Franke | Unsterblich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 560 Seiten

Franke Unsterblich

Roman.
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96122-355-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman.

E-Book, Deutsch, 560 Seiten

ISBN: 978-3-96122-355-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der junge Extremsportler Raven Adam kann nicht glauben, dass der plötzliche Tod seines Bruders ein Unfall war. Als er beginnt, Nachforschungen anzustellen, erreicht ihn der verzweifelte Hilferuf von Mirja Roth. Sie absolviert ein Praktikum in einer Dschungelklinik am Amazonas und macht dort erschreckende Beobachtungen: Menschen verlieren ihre Erinnerung oder verschwinden spurlos. Schnell erkennt Mirja, dass sie nicht zufällig in dieser Klinik gelandet ist. Ihr Leben ist in großer Gefahr. Bald darauf muss Raven feststellen, dass auch der Tod seines Bruders eng mit diesen Ereignissen verwoben ist ... Ein atemberaubender Thriller über die uralte Angst des Menschen vor dem Tod und die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten moderner Hirnforschung, aber auch über Hoffnung, die selbst in die dunkelsten Abgründe scheint.

Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. www.thomasfranke.net Foto: © Studioline Erlangen
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Kapitel 2

Berlin, Mai 2024

Es ist nicht deine Schuld! Tausendmal hatte er diese Worte schon gehört. Sie plätscherten über seine Seele wie Wasser über Felsen.

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte seine Mutter leise und schaute mit leeren Augen an ihm vorbei.

„Nicht schuldig“, sagte der Richter und fügte hinzu: „Aus Mangel an Beweisen.“

„Du hättest nichts tun können“, sagten seine Freunde, aber sie wichen seinem Blick aus.

„Sie dürfen sich nicht die Schuld daran geben“, sagte sein Therapeut und verschrieb ihm weitere Medikamente.

Du bist nicht schuld!, sagte er sich selbst. Aber er glaubte sich nicht.

Wenn er sich doch nur erinnern könnte.

Die alte Villa prahlte mit ihrer stuckverzierten Fassade, die in der grellen Mittagssonne glänzte. Aber im Garten wuchs Unkraut zwischen den Rosen, und niemand kümmerte sich um den verblühten Rhododendron. Raven drückte den Messingknopf neben dem Klingelschild.

Es dauerte lange, bis eine heisere Stimme fragte: „Ja?“

„Ich bin’s … Raven.“

Schnaufendes Atmen war zu hören. „Wer?“

„Raven Adam, der Pflegehelfer.“

„Kenn ich nicht.“

„Natürlich kennen Sie mich. Wir haben gestern zusammen Dame gespielt, und Sie haben mich haushoch geschlagen.“

Schweigen.

„Frau Schubert?“, fragte Raven.

„Kenn ich nicht.“

„Ich spreche von Ihnen.“ Schmunzelnd schüttelte Raven den Kopf. „Sie sind Frau Schubert!“ Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Job ihm sein Lächeln zurückgeben würde?

Einige Atemzüge waren zu vernehmen, dann erklang ein ärgerliches „Was wollen Sie?!“.

Raven hatte einen Schlüssel, aber wenn irgend möglich vermied er es, ihn zu benutzen. Als er damit das erste Mal Frau Schuberts Wohnung betreten hatte, hatte sie beinahe einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Das zweite Mal hatte sie versucht, ihm mit einem eisernen Schürhaken den Schädel zu spalten.

„Frau Schubert, ich bin’s, Raven. Der junge Mann, der Ihre Blumen gießt.“

„Und warum kommen Sie erst jetzt?“ Das Summen des Türöffners erklang, und Raven trat ein. Der alte Sisalläufer knarzte unter seinen Füßen. Er beeilte sich, denn es war durchaus vorgekommen, dass sie ihn schon wieder vergessen hatte, wenn er bei ihrer Wohnungstür anlangte. Doch dieses Mal hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Tür stand offen, und ein faltiges Lächeln begrüßte ihn.

„Wollen Sie Kaffee?“

„Gern“, sagte Raven, denn er wusste, dass er ihr damit eine Freude machte.

