E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
Frank Sinken & Fliegen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95996-195-0
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
ISBN: 978-3-95996-195-0
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kleines F. ist Wirtschaftsanwalt und hat Burnout. Oder Schlimmeres. Er funktioniert nicht mehr. Und Kleines hat irrationale Ängste. Deshalb lässt er sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik einliefern. Doch auch die Therapien und die Medis helfen nicht. Die Liebesbeziehung, die er mit der Patientin Nathalie anfängt, macht alles nur noch komplizierter.
Kleines F. beginnt nach den Gründen seines Scheiterns zu suchen: in seiner Vergangenheit, in den kriminellen Machenschaften seiner Ex-Kollegen, in seinen kaputten Beziehungen und er merkt bald, dass es den einen Grund nicht gibt und seine Ängste vielleicht gar nicht so irrational sind. Schlimmstenfalls dreht nämlich nicht er am Rad, sondern die anderen.
In Sinken & Fliegen analysiert ein unaufhaltsam Fallender sich selbst, seine Mitmenschen und eine Welt, die nichts anzufangen weiß mit jenen, welche die Regeln nicht mehr einhalten können oder wollen und deren Sicherungen durchgebrannt sind.
Autoren/Hrsg.
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Pontius
Der Mond am Morgen verblasste hinter dem, was wir für wichtiger halten. Dabei sah er so zerbrechlich aus, dass ich glaubte, er hätte unsere zärtlichsten Gefühle verdient. Vor der leuchtend dunkelblauen Folie am Himmel wirkte er stumpf und verblichen. Wenn ich den Mond trank, trat dennoch alles andere in den Hintergrund. Der Mond saugte meinen Blick auf, stellte meinen Kopf fest. Erst, wenn der Druck groß genug war, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, eine drohende Gefahr etwa oder ein Handyklingeln, erst dann konnte ich mich von seiner Erscheinung losreißen. Wie sollte das bloß werden, falls die Erde jemals einen zweiten Mond einfinge? Ich konzentrierte mich auf meine Füße, die zwischen dem Boden und mir keinen Raum ließen. Der Fokus nach unten gab mir Gelegenheit, das Meer zu treffen, meinen großen, schwappenden Freund mit den starken Armen, die am Ufer in das Schweigen greifen. Das Meer war mein Rückzugsort, meine Wolke, meine Dunkelkammer. Die Rettung vor zu vielen Eindrücken, die auf mein Hirn drückten. Gott und die Natur waren hier vereint, alles andere war ein Missverständnis. Die Gischt war bis zum Haus zu hören, hundert Besen in tausend Blättern. Noch in der Morgendämmerung schlüpfte ich hinaus, die Sparlampe vor der Tür bildete einen abgeschlossenen Kegel, der einen Schatten kurz einfing. Im Licht ist das Leben schneller, im Dunkeln lässt es sich besser träumen. Ich lief den Pfad durch die Weinberge den Vulkan hinunter, durch die Schlucht, dem lauter werdenden Rauschen entgegen. Das Haus hinter mir sah aus wie eine Radierung. Erst die Dunkelheit brachte es von der Druckplatte in die Landschaft. Ein paar Ziegen waren schon wach und schauten in die gleiche Richtung. Ich war der einzige Mensch unter lauter Ziegen oder das einzige Zicklein unter all den Räubern. Das Vulkanmassiv glich der Struktur der Herzkruste, der ungefähren Landkarte in mir, ziellos, zerklüftet und doch kraftvoll. Die Bäume standen am Weg wie Wachsoldaten in der Dunkelheit. Jede Vulkaninsel beginnt irgendwann, Sand einzusammeln, um einen Strand zu haben, an dem Ruhe einkehrt. La Palma, die schönste der Kanaren, hatte bisher nur etwas Vulkanstaub anhäufen können, der den Touristen heiße Füße verschaffte. Der Strand lag in tiefem Schwarz, obschon die Dämmerung dem pastellfarbenens Orange einen Weg bahnte. Der