Franck | Rücken an Rücken | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Franck Rücken an Rücken

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401312-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-10-401312-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Thomas und Ella wachsen verloren im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Nur Dank glücklicher Umstände hatte die jüdische Kommunistin die Nazizeit überlebt. Danach entschied sich die ebenso leidenschaftliche wie schroffe Frau voller Hoffnung für das sozialistische Deutschland. Doch ihr glühendes Engagement für die Gesellschaft fordert Opfer: die Abkehr vom Einzelnen, die Kälte gegen die Nächsten. Sie erkennt Ellas schutzlose Einsamkeit so wenig wie Thomas' melancholische Sehnsucht. Als 1961 die Mauer errichtet wird und Thomas in die unglückliche Liebe zu Marie flieht, kann niemand die Tragödie aufhalten. Julia Franck erzählt von einer großen Liebe ohne Rückhalt und einer Utopie mit tragischem Ausgang, eine Geschichte, die zum Gesellschaftsroman wird.

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt »Der neue Koch«, danach »Liebediener« (1999), »Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen« (2000) und »Lagerfeuer« (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman »Die Mittagsfrau« erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach »Rücken an Rücken« (2011) erschien zuletzt »Welten auseinander« (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: 1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb 1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste 1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen 2000 3sat-Preis in Klagenfurt 2004 Marie Luise Kaschnitz Preis 2005 'Roswitha Preis' der Stadt Bad Gandersheim 2007 Deutscher Buchpreis 2010 war die englische Ausgabe der ?Mittagsfrau? auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ?Jewish Quaterly? sowie für den internationalen IMPAC nominiert. 2022 Schiller-Gedächtnis-Preis
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Schwanken


Das Boot lag im Schilf versteckt; sie hatten es wenige Tage zuvor an der Mole gefunden, es schaukelte auf dem Wasser, der Wind trieb es in die moorige Bucht, zusammen mit Blättern, Zweigen und größeren Ästen, die der Sturm abgebrochen und angeschwemmt hatte. Es war nicht angebunden, offenbar gehörte es niemandem. Im Boot lag ein Riemen, etwas entfernt zwischen den Ästen schwamm ein zweiter.

Über die Treppe zum Hof ließen Thomas und Ella die nötigen Dinge aus dem Haus verschwinden: eine Steppdecke, zwei kleine Töpfe, Kartoffeln, Mohrrüben und einen Kanten Brot. Sie nahmen auch eine Schachtel mit Streichhölzern, etwas Papier und eine leere Weinflasche mit, denn Thomas meinte, sie würden vielleicht eine Flaschenpost schreiben wollen. Zuletzt trugen sie den Gaskocher und eine Taschenlampe durch das Moor, es wurde früh dunkel, Oktober, am Morgen hatte Raureif auf den Halmen und Blättern gelegen. Sie würden frieren.

In den letzten zwei Wochen waren sie allein im Haus gewesen, Käthe arbeitete im Steinbruch. Kurz vor ihrer Abreise war Eduard nach einem Streit verschwunden. Thomas und Ella hatten sich allein versorgt, sie hatten sich Kartoffeln gekocht und Quark mit Wasser, Salz und Schnittlauch verrührt, sie waren zur Schule gegangen, sie waren zehn und elf Jahre alt, sie konnten das. Zu Käthes Rückkehr, am Ende der zwei Wochen, hatten sie nur ein wenig aufräumen wollen, sie hatten das Geschirr abgewaschen, und während Ella noch abtrocknete, hatte Thomas begonnen, den Küchenboden zu schrubben, sie rieben die dunklen Flecken vom Türblatt und polierten die Klinke mit Asche, den Türrahmen wuschen sie mit Seife, den Fußabtreter schlugen sie mit dem Teppichklopfer aus und bürsteten ihn in der Regentonne. Meine Herren, heute sehen Sie mich Klinken abputzen und ich singe ein Lied für jeden.

