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E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: HarperCollins

Forst Weinbergsommer


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95967-945-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: HarperCollins

ISBN: 978-3-95967-945-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das einzige, was Annikas tristen Joballtag als Altenpflegerin auflockert, sind die heimlichen Pokerrunden mit dem alten, griesgrämigen Hermann. Als dieser einen längst vergessenen Brief seiner Tochter findet, und beschließt, in Paris nach ihr zu suchen, soll Anika ihn begleiten. Spontan türmen die beiden aus dem Altenheim in Richtung Frankreich. Doch unterwegs stranden sie in dem kleinen elsässischen Städtchen Ribeauville in der gemütlichen Pension von Olivier. Bei Wein und Flammkuchen, zwischen Weinbergen und neuen Freunden erscheint ihnen die Weiterfahrt plötzlich gar nicht mehr so erstrebenswert. Dabei ist Anika natürlich klar, dass es völlig absurd ist, von einer Zukunft im Elsass zu träumen - oder?



In Johanna Forsts Grundschulpoesiealbum stand als Traumberuf »Schriftstellerin«, mit dem Schreiben angefangen hat sie aber erst knapp 25 Jahre später. Nach einem literaturwissenschaftlichen Studium unterrichtete sie zunächst im In- und Ausland Deutsch als Fremdsprache, bevor sie sich dem Schreiben von Kurzgeschichten und schließlich Romanen widmete. Die gebürtige Westfälin lebt in Süddeutschland in der Nähe des Elsass, an das sie schon vor vielen Jahren ihr Herz verlor.

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1. Kapitel

Es war Montagmorgen, erst halb sechs, und Anika war schon völlig außer Atem, als sie die Bushaltestelle erreichte.

Mit einem Ruck schnappte ihr die Tür vor der Nase zu.

»Zu spät«, rief der Fahrer durch die geschlossene Scheibe, lachte schadenfroh und setzte den Blinker.

Für einen Fluch fehlte Anika schlichtweg die Luft, also hielt sie sich stattdessen am Haltestellenschild fest und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Der Bus zog an ihr vorbei, von einem Vierersitz aus grinsten sie zwei pubertierende Jungs an.

Wie sehr sie diese Woche jetzt schon hasste.

Der nächste Bus kam in zwanzig Minuten, das würde knapp werden. Andererseits hatte der unfreiwillige Frühsport ihr Adrenalin in die Höhe schießen lassen. Einen Kaffee zum Wachwerden vor Schichtbeginn brauchte sie jetzt nicht mehr, auch wenn sie sich vor zehn Minuten noch wie ein Zombie gefühlt hatte. Frühschichten waren einfach nicht ihr Ding. Anika stellte ihre Handtasche ab und hockte sich daneben auf den Bordstein, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen.

Wenn sie Glück hatte, würde es nicht auffallen, dass sie ein paar Minuten zu spät zur Arbeit im Stift kam.

Wenn sie sehr viel Glück hatte.

Natürlich hatte der nachfolgende Bus dann auch eine Fehlfunktion an der Tür und zehn Minuten Verspätung. Um Viertel nach sechs, fünfzehn Minuten nach offiziellem Arbeitsbeginn, schlich Anika endlich durch den Hintereingang ins Seniorenstift. Vielleicht war der Chefin ihr Fehlen noch nicht aufgefallen.

Der Flur im Erdgeschoss war ruhig, die meisten Türen noch geschlossen. Aus dem Zimmer der früheren Köchin Mathilda Wiercziniak hörte sie die Stimme einer Kollegin, wahrscheinlich bekam die Seniorin gerade ihre Diabetesspritze vor dem Frühstück.

Hermann Büchners Tür stand ebenfalls offen, jedoch war kein Laut zu hören. Anika klopfte und trat ein, es war niemand zu sehen. Aus dem Bad hörte sie die Toilettenspülung. Mit drei Schritten war sie an Herrn Büchners Schreibtisch, um zwei Pokerchips abzulegen – ihr Zeichen, dass sie nach Schichtende etwas länger bleiben würde, um mit ihm eine Runde zu spielen.

Zurück auf dem Flur blickte sie sich um. Beinahe hatte sie es geschafft. Sie hastete den Korridor hinunter und wollte gerade aufatmen, als eine schneidende Stimme hinter ihr erklang.

