E-Book, Deutsch, 640 Seiten
Fortier Julia
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400656-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 640 Seiten
ISBN: 978-3-10-400656-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anne Fortier wuchs in Dänemark auf, wo sie im Fach Ideengeschichte promovierte. In Amerika lehrte sie Philosophie und Europäische Geschichte an verschiedenen Universitäten. Sie fühlt sich auf beiden Seiten des Atlantiks zu Hause. So, wie Shakespeares Tragödie Vorlage für ihren Bestseller ?Julia? war, macht sie nun Homers ?Ilias? zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans ?Die geheimen Schwestern?.
Weitere Infos & Material
I. I
O wehe, weh mir! Was für Blut befleckt
Die Steine hier an dieses Grabmals Schwelle?
Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich anfangen sollte. Man könnte behaupten, dass meine Geschichte bereits vor über sechshundert Jahren mit einem Straßenraub in der mittelalterlichen Toskana begann – oder erst viel später, mit einem Tanz und einem Kuss im Castello Salimbeni, als meine Eltern sich das erste Mal begegneten. All das jedoch erfuhr ich nur durch ein Ereignis, das mein Leben über Nacht veränderte und mich zwang, nach Italien zu reisen und mich auf die Suche nach der Vergangenheit zu begeben. Besagtes Ereignis war der Tod meiner Großtante Rose.
Umberto brauchte drei Tage, um mich zu finden. Angesichts meiner Begabung in der Kunst des Verschwindens überrascht es mich, dass er es überhaupt schaffte. Wobei Umberto seit jeher die unheimliche Fähigkeit besitzt, meine Gedanken zu lesen und meine Schritte vorherzusagen. Außerdem gibt es in Virginia ja nur eine begrenzte Anzahl von Shakespeare-Sommercamps.
Wie lange er dort an der Rückseite des Raumes stand und der Aufführung zusah, weiß ich nicht. Ich war wie immer hinter der Bühne und zu sehr mit den Kindern beschäftigt – voller Sorge, ob sie ihren Text noch konnten und mit ihren Requisiten zurechtkamen –, so dass ich nichts anderes um mich herum wahrnahm, bis der Vorhang fiel. Nach unserer Generalprobe am Nachmittag hatte jemand das Giftfläschchen verlegt, so dass Romeo nun mangels besserer Alternativen mit Tic-Tacs Selbstmord begehen musste.
»Aber von denen bekomme ich Sodbrennen!«, beschwerte sich der Junge mit der ganzen anklagenden Angst eines Vierzehnjährigen.
»Großartig!«, konterte ich und widerstand dem mütterlichen Drang, die Samtkappe auf seinem Kopf zurechtzurücken. »Dann kannst du dich besser in deine Rolle hineinversetzen.«
Erst, als hinterher das Licht wieder anging und die Kinder mich auf die Bühne zerrten, um mich dort mit Dankbarkeit zu überschütten, bemerkte ich die vertraute Gestalt, die hinten in der Nähe des Ausgangs stand und mich über das applaudierende Publikum hinweg betrachtete. Mit seinem dunklen Anzug und der Krawatte wirkte Umberto so ernst und stattlich, dass er aus der Menge hervorstach wie ein einzelner Halm der Zivilisation aus einem urzeitlichen Sumpf. Das war schon immer so gewesen. Seit ich mich erinnern konnte, hatte er niemals auch nur ein einziges Kleidungsstück getragen, das als leger zu bezeichnen war. Khakishorts und Golfhemden galten bei Umberto als die Bekleidung von Männern, die keinerlei Tugenden mehr besaßen – nicht einmal Schamgefühl.
Als der Ansturm dankbarer Eltern nach einer Weile abebbte und ich endlich die Bühne verlassen konnte, wurde ich noch kurz vom Programmdirektor aufgehalten, der mich an den Schultern packte und herzlich schüttelte. Er kannte mich zu gut, um eine Umarmung zu wagen. »Gut gemacht, Julia«, rief er laut, »Sie haben wirklich ein Händchen für die jungen Leute! Ich darf doch nächsten Sommer wieder mit Ihnen rechnen?«
»Auf jeden Fall«, log ich im Weitergehen. »Ich werde zur Stelle sein.«
Als ich endlich auf Umberto zutrat, suchte ich vergeblich nach dem kleinen Funken Glück, der für gewöhnlich in seinen Augenwinkeln stand, wenn er mich nach langer Zeit wiedersah. Diesmal aber konnte ich nicht einmal die Spur eines Lächelns entdecken. Plötzlich begriff ich, warum er gekommen war. Während ich wortlos in seine Umarmung sank, wünschte ich, es stünde in meiner Macht, die Realität wie eine Sanduhr auf den Kopf zu stellen. Ach, wäre das Leben doch keine endliche Angelegenheit, sondern stattdessen ein ewiger Kreislauf, in den man immer wieder durch ein kleines Loch im Universum zurückkehren könnte.
»Weine nicht, «, flüsterte er in mein Haar hinein, »das hätte sie nicht gewollt. Wir können nicht alle ewig leben. Sie war zweiundachtzig.«
»Ich weiß, aber …« Ich trat einen Schritt zurück und wischte mir die Augen. »War Janice da?«
Wie immer, wenn der Name meiner Zwillingsschwester fiel, verengten sich Umbertos Augen. »Was glaubst du denn?« Erst jetzt aus der Nähe sah ich, dass er angeschlagen und deprimiert wirkte, als hätte er sich die letzten paar Abende in den Schlaf getrunken. Doch vielleicht war das eine ganz normale Reaktion. Was sollte ohne Tante Rose aus Umberto werden? Seit ich denken konnte, waren die beiden einander in einer Notgemeinschaft aus Moneten und Muskeln verbunden gewesen – sie hatte die alternde gespielt, er den geduldigen Butler –, und trotz ihrer Differenzen hatte keiner von beiden je daran gedacht, ein Leben ohne den anderen zu wagen.