„Ich habe echten Bohnenkaffee im Haus“, verkündete die alte Dame in verschwörerischem Tonfall. Dann schlurfte sie in die Küche. Mit ihren über 90 Jahren war sie körperlich noch beeindruckend rüstig. Nur ihr Geist hatte sich im Labyrinth ihrer Erinnerungen hoffnungslos verirrt. Sie ignorierte den chromglänzenden Kaffeeautomaten, der sicherlich mehr gekostet hatte, als Raven in einem Monat verdiente, und stellte einen verbeulten Teekessel auf den Herd. Dann starrte sie nachdenklich an ihm vorbei.

„Sie wollten sicherlich den Kaffee holen“, sprang er ihr bei.

Frau Schubert nickte und wandte sich ab.

Rasch füllte Raven den Wasserkocher und schaltete ihn an. Der Herd war schon vor einiger Zeit abgestellt worden. Es war einfach zu gefährlich. Manchmal kam Raven sich schäbig vor, dass er die Illusion der Selbstständigkeit aufrechterhielt, obwohl die alte Dame in Wahrheit in allen alltäglichen Dingen auf Hilfe angewiesen war. Aber dann sah er sie lächeln, und sein schlechtes Gewissen verging wieder.

Frau Schubert stellte eine Blechbüchse mit Kaffee und zwei Tassen auf den Tisch. „Aus irgendeinem Grund habe ich keine Filter mehr im Haus. Dann müssen wir ihn eben türkisch trinken.“ Sie füllte mit zitternden Händen Kaffee in die Becher. „Das schmeckt ohnehin besser.“ Sie setzte sich. „Nehmen Sie Platz.“ Sie betrachtete ihn unter hochgezogenen Brauen. „Wo ist eigentlich Ihre Uniform?“

„Ich bin der Pflegehelfer, Frau Schubert. Ihre Freundin Eleonore von Hovhede hat mich angestellt – “

„Schade, Sie sahen so schnieke aus in Ihrer Portiersuniform.“

Raven lächelte. Wer wusste schon, mit wem sie ihn gerade verwechselte.

Als das Wasser kochte, goss Raven den Kaffee auf. Unauffällig öffnete er den Kühlschrank und ergänzte in Gedanken seine Einkaufsliste.

Frau Schubert hatte Glück: Sie war wohlhabend, hatte keine Erben und eine gute Freundin, die alles dafür tat, dass sie ihren Lebensabend in der vertrauten Umgebung verbringen konnte. Die Pflegerin von der Sozialstation kam dreimal am Tag für Körperpflege und Medikamente vorbei. Raven war das Bonusprogramm. Er nahm ein angebissenes Stück Brot aus der Spüle und warf es in den Mülleimer. Als er sich umdrehte, hatte die alte Frau die Tasse Kaffee in der Hand.

„Nicht, Frau Schubert, der ist noch viel zu heiß!“

Sie trank einen Schluck und lächelte ihn kokett an. „Ach, Anton, du bist ein Spielverderber.“ Schwarze Krümel saßen in ihren Zahnlücken. Es war ein grotesker Anblick. Und dennoch wurde Raven in diesem Moment wieder bewusst, dass Frau Schubert früher einmal sehr hübsch gewesen war. Er hatte alte Fotos gesehen. Sie selbst fühlte sich in diesem Moment wieder jung und flirtete mit dem jungen Portier Anton, den sie in ihrer Jugend offenbar sehr attraktiv gefunden hatte.

Raven setzte sich wieder und schob ihre Tasse mit dem heißen Kaffee ein Stück zur Seite. „Was möchten Sie denn zum Frühstück essen, Frau Schubert?“

„Weißt du, dass deine Augen ein ganz besonders dunkles Blau haben?“

„Ich mache Ihnen ein Honigbrot, Frau Schubert, und diesmal essen Sie wenigstens die Hälfte, in Ordnung?“

„Honig …“, wiederholte die alte Frau, und es klang, als teste sie den Geschmack dieses Wortes.