»Auch endlich da, Frau Wendler?« Da war sie, die Haakhorn, die Oberste Heeresleitung, wie Herr Büchner die Pflegedienstleiterin nannte.

Ertappt blieb Anika stehen und drehte sich um. Ihre Chefin stand im Gang, die Hände in die Hüften gestemmt und schüttelte abschätzig den Kopf. »Montagmorgen und schon die erste Verspätung für diese Woche.«

Weshalb hatte eigentlich jedes Mal die Haakhorn Dienst, wenn Anika ein paar Minuten zu spät kam? Der Name allein ließ schon einen Raubvogel vermuten, und genau so sah die Chefin auch aus: Sie war hochgewachsen und hager, dazu besaß sie ein spitzes Kinn und eine lange Nase. Ihre dünnen graublonden Haare waren zu einem strengen Bob geschnitten.

»Es …«, begann Anika, wurde jedoch durch eine helle Stimme unterbrochen.

»Die Frau Wendler hat sich grad noch schnell um mich kümmern müssen.« Frau Doll, heute ganz in Kanariengelb gekleidet, schob ihren Rollator näher. »Ich hatte Probleme mit meinem … na, Sie wissen schon, da unten.« Sie lächelte schelmisch. »Und da ich die Nachtschwestern bei der Übergabe nicht mehr stören wollte, die Armen, hab ich Frau Wendler hier im Flur abgefangen. Da müssen Sie schon mir den Verweis geben.«

Frau Haakhorn schnaufte.

Anika hielt den Atem an.

Nur Frau Doll lächelte, als gäbe es kein Problem auf dieser Welt, ganz die gütige Großmutter. Gleich kneift sie Frau Haakhorn in die Wange und schickt sie einen Kakao trinken, schoss es Anika durch den Kopf.

»Na gut«, rang die Pflegedienstleiterin sich schließlich ab. Mit einem letzten misstrauischen Blick in Frau Dolls Richtung stapfte sie den Flur hinunter.

»Danke«, flüsterte Anika.

Frau Doll zwinkerte ihr zu.

Dafür würde sie am Nachmittag ein besonders großes Stück Kuchen bekommen, beschloss Anika, dann hastete sie endlich ins Pflegezimmer. Vanessa, die Kollegin von der Nachtschicht, die noch an einem Tisch saß und Notizen nachtrug, sah so übernächtigt aus, wie Anika sich nach jedem Nachtdienst fühlte. Ihre Frühschicht-Kolleginnen waren schon auf der morgendlichen Runde, und im Speisesaal wurde ebenfalls gewerkelt, Kaffeeduft zog sich durch den Korridor.

Vanessa gähnte und stand auf. Während sie nach ihrer Handtasche suchte und sich eine Jeansjacke überwarf, brachte sie Anika noch schnell auf den neuesten Stand. Dann schlüpfte sie in ihre Straßenschuhe, und mit einem weiteren Winken verschwand sie den Gang hinunter in den wohlverdienten Feierabend. Feiermorgen.

Anika machte sich bereit für einen Tag hoffentlich ohne weitere Zwischenfälle. Unter Frau Haakhorns Radar fliegen, lautete die Devise.

*

»Juhu!«, rief es von der Tür aus.

Hermann schloss die Augen und rührte sich nicht.

»Herr Büchner!«

Vielleicht würde sie wieder gehen, wenn er sich tot stellte. Er hörte ihre vorsichtigen Schritte, das leise Quietschen des Rollators.

Er probierte es mit einem kleinen Schnarcher.

»Ich habe die Mau-Mau-Karten mitgebracht.«

Genau das hatte er befürchtet.

Die Doll musste nun an seinem Bett stehen und sich neugierig zu ihm vorbeugen, das spürte er an dem leichten Luftzug, der seine Nase streifte. Sie roch immer nach diesem grauenhaften Parfüm, das sich nicht entscheiden konnte, ob es schwer oder für kleine Mädchen sein wollte.

»Sie haben doch keinen Anfall? Oder einen Herzinfarkt?«

Beinahe wäre er zusammengezuckt, als sie direkt in sein Ohr sprach.

