (2013) ausgezeichnet. Franzetti war zeitweilig Reporter und Italienkorrespondent verschiedener Zeitungen und lebt heute in Zürich und Rom. 2014 startete er die publizistische Website Interessen.org.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.