Horizont kämpfte um eine klare Linie. Da lag es. Es bewegte sich wie unter einer Decke, spielte sein ewiges Spiel. Die Wellen brachen, ohne einen Hafen zu suchen. Schon nach kurzer Zeit des Zuschauens, denn das machte ich immer zu Anfang, hatte ich den Atlantik verstanden. Ich erkannte ihn, wie sich Körper bei einer Umarmung erkennen können. Wie ich Inas Körper immer erkennen würde. Anfangs erinnerte Herr Atlantik sich an seine karibischen Wurzeln, spielte eine Weile Badewanne, gurgelte sich durch einen imaginären Abfluss, schaukelte und rauschte bräsig hin und her wie eines dicken Mannes Bauch, kratzte sich am Hinterteil. Im Schritt. Danach ordnete er sich und vollführte eine Zeitlang ordentlichen Wellengang. Wie es sein sollte und dem Lehrbuch entsprach. Das war die Phase, in der er seinen Job tat. Vermutlich wollte er seine Gäste damit ins Wasser locken, denn er sah sehr einladend und nach Urlaubspostkarte aus. La Palma by Night. Anschließend verwandelte der Herr Atlantik sich in einen aufbrausenden Zaren, der weder in Kiel noch in Moskau geboren sein konnte. (Der Kieler an sich war ein ruhiger, in sich gekehrter Typ. Selbst wenn ein sehnsuchtsvolles Herz aus Moskau in seinem Brustkorb pulsierte.) Jetzt brachte er als Überraschung oder nur zum Spaß, weil er es konnte, in schneller Folge drei, vier echte Brecher, an denen risikobereite Profisurfer ihre Freude gehabt hätten. Für Frauen und Kinder über Bord war das dann nichts mehr. Badeverbot. Rote Fahne. Wenn dieser aufflammende Zorn verraucht war, gluckste er wieder friedlich, rauschte ein wenig hin und her – und begann von Neuem. Ich liebte die Wellen und war mir sicher, mit jeder Art von Unterströmung gut zurechtzukommen. Sind wir nicht alle dem Wasser entstiegen? Je größer der Kampf, desto besser. Ich trat einen Schritt vor und stellte mich mit den Füßen in die letzten Ausläufer einer Welle. Die morgendliche Kälte des Wassers weckte mich. Hallo. Mein innerer Schweinehund steckte den Kopf heraus, den ich ihm aber sofort abschlug. Heute wuchs nichts nach. Ich musste hinein. Ich ging mit kleinen Schritten, fast schleichend, um mich an die Temperatur zu gewöhnen. Denn bei aller Routine wirkte Herr Atlantik in seinem Schauspiel doch recht schreckhaft, die Choreografie unausgegoren und surreal, als hätte er nicht immer alles unter Kontrolle. Hafenlos. Gegen den Wind. Die Strömung zog heute stark zur Seite. Wenn man das wusste, konnte man damit arbeiten. Wenn ich abgetrieben wurde, würde ich dort hinkommen, wo Süden war. Viele Menschen wollten spätestens am Ende der Strecke da hin. Das salzige Nass rauschte um mich herum, bemerkte mich und umschloss mich. Die Wellen machten mir Spaß, ihre Stärke war gerade so auszuhalten. Erlaubt ist, was gefällt. Auch wenn die rote Flagge auf dem Mast beim um diese Zeit noch verlassenen Rettungsschwimmerhäuschen da anderer Meinung war. So pflügte ich eine Weile durch die Wellen wie ein langsam abkühlendes Messer durch Butter, und hatte das Vergnügen eines Lebendigen, allein für mich am morgendlichen Strand. Ich sprach mit ihm, ich rief ihn, ich provozierte ihn, ich feuerte ihn an. Ich ließ mich gern zerreißen, das war mein Ding, da konnte ich mich spüren, als läge ich verliebt neben einer wilden Frau. Die Wellen schlugen auf meinen trotzigen Körper ein, doch der tauchte jedes Mal kräftiger auf. Ich war ein Delphin, ich bildete eine fettig glänzende Haut aus. Ich wurde ständig stärker, er ließ mich das glauben. Ich schrie, ob das alles sei, was er drauf hätte und glaubte mich schon als Sieger gegen den ganzen Ozean. Ich spritzte ihn mit der flachen Hand nass: „Komm schon, komm schon!