Löwenzahn im Asphalt
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8251-6151-4
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Immer wieder wird an Enno rumgenörgelt, aber meistens kommt er ganz gut damit zurecht. Sein Vater hält sowieso nichts von dem ganzen Druck, der auf ihn ausgeübt wird. Und zum Glück ist da ja
auch noch Ennos hochbegabter Freund Olsen, der dafür sorgt, dass der Blick der Erwachsenen wieder frei wird. Voller sprühender Fantasie lässt Astrid Frank ihren Enno erzählen, wie die Welt aus seiner Sicht aussieht: Aufgeweckt, erfindungsreich und witzig lässt er den Leser an seinem Leben teilnehmen. Ihm darin zu folgen, ist ein reines Lesevergnügen!
Weitere Infos & Material
1. Kapitel, in dem Enno zeigt, wozu er fähig ist 2. Kapitel, in dem Enno sich in eine Ameise verwandelt 3. Kapitel, in dem Enno mit einer Würgeschlange kämpft und verloren geht 4. Kapitel, in dem Enno mit einer Schnecke um die Wette läuft 5. Kapitel, in dem Enno über Löwenzahn im Asphalt nachdenkt 6. Kapitel, in dem Enno auf seiner eigenen Beerdigung ist 7. Kapitel, in dem Enno einem Raubvogel das Mittagessen versaut 8. Kapitel, in dem Enno auf Elena zählen kann 9. Kapitel, in dem Enno Hilfe von Olsens Mama erhält, obwohl es am Anfang gar nicht danach aussieht 10. Kapitel, in dem Enno den Tauben zusieht 11. Kapitel, in dem Enno auf eine Party geht, zu der er gar nicht eingeladen ist 12. Kapitel, in dem Enno Post bekommt
2. Kapitel,
in dem Enno sich in eine Ameise verwandelt Ich habe die Jalousien vor dem Fenster runtergelassen. Jetzt ist es fast ganz dunkel im Zimmer und ich kann mir den Sternenhimmel anschauen, der über mir an der Decke kreist, während ich auf meinem Bett liege. Das Zimmerplanetarium, das ich zum elften Geburtstag bekommen habe, zaubert jedes Sternbild auf meine Zimmerdecke. Ich sehe mein Sternzeichen, den Wassermann. Der Gedanke mit dem Außerirdischen ist gar nicht so schlecht. Vielleicht bin ich ja wirklich ein Alien und vor zigtausend Jahren bei einer Erdexpedition von meinen Leuten hier vergessen worden oder so. Ich habe irgendwo unbemerkt in einem Kokon gelegen, über den man ein Krankenhaus gebaut hat, und als meine Mutter (die dann natürlich gar nicht meine Mutter ist) ein Baby geboren hat, habe ich durch meine besonderen Fähigkeiten dafür gesorgt, dass dieses Baby verschwindet – vielleicht haben meine Kollegen vom anderen Stern es zu sich hochgebeamt, um es zu untersuchen –, und mich selbst an seine Stelle gelegt. Der wahre Enno Anders ist jetzt also irgendwo auf einem fernen Planeten und wundert sich. Vielleicht macht er das Gleiche durch wie ich und fühlt sich einfach fremd und anders. Das würde erklären, warum mir manches so unbegreiflich erscheint. Oder das hier ist gar nicht die Erde, sondern ein ganz anderer Planet. Einer, den man auf der Erde noch gar nicht kennt, der noch nicht entdeckt worden ist. Vielleicht bin ich das hochgebeamte Baby … Oder das hier ist doch die Erde und ich gehöre einfach zu einer anderen Spezies. Ich bin vielleicht gar kein Mensch. Immerhin ist die Erde für viele andere Lebewesen ein ganz anderer Ort als für Menschen. Wie wäre es denn zum Beispiel, ein ganz besonders großes Tier zu sein, ein Blauwal, der im Meer schwimmt. Oder ein Vogel, der durch die Lüfte fliegen kann. Oder ein ganz kleines Tier, eine Ameise, für die mein Zimmer hier so groß ist wie ein ganzes Sonnensystem oder wenigstens wie ein Planet. Wie fühlt sich wohl eine Ameise? Ich spüre, wie ich kleiner und kleiner werde. Die Bettdecke ist ein riesiges Meer, und die Falten