Der Lincoln parkte diskret drüben neben der Lagerfeuerstelle, und kein Mensch bekam mit, wie Umberto meinen alten Rucksack in den Kofferraum legte, ehe er mir mit maßvoller Feierlichkeit die hintere Tür aufhielt.
»Ich möchte vorne sitzen. Bitte.«
Unter missbilligendem Kopfschütteln öffnete er mir nun die Beifahrertür. »Ich wusste, dass das alles irgendwann zu Ende gehen würde.«
Dabei hatte es niemals an Tante Rose gelegen, dass ihr Verhältnis so förmlich blieb. Ja, Umberto war ihr Angestellter, aber sie behandelte ihn stets wie ein Familienmitglied. Was von ihm jedoch nie erwidert wurde. Jedes Mal, wenn Tante Rose vorschlug, Umberto solle sich doch zu uns anderen an den Tisch setzen, bedachte er sie bloß mit einem erstaunten, aber nachsichtigen Blick, als würde er sich immer wieder von neuem darüber wundern, wieso sie ihn ständig dazu aufforderte und seine Einstellung zu diesem Thema einfach nicht begriff. Er nahm alle seine Mahlzeiten in der Küche ein. Das war seit jeher so gewesen und würde auch so bleiben. Nicht einmal der Herrgott – der von Tante Rose mit wachsender Verzweiflung beschworen wurde – konnte ihn dazu bringen, sich zu uns zu setzen, auch wenn es sich um Festtage handelte.
Tante Rose entschuldigte Umbertos Eigenheit immer als typisch europäisch und blendete dann geschickt zu einem Vortrag über Tyrannei, Freiheit und Unabhängigkeit über, der unweigerlich darin gipfelte, dass sie mit der Gabel auf uns deutete und fauchte: »Und genau aus diesem Grund werden wir in den Ferien nach Europa fliegen. Vor allem nicht nach Italien. Basta!« Ich persönlich war ziemlich sicher, dass Umberto allein schon deswegen lieber in der Küche speiste, weil er seine eigene Gesellschaft dem, was wir zu bieten hatten, bei weitem vorzog. Während er gemütlich in der Küche saß und seine Opernmusik, seinen Wein und sein perfekt herangereiftes Stück Parmesan genoss, zankten wir – Tante Rose, ich und Janice – im zugigen Speisezimmer frierend vor uns hin. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich ebenfalls den ganzen Tag in der Küche verbracht.
Während wir nun durch das mondhelle Shenandoah Valley fuhren, berichtete mir Umberto von Tante Roses letzten Stunden. Sie war ganz friedlich im Schlaf gestorben, nachdem sie sich einen Abend lang all ihre Lieblingslieder von Dean Martin angehört hatte – eine knisternde Platte nach der anderen. Nachdem der letzte Akkord des letzten Stücks verklungen war, hatte sie sich erhoben und die Verandatür zum Garten geöffnet, vielleicht, weil sie noch einmal den Duft des Geißblatts in sich aufsaugen wollte. Wie Umberto mir erzählte, stand sie dort eine Weile mit geschlossenen Augen, wobei die langen Spitzenvorhänge um ihren dürren Körper flatterten, ohne dabei das geringste Geräusch zu machen – als wäre sie bereits ein Geist.
»Habe ich das Richtige getan?«, fragte sie ihn damals sehr leise.
»Natürlich haben Sie das«, lautete seine diplomatische Antwort.
Erst gegen Mitternacht bogen wir in Tante Roses Zufahrt ein. Umberto hatte mich bereits vorgewarnt, dass Janice am Nachmittag mit einem Taschenrechner und einer Flasche Champagner aus Florida eingetroffen war. Was jedoch nicht erklärte, warum direkt vor dem Eingang ein zweiter Sportwagen parkte.
»Ich hoffe wirklich«, sagte ich, während ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum hievte, ehe Umberto mir zuvorkommen konnte, »dass das der Bestatter ist.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, verzog ich wegen meiner schnodderigen Ausdrucksweise das Gesicht. Eigentlich war es überhaupt nicht meine Art, so daherzureden. Das passierte nur, wenn ich in Hörweite meiner Schwester kam.
Umberto, der nur einen raschen Seitenblick für den mysteriösen Wagen übrig hatte, zog seine Jacke auf eine Art zurecht, wie man es wohl mit einer kugelsicheren Weste tat, ehe man sich ins Kampfgetümmel stürzte. »Ich fürchte, es gibt viele Arten, mit dem Tod umzugehen.«
Sobald wir Tante Roses Haus betreten hatten, begriff ich, was er meinte. All die großen Porträts in der Diele waren abgenommen und standen nun mit dem Rücken zur Wand wie Verbrecher vor einem Erschießungskommando. Die große venezianische Vase, die immer auf dem runden Tisch unter dem Lüster gethront hatte, war bereits verschwunden.
»Hallo?«, rief ich laut, während in mir eine Welle der Wut hochstieg, wie ich sie seit meinem letzten Besuch nicht mehr empfunden hatte. »Noch jemand am Leben?«
In dem stillen Haus hallte meine Stimme ein paar Sekunden lang nach, aber nachdem das Echo verklungen war, hörte ich oben auf dem Gang schnelle Schritte. Trotz dieses kurzen Anfalls von Hektik, den das schlechte Gewissen bei Janice auslöste, ließ sie sich ihren üblichen, wie in Zeitlupe inszenierten Auftritt auf der breiten Treppe keineswegs nehmen. Nach einer kurzen Pause für...