Lachend hielt sich Thomas immer wieder die Ohren zu, er wollte sie nicht kränken, doch sie traf nur wenige Töne und veränderte die Melodie, wie es ihr einfiel. Der Kronleuchter konnte glänzen, wenn man ihn abrieb. Der Geruch des Messings haftete an den Fingern. Es machte Spaß, sie wollten das Haus so herrichten, wie es noch nie jemand gesehen hatte. Thomas entstaubte die Bücher und Regale mit einem trockenen Tuch, und mit einem feuchten Lappen wischte er nach, er sortierte die Kunstbücher nach Epochen und Größe, die Literatur nach dem Alphabet, die politischen Schriften nach Themen. Mit grollender Stimme, den Feldstecher des verstorbenen Vaters vor Augen, fragte er in die Tiefe des Raumes: Frollein Ella, wünschen Sie eine romantische oder eine abenteuerliche Lektüre aus der schönen Literatur zu leihen? Studieren Sie Trojas Kampf um Helena? Gern fülle ich eine Leihkarte für Sie aus. Ella beachtete ihn nicht, sie lag unter dem Tisch und reinigte mit einem Messer und einem Schwamm die Unterseite, was offensichtlich seit Jahrzehnten niemand getan hatte. Dort klebten hartnäckige Krusten, Spuren von Essen vielleicht, oder Wachs. Das Tischtuch aus italienischem Damast hatte Ella in der Zinkwanne im Garten eingeweicht, es musste gründlich gewaschen werden, Krümel und dunkle Flecken von Saucen und Wein hatten sich über lange Zeit darin eingenistet.

Hätten Ella und Thomas den Hausputz nicht in zwei Tagen bewältigen wollen, es wäre Thomas ein Vergnügen gewesen, Bibliothekar zu spielen; er wollte einen Karteikasten für die Bibliothek und ihre künftigen Nutzer anlegen und Leihkarten für jedes Buch entwerfen. Ella taten die Arme vom ausdauernden Wringen weh, als sie das safrangelbe Tischtuch auf die Leine hängte. Mit einem Zahnstocher und einem Wattebausch bewaffnet kletterte sie dann auf einen Hocker und wollte den Bilderrahmen der sizilianischen Landschaft reinigen. Der kobaltfarbene Himmel leuchtete über dem karstigen Felsen, wo nur Olivenbäume wuchsen. Doch die schimmernde Beschichtung des Rahmens löste sich und verfärbte den Wattebausch dunkel, so dass Ella Angst bekam, sie könnte nicht nur den Schmutz, sondern auch die Farbe ablösen. Selbst den Nähkasten ordnete sie, wickelte Garnrollen auf und Stickfaden um Pappschildchen, sie sortierte die Knöpfe in drei schwarze Schachteln, die Nadeln nach Größe in schmale Briefe. Seit dem Hausmädchen gekündigt worden war, hatte vermutlich niemand mehr außer Ella den Nähkasten benutzt. Sie spielte abwechselnd ihre vornehme Großmutter und deren Näherin, mit gespitztem Mund und der gestelzten Stimme ihrer Großmutter kommentierte Ella die Arbeit, mit deren französischen Worten: Alors, c’est si parfait!

Thomas antwortete im Vorbeigehen: Perfetto. Perfettamente, und sein Ton, bäuerlich und theatralisch, imitierte Käthes Trotz gegen das großbürgerliche Französisch ihrer Mutter.

Jedes Zimmer räumten sie auf, Quadratmeter für Quadratmeter, das gesamte Haus, wie es noch nie aufgeräumt worden war. In der Zinkwanne unter der Ulme hatten sie die Gardinen gewaschen und sie im Garten über der Wäscheleine vom Wind trocknen lassen. Mit dem Bügeleisen plätteten sie die Stoffe, Käthe sollte sich die Augen reiben. Dienstmädchen und Diener waren sie, die sich im Duett wohlwollend und voller Bewunderung für ihre Herrschaft aussprachen. Nur einmal änderte sich der Tenor im Gespräch über die Gutsherrin, weil sie erst kürzlich aus Ärger wegen eines stibitzten Glases Apfelkompott die Hand erhoben und dem Dienstmädchen so heftig eine gescheuert hatte, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Diener und Dienstmädchen wogen Güte und Gewalt ihrer Herrin ab, fegten und wischten dabei die Küche. Den Backofen reinigten sie mit einem Schwamm aus feinen Metalldrähten und verwendeten das Scheuerpulver so großzügig, bis keines mehr in der Schachtel war, die Speisekammer räumten sie auf und fanden in einem Korb voll alter Schuhe ein Nest mit neun winzigen, nackten Mäusen. Das weiche Rosa der Tierchen zitterte im Takt des schnellen Herzschlags, sie quiekten und piepsten nicht, dafür waren sie vielleicht zu jung. Thomas hob den Korb hoch, nahm einen Stiefel heraus und beschaute das Nest. Kleine Nacktmolche, seine Stimme war zärtlich, samten. Ella ekelte sich vor den blinden Tieren. Sie wollte sie nicht sehen. In der Regentonne ertränken wollte Ella sie. Thomas nicht. Wenn er die Jungen in den Keller brachte, würde ihre Mausemutter sie nicht mehr finden und sie müssten elend verenden. Also beschloss der Tierforscher, die Maus in eine Falle zu locken, damit er auch sie lebendig in den Keller schaffen könnte. Er legte ein Stück Käse in den tiefen Topf aus Steingut, darüber schob er ein Brett, das nur einen Spalt Öffnung ließ. Schon am Nachmittag fand er die Maus im Topf, er hörte sie im Innern an den Wänden hochspringen, wieder und wieder rutschte sie ab. Thomas brachte den Topf mit der Maus und den Korb mit ihren Jungen über die Verandatreppe in den Garten und von dort bis vor die Tür des Kohlenkellers. Dicht auf den Fersen folgte ihm Ella, die wusste, dass er nicht in den Keller konnte. Er traute sich nicht ins Dunkel. Er hatte Angst. Er ahnte, wie er Ella überzeugen konnte. Holst du die Kohlen, mache ich deine Matheaufgaben. Holst du die Kohlen, bekommst du geräucherte Sprotten. Holst du die Kohlen und bringst sie bis zum Haselstrauch an der Kellertür, trage ich sie nicht nur die Treppe ins Haus hinauf, ich heize die ganze Woche, ich hacke das Holz.