darin sind gigantische Wellen. Wenn ich in einem Wellental bin, kann ich nichts mehr von meiner Umgebung sehen, nur die nächste große Welle, die auf mich zukommt. Aber dafür bin ich so klein und leicht, dass ich fast überall hinkomme und mich in die kleinste Ritze quetschen kann. Ich kann mich unter der Matratze verstecken. Oder hinter dem Kleiderschrank. Hinter dem Kleiderschrank ist es gar nicht so übel. Hier ist es kühl und dunkel, die Geräusche werden gedämpft. Ich fühle mich geborgen und sicher. Ein Ort der Stille und der Ruhe. Allerdings komme ich nicht so weit, wie ich gerne möchte, denn eine riesige Staubflocke liegt mir im Weg, die unüberwindbar zu sein scheint. Jetzt höre ich doch etwas. Eine Stimme durchdringt die Stille. »Enno?« »Ich bin hier!«, antworte ich der Stimme meiner Mutter. »Enno! Wo bist du?« »Hinter dem Schrank!«, antworte ich so laut ich kann. »ENNO! Antworte bitte, wenn ich dich rufe!« »HINTER DEM SCHRANK!«, schreit die Ameise Enno. Aber die Stimme einer Ameise hört natürlich niemand. Nicht einmal, wenn sie schreit. Dann steht meine Mutter im Türrahmen. »Verdammt, Enno, schläfst du? Ich habe dich tausendmal gerufen! Was machst du denn hier? Bist du krank?« Sie schreitet durch mein Zimmer, zieht mit einem Ruck die Jalousie hoch und legt ihre Hand prüfend auf meine Stirn, um zu sehen, ob ich Fieber habe. Die Sterne verschwinden. Ich öffne mühsam die Augen. »Wir müssen mal hinter dem Kleiderschrank den Staub wegmachen, Mama.« »Wie kommst du denn jetzt darauf?« Beinahe antworte ich, dass es für Ameisen dahinter sonst unmöglich ist, bis ans Ende des Weges zu gehen, weil Staubflocken ihnen den Durchgang versperren wie monströse Felsbrocken. Aber gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, wie meine Mutter immer guckt, wenn ich so etwas sage. Sie reißt dann ihre Augen weit auf und hält die Luft an. Ein bisschen so, als hätte sie Angst vor mir. »Ach, nur so«, sage ich deswegen schnell. Ein bisschen verwundert sieht meine Mutter jetzt trotzdem aus, aber sie sagt nichts, schaut mich nur eine Weile stumm und mit gerunzelter Stirn an. Dann räuspert sie sich und sagt: »Olsen hat angerufen. Er fragt, ob du rüberkommst.« Besuchen Ameisen ihre Freunde? Haben Ameisen überhaupt Freunde? Als ich Olsens Zimmer betrete, sitzt mein Freund auf dem Fußboden vor seinem Bett und tut nichts. Jedenfalls nichts, was ich erkennen könnte. Er starrt einfach nur geradeaus gegen seine Wand, auf der eine Fliege entlangkrabbelt. Vielleicht überlegt er ja gerade, wie es wäre, eine Fliege zu sein? In dieser Hinsicht sind Olsen und ich uns nämlich ziemlich ähnlich. Wir machen uns Gedanken über Dinge, über die andere ihr Leben lang nicht nachdenken. Vielleicht bin ich deshalb froh, dass Olsen mein Nachbar ist und nicht zum Beispiel Luca, der höchstens überlegt, wann das nächste Fußball-Training stattfindet oder wie er seine Mutter überreden kann, ihm neue Schienbeinschoner oder Torwarthandschuhe oder sonst was zu kaufen. »Hi«, sage ich und setze mich neben Olsen. Olsen wendet den Kopf und sieht mich an, als müsste er erst darüber nachdenken, wer ich bin und was ich hier will. »Hi«, sagt er dann. »Was machst du?«, frage ich. »Nichts«, antwortet Olsen, als sei das das Normalste von der Welt. Also nicke ich einfach, als würde ich das verstehen. Verstehe ich ja auch irgendwie. »Und du?