Das Frühstück nahm über eine Dreiviertelstunde in Anspruch. Immer wieder vergaß die alte Dame sogar das Kauen und starrte mit leerem Blick an die Küchenwand. Schließlich murmelte sie: „Der Anton ist tot. Er ist gefallen, sagen sie. Aber ich glaube, er ist erfroren, im russischen Winter. Er fror doch so leicht.“ Sie schob den Teller beiseite.

„Kommen Sie, wir gehen ein bisschen auf den Balkon. Dann können Sie mich beaufsichtigen, während ich mich um Ihre Blumen kümmere.“

Erst reagierte sie nicht, dann schrie sie ihn an. Er solle sie in Ruhe lassen. Schließlich bot sie ihm mit gezierter Bewegung ihren Arm. Ihre Finger waren kalt und ihre Haut so dünn wie Pergament. Raven öffnete die Balkontür und führte die alte Dame zu einem gepolsterten Liegestuhl. Frau Schubert setzte sich.

„Blühen die Petunien nicht herrlich?“

„Ganz wunderbar“, erwiderte Raven. Er hatte keine Ahnung von Blumen.

Nachdem er die Gießkanne mit Wasser gefüllt hatte, goss er die Balkonkästen. Dabei starrte er auf die terrakottafarbenen Plastikbehälter und versuchte, so viel Abstand wie möglich zum Geländer zu halten. Diesen Teil seines Jobs hasste er. Aber die alte Dame liebte nun einmal ihren Balkon, und sie war stets entspannter, wenn sie hier saß.

„Sie müssen die verwelkten Blätter entfernen“, wies sie ihn an.

Raven schluckte. Sie wird es gleich wieder vergessen, dachte er. Die Erkenntnis seiner eigenen Feigheit versetzte ihm einen Stich. Du bist so erbärmlich! Soll diese Angst dein gesamtes Leben bestimmen? Willst du immer auf der Flucht sein wie ein verängstigtes Kaninchen?!

Er machte einen Schritt auf die Balkonbrüstung zu, dann noch einen. Unwillkürlich huschte sein Blick zur nahe gelegenen Dachterrasse des Nachbarhauses. Eigentlich wäre es ganz einfach: per Cat Balance über das Geländer, Tic-Tac an der Mauerseite und dann oben von der Mauerkrone ein Two Foot Precision über den Hof auf den Balkon der alten Dame, den Schwung mit einer einfachen Rolle auffangen und weiter. Ganz einfach …

Eine vertrocknete Blüte hing über die rostige Brüstung. Raven beugte sich vor. Der Hof lag direkt unter ihm, Pflastersteine … Helles Grau und Anthrazit bildeten ein wellenförmiges Muster. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Es sind doch nur sechs oder sieben Meter. Er versuchte, gegen die aufkeimende Panik anzukämpfen. Du hast schon in zehnfacher, ja, hundertfacher Höhe gestanden. Sein Atem ging hektisch und flach. Das Muster der Granitsteine im Hof begann, sich zu bewegen. Es verschwamm zu einem Strudel, der sich immer schneller zu drehen begann.

Erinnerungsfetzen schossen ihm durch den Kopf:

Sie standen auf dem obersten Parkdeck, es war windig, doch für Ende September war die Luft noch ganz warm. Raven hielt die Kamera. „Du wirst berühmt werden!“, hörte er seine eigene Stimme.

Julian grinste. Es war das typische jungenhafte Grinsen seines Bruders – die Frauen liebten ihn dafür. Doch diesmal lag in seinen Augen ein Schatten. Irgendetwas stimmte nicht … Julian stand auf der Parkdeckumrandung …

Und dann kam das Nichts: ein heller Blitz … weißes Rauschen und das Trommeln seines eigenen Herzschlags.

Weit unter ihm lag Julians Gestalt. Das Pflaster färbte sich rot.

Etwas Hartes drückte gegen Ravens Nacken. Ein Schrei gellte in seinem Inneren wider. Er wusste nicht, ob er geschrien hatte oder Julian – oder war da noch...


Franke, Thomas
Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. www.thomasfranke.net

Foto: © Studioline Erlangen

Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. www.thomasfranke.net

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