Bitte, sagte Thomas zu ihr, er übergab ihr den Topf und den Korb, du musst sie nur auf den Boden stellen und das Brett wegnehmen, sie werden schon allein rauskommen.

Was bekomme ich?

Eine Geschichte heute Abend.

Aber sie muss lang sein. Und noch was.

Was?

Das reicht nicht.

Ich trag’ deine Schulmappe, die ganze Woche, versprochen, ich mach’ Mathe für dich, und Deutsch auch.

Na gut. Ella stolperte, den Korb in der Hand und den Topf mit gestreckten Armen von sich fernhaltend, die Stufen in den Keller hinab. Unten schlug sie der Länge nach hin. Er hörte das Piepsen der Maus, der Topf war zerbrochen, allein der Korb mit den Jungen war unversehrt neben Ellas Kopf gelandet. Mühsam stand sie auf, die Hose war gerissen, ihre Knie waren wund, die Hände schwarz und aufgeschürft.

Zögerlich setzte Thomas einen Fuß vor den anderen und stakste auf Zehenspitzen ins Dunkel. Schreck und Angst hoben einander nicht auf, es war gewiss die Kälte, die seine Zähne klappern ließ. Auf der letzten Stufe blieb er stehen und reichte ihr die Hand. Das tut mir leid, er legte einen Arm um ihre Schulter. Dann untersuchte er ihre Knie und zog sie die Treppe hinauf und brachte sie in die Wohnung, wo er ihre Wunden wusch und mit einer Jodtinktur bestrich.

Später hatten Ella und Thomas die Teppiche ausgeklopft und die Böden erst gefegt, dann gewischt und nach dem Trocknen mit Wachs eingerieben, gebürstet und zuletzt mit einem Tuch blankgewichst. Stundenlang hatten sie geputzt und waren weit nach Mitternacht erschöpft ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen standen sie früh auf, draußen war es noch dunkel, ohne Frühstück machten sie sich an die Arbeit. Alle Öfen des Hauses heizten sie ein, selbst den Badeofen, es war möglich, dass Käthe nach ihrer Rückkehr ein heißes Bad nehmen wollte, sie scheuerten die Wanne und wischten die Türen ab, sie hängten die frisch gewaschenen Gardinen vor den geputzten Fenstern auf. Mittags legten sie Kohlen nach, als Heizer brachten sie die Ascheeimer zum Müll und reinigten die Tonne von außen, sie harkten das Laub unter der Ulme, zogen die welken Stängel aus den Beeten und fegten die Treppe von der Veranda in den Garten. Mit einem Federbüschel lief Ella durch das Haus und fing die Spinnweben aus den Ecken, auch die Gemälde entstaubte sie mit den Federn. Etwas gluckste in ihr, als sie sich dem Ölbild mit den Kirschblüten im Wannseegarten näherte. Ein Meisterwerk, nannte Käthe dieses Bild, wenn...


Franck, Julia
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011).
Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Literaturpreise:

1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb
1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste
1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen
2000 3sat-Preis in Klagenfurt
2004 Marie Luise Kaschnitz Preis
2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim
2007 Deutscher Buchpreis
2010 war die englische Ausgabe der ›Mittagsfrau‹ auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ›Jewish Quaterly‹ sowie für den internationalen IMPAC nominiert.

Julia FranckJulia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011).
Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Literaturpreise:

1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb
1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste
1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen
2000 3sat-Preis in Klagenfurt
2004 Marie Luise Kaschnitz Preis
2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim
2007 Deutscher Buchpreis
2010 war die englische Ausgabe der ›Mittagsfrau‹ auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ›Jewish Quaterly‹ sowie für den internationalen IMPAC nominiert.



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