»Ich rufe besser die OHL.«

Mit einem Ruck setzte Hermann sich auf. »Dann mischen Sie halt schon die Karten!« Er funkelte sie böse an. Die OHL, die Oberste Heeresleitung, hatte ihn vor dem Frühstück schon mit Tabletten – und vor allem ihrer Anwesenheit – genervt.

»Gell, das hat Sie schön erschreckt?«, lachte die Doll. Sie trug heute einen gelben Pullover, eine gelbe Hose, selbst an ihren Rollator hatte sie eine gelbe Schleife gebunden.

»Wir befinden uns in geschlossenen Räumen«, kommentierte Hermann ihren, natürlich ebenfalls gelben, Hut.

»Aber nicht mehr lange.« Gut gelaunt wie üblich zwinkerte die Doll ihm zu. Hermann vermutete, ihre penetrant fröhliche Stimmung lag an dem luftleeren Raum zwischen ihren Ohren, da konnte sich die Sonne sammeln oder diese schreckliche Musik, die sie immer hörte. »Bei dem schönen Wetter spielen wir natürlich im Garten.«

Auch das noch. Wo die Sonne ihn blendete und jeden Moment irgendein anderer Heimbewohner sich zu ihnen setzen und mit seinem dummen Geschwätz nerven konnte. Sein Martyrium heute würde ein ganz besonders schreckliches werden.

Seufzend folgte er der Doll und ihrem Rollator, in dessen Körbchen sie die Mau-Mau-Karten und zwei Flaschen Piccolo liegen hatte.

Ein ordentlicher Scotch wäre ihm lieber gewesen, aber den hatte ihm die Haakhorn schon vor Monaten abgenommen. Vor drei Wochen hatte sie dann seine Notfall-Reserve einkassiert, und gestern war er nicht schnell genug gewesen, sodass er nun auch keine Notfall-Notfall-Reserve mehr besaß.

Die Schwelle der Terrassentür zu überwinden, war für Frau Doll mit ihrem Rollator etwas umständlich.

»Könnten Sie mir kurz helfen?«, schnaufte sie.

Hermann nahm die beiden Piccolos aus dem Korb, die mussten nicht noch mehr durchgeschüttelt werden.

»Sie haben die Prioritäten im Blick.« Mit Anstrengung gab sie ihrem Rollator einen kleinen Schubs, sodass sie es schließlich nach draußen schaffte.

»Ich habe nur Vertrauen in Ihre Fähigkeiten.« Hermann folgte ihr auf die Terrasse.

Die Doll ließ sich am ersten Gartentisch in einen Stuhl fallen. »Ist es nicht wunderbar hier? Wie die Vögel singen und die Bienen summen …«

Und wie Frau Meyerhof hustete, der Böhnisch schmatzte und es überall schon nach dem widerwärtigen Mittagessen roch!

Hermann verzog den Mund.

Frau Doll schob ihren Rollator ein Stück zur Seite und begann damit, die Karten zu mischen.

Mit grimmiger Miene setzte er sich ihr gegenüber. Hoffentlich ging es heute wenigstens schnell. Vielleicht kam ein Sohn zu Besuch oder ein Enkel. Davon besaß die Doll jede Menge.

»Wie haben Sie denn wieder gemischt?«, meckerte Hermann beim Anblick seiner Karten.

»Absichtlich schlecht, um Ihnen eine Ausrede zu geben, wenn Sie verlieren. Es liegt immer an der Badehose, wenn man nicht schwimmen kann.«

Na warte, dachte Hermann. Er war in seiner Pokerrunde nicht umsonst unbesiegbar gewesen.

Während Frau Doll die Piccolos köpfte – endlich tat sie mal etwas Sinnvolles –, legte er eine Pik Acht und dann eine Pik Sieben. Der würde er zeigen, was eine Mau-Mau-Harke war.

»Was machen Sie denn da?«

Die schrille Stimme der Obersten Heeresleitung durchbrach ihr trautes Spiel. Hermann hatte gerade zum dritten Mal gegen die Doll verloren, und er vermutete, sie schummelte. Wahrscheinlich hatte sie die Siebenen und Achten irgendwo in den Untiefen ihrer sehr gelben Ärmel versteckt.

Er legte die Karten hin und sah die Haakhorn an, die seine leere Sektflasche an sich riss. »Sie sollen doch keinen Alkohol trinken, Herr Büchner, das wissen Sie ganz...



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