«, will Olsen wissen. »Ich denke darüber nach, ob sich Ameisen miteinander verabreden«, antworte ich. Das ist das Komische an Olsen. Ihm kann ich solche Sachen sagen, ohne Angst haben zu müssen, dass er mich für verrückt hält. Tut er auch nicht. Er schaut mich ernst an und sagt dann nach einer Weile: »Ich glaube nicht. Die arbeiten doch immer, halten sich sogar andere Ameisen als Sklaven, die für sie arbeiten oder ihre Kinder großziehen. Die haben für nichts anderes Zeit.« So ist das mit Olsen. Egal, was man ihn fragt, er weiß immer eine Antwort. Olsen ist nämlich besonders schlau. Trotzdem hat er außer mir keinen einzigen Freund, denn die anderen finden ihn alle bescheuert. Das liegt vielleicht daran, dass er in seiner Klasse der Jüngste ist. Olsen ist elf, also genauso alt wie ich, aber er geht schon in die siebte Klasse. Ich bin auch elf, gehe aber erst in die vierte Klasse. Ich bin jetzt vielleicht nicht gerade der Held in meiner Klasse (den Job macht schon Luca), aber immerhin bin ich der Größte, Stärkste und Älteste, und deswegen lassen mich die anderen meistens in Ruhe. Bei Olsen ist das anders. Er ist der Kleinste und der Jüngste, aber Klassenbester, und das finden die anderen eben ziemlich doof. Deswegen tut mir Olsen auch manchmal leid. Andererseits beneide ich ihn darum, dass seine Mama ihn dafür umso mehr lieb hat und ihn ganz toll findet, weil er eben so viel klüger ist als die anderen. Olsen ist halt nicht nur anders, so wie ich, er ist was Besonderes (im Gegensatz zu mir, denn ich bin nur anders, aber nicht besonders). Olsens Mama hält immer zu ihm und sagt ihm, dass er richtig ist, so wie er ist, und dass die anderen das nur nicht verstehen, weil sie nicht so klug sind wie er. Und dass er seinen Weg schon machen wird, wenn er groß ist. Und genau das sagt meine Mama nie zu mir, dass ich meinen Weg schon machen werde, wenn ich groß bin. Meine Mama sagt immer: »Ach, Enno, was soll nur aus dir werden, wenn du groß bist?« Und dann schüttelt sie sorgenvoll den Kopf. Ich stehe auf und gehe zu Olsens Schreibtisch, auf dem ein dicker Stapel Papier mit irgendwelchen total kompliziert aussehenden Rechenformeln liegt. »Was ist das?«, frage ich. »Berechnest du wieder irgendwas? Zum Beispiel wie viel Milliarden Blätter Papier man aus allen Bäumen dieser Erde herstellen könnte? Ich weiß nämlich nicht, ob das so wahnsinnig wichtig ist, dass du deswegen schon mal ungefähr fünfzigtausend Bäume verplemperst.« Olsen grinst. »Das sind nur meine Hausaufgaben.« Ich reiße Mund und Augen auf. »Das sind deine Hausaufgaben? Alter Schwede! Und ich dachte schon, du wolltest mal wieder irgendeinen Preis gewinnen.« Ich lege die Blätter angewidert zurück. »Ich glaube, dann bleibe ich lieber für immer in der vierten Klasse.« Es ist noch gar nicht so lange her, höchstens ein halbes Jahr, da hat Olsen mit einer seiner genialen Berechnungen irgendeinen total wichtigen Wissenschaftspreis abgeräumt. Er hat irgendwie herausgefunden, wie man innerhalb kürzester Zeit die Erderwärmung stoppen könnte oder so ähnlich. Jedenfalls in der Theorie. Tagelang lungerten die Reporter in unserer Straße herum und fragten alles und jeden, der nicht bei drei auf den Bäumen war, Löcher in den Bauch über Olsen Liebherr, das Genie. Am liebsten hätten sie wohl noch von Olsens Katze ein Interview bekommen (aber die war schnell genug auf einem Baum). Irgendwann haben sie sich dann mit einem Foto von Olsen zufriedengegeben, das sie in ihren Zeitungen abdrucken konnten. Ich stand übrigens auch schon mal in der Zeitung. Und zwar, als ich unser Haus beinahe abgefackelt habe. Damals war ich fünf oder sechs und habe meine Sankt-Martins-Laterne hübsch ordentlich in den Kleiderschrank gestellt, bevor ich mich ins Bett gelegt habe. Nur hatte ich...