“ Der Wind blies mir den Kopf frei. Der Ozean türmte sich auf, gurgelte lässig und zeigte keine Angst. Er war das Gewicht der Welt und drückte auf die Erdplatten, hielt alles im Lot. Er wusste, dass er am Ende immer gewann, auch wenn es tausend Jahre dauerte. Diese lächerlich junge Menschheit hatte nicht einmal die Physik der Welle verstanden. Er zog sich ein wenig zurück, ich holte Luft. Ich ging etwas tiefer hinein, sodass ich grade noch mit den Zehen den Grund fühlen konnte. Es reichte mir, im Wellental festen Boden zu haben. Darauf hatte er gewartet. Er schaukelte sich auf, kam von links. Mir war ein wenig mulmig, und es wurde dunkler. Unter mir Schwarz, über mir Graublau, mit diesem eierschalenfarbigen, löchrigen Mond. Kein einziger Wasservogel, der sich einen Schrei getraute. Eine Welle, gut doppelt so hoch wie die letzten, wurde sichtbar, rollte auf mich zu. Sie drohte zu brechen. Es war gerade so viel Licht, dass ich sie sehen konnte, ein Monster, das beißen würde. Ich konnte nur vorwärts hechten und hoffen, dass sie mich nicht mitreißen würde. „Runter, runter, unten durch!“, hörte ich meinen Vater in mir rufen. Ich stieß mich ab und schoss hindurch, gerade rechtzeitig, bevor sie brach. Ich kam oben aus ihr heraus wie eine Boje, mit rudernden Armen und Augen voll Salz, dahinter eine weitere Welle, noch größer, noch dunkler, mit noch mehr Hohn. Eine aufgestellte Kobra mit unruhigem Schwanz. Ich nahm die Arme hoch, drückte mich erneut vom Grund ab, der nun ganz nah war und nach mir rief. Ich kam knapp vor dem Brechen oben halb durch die Welle hindurch. Nicht ohne Erschütterung, ein Riss direkt durch meinen Körper. Der hintere Rest von ihr zerrte und zog, aber erwischte mich nicht richtig. Ich zerschnitt den Sog. Ich war froh, wollte schon lachen, aber sofort wich der Erleichterung Entsetzen. Direkt vor mir, einen Meter entfernt, trieb eine bläulich glänzende Insel aus Gelee an der Oberfläche und schickte sich an, in die nächste, ebenfalls mächtige Welle zu geraten. Eine portugiesische Galeere! Das war jetzt nicht wahr! So arbeitete er also? Fiel ihm nichts Besseres ein? Ich geriet in Panik. Gemeinsam würden sie mich begraben, lähmen, ertränken. Wusste ich doch, dass dieser blaue Mörderpudding bis zu 15 Meter lange Tentakeln voller Nesselgift haben konnte. Nun blieb mir nur der Weg zurück, was auch ein Verhängnis war. Kein Entkommen, nur ein Versuch, die Zeit zu überlisten. Ich schwamm wie ein Irrer Richtung Strand gegen den Sog der nächsten Monsterwelle an. Aus dem Augenwinkel sah ich die Qualle schon ausholen. Das war die Situation, auf die er gewartet hatte, ich meinte, ein schrilles Lachen in der Gischt zu hören, als es über mir dunkel und für den Bruchteil einer Sekunde still wurde. Die nächste Wellenwand brach krachend über mir und schleuderte mich mit einer unfassbaren Wucht durch das Wasser. Jetzt hatte er mich, gurgelte mich durch seine Waschküche, drückte auf den Knopf für den Schleudergang. Jetzt war der ganze Druck des Wassers auf mir. Ein Knäuel Seetang tanzte mit mir meinen Totentanz. Die Welle ging in mein Blut über, der Wirbelsturm außen verband sich mit dem Inneren, unsere Nervenkostüme pulsierten wie eins. Ich schlug hart auf und wurde über den Grund geschleift. Ein stechender Schmerz unterhalb des Bauchnabels, als würde jemand die Haare dort mit Feuer beseitigen. Ich spürte meine Hände nicht, die wie abgeknickt waren. War ich nun das Boot, das lautlos vom Nebel verschluckt wurde, das niemand je wiedersah? Leider zu wenig Erfahrung mit Übermut! Ich schluckte Wasser und ärgerte mich darüber, lachte aber gleichzeitig über mich selbst, weil ich geglaubt hatte, ich könnte es mit dem Meer aufnehmen,...