E-Book, Deutsch, 438 Seiten
Földényi Melancholie
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95757-896-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 438 Seiten
ISBN: 978-3-95757-896-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
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László F. Földényi, geb. 1952 in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Gerd Bergfleth, geboren 1936 in Dithmarschen, studierte von 1956 bis 1964 Philosophie, Literaturwissenschaft und Gräzistik in Kiel, Heidelberg und Tübingen, wo er heute lebt, seit 1971 als freier Schriftsteller und Übersetzer. Seit 1975 ist er Herausgeber des theoretischen Werks von Georges Bataille, das er größtenteils auch übersetzt und ausführlich kommentiert hat. Er verfasste zudem zahlreiche Aufsätze, Vorträge und Fragmentsammlungen, die teilweise der 'Tübinger Vernunftkritik' zuzuordnen sind und sich u. a. Marx, Nietzsche und Heidegger, Blanchot, Klossowski, Cioran und Baudrillard widmen.
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DIE EINGEWEIHTEN
»Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«1 Dieser Satz, mit dem der 30. Abschnitt der in der Schule des Aristoteles zusammengestellten beginnt, scheint an den Anfang unseres Gedankengangs zu gehören, und an seiner Gültigkeit hat er bis in die heutige Zeit nichts eingebüßt. Und obzwar er aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder jenes Theophrast von Eresos stammt, der nach Diogenes Laertios das erste, jedoch verschollene Buch über die Melancholie geschrieben haben soll, hielt die Allgemeinheit seit der Antike daran fest, die Autorschaft Aristoteles zuzuschreiben. Bleiben auch wir dabei. Die Begriffe der »herausragenden Persönlichkeit«, der »Außerordentlichkeit« und der »Melancholie« werden hier zum ersten Mal, was zunächst erstaunlich wirken kann, miteinander verwoben und in Zusammenhang gebracht. Die Melancholie, wortwörtlich die schwarze Galle (), war im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Charakteristikum des Körpers; die Vorzüglichkeit eines Philosophen, Politikers oder Künstlers liegt aber im Geiste, und dies beides, die Zweiheit von Körper und Seele, lässt sich der neueren Anschauung gemäß höchstens mithilfe einer Metapher verbinden und zusammenziehen. Diese Metapher aber fehlt: Die Entsprechung ist bei Aristoteles nämlich direkt; aus diesem Grunde müssen wir versuchen, eine innere Beziehung der beiden Begriffe herauszuarbeiten. Die Begriffe der herausragenden Persönlichkeit und der Außerordentlichkeit sollten auf ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückgeführt werden. (Das Verb drückt nicht nur Reichhaltigkeit, sondern auch Überfluss an etwas aus.) Wer herausragend, außerordentlich ist, verfügt über etwas, woran es den anderen fehlt: Er ist im Besitz nichtalltäglicher Eigenschaften. Und da das »Herausragen« gleichermaßen körperliches Überragen wie auch geistige Überlegenheit bedeuten kann, ist die Frage, ob wir es als ein geistiges oder als physisches Charakteristikum betrachten, zweitrangig. (Die geistigen Folgen einer körperlichen Veränderung zeigen, dass die Außerordentlichkeit nicht nur auf das eine oder andere beschränkt werden kann.) Wer herausragend ist, sei er es als Dichter, Philosoph, Politiker oder Künstler, ist es nicht nur geistig, sondern dieses sein geistiges Herausragen ist selbst die Folge einer sich in der Tiefe vollziehenden und selbstverständlich nicht nur rein körperlichen bzw. geistigen Veränderung: Wir müssen darin die eigentümliche Beziehung des Menschen zum Leben, besser gesagt, zu seinem eigenen persönlichen Schicksal bemerken. Entscheidend ist dabei das entschiedene Sich-dem-Schicksal-Entgegenstellen, das Aufsichnehmen des Schicksals und seine gnadenlose Verwirklichung. Dies folgt aus der Einsicht, dass das Leben, dessen geistige und körperliche Merkmale zweitrangig und schwer voneinander abgrenzbar sind (wie viele sterben an ihrer Außerordentlichkeit, und wie viele große Geister gehen an irgendeinem körperlichen Gebrechen zugrunde, wie wir zu sagen pflegen, obwohl wir genau spüren, dass es sich jeweils nicht nur um den Körper bzw. nur um den Geist handeln kann), unvergleichlich ist ( bedeutet in der griechischen Arithmetik so viel wie ungerade). Wer herausragend ist, hat seine Außerordentlichkeit der Einmaligkeit des Lebens (seiner Unteilbarkeit und der Unmöglichkeit, es zu vervielfachen) zu verdanken; daher scheint es verständlich, dass dieses eigentümliche Geschenk nicht Frohsinn, auch nicht vertrauensvolle Hoffnung, sondern Melancholie hervorruft. Dadurch wird der scheinbare Widerspruch des aristotelischen Satzes gewissermaßen gedämpft. Doch wie steht es mit der Melancholie, der schwarzen Galle? Selbst eine nur oberflächliche Kenntnis der griechischen Kultur reicht aus, um sagen zu können, dass die Trennung der vergangenen 2 000 Jahre von Körper und Seele, von Geist und Materie in zwei Bereiche, ihr weder als Erfahrung noch als Einsicht bekannt war, dass sie somit die körperlichen Eigentümlichkeiten der schwarzen Galle nicht ausschließlich als körperliches Merkmal betrachtete, sondern sie in die geistige Welt und damit in die Beurteilung des Ganzen des Kosmos hinüberhob; sie hatte solcherart jene Zweiheit, die wir als den Gegensatz von geistigem Herausragen und der für den Körper bezeichnenden schwarzen Galle kennengelernt haben, nicht nur nicht vollendet, sondern von vornherein auch niemals erfahren. Die begriffliche Entfaltung der Melancholie, der schwarzen Galle, verschafft uns tieferen Einblick in diese Anschauung.
Auf erste Spuren eines Zusammenhangs zwischen Galle und Geist (Gemüt) stoßen wir bei Homer, der zwar die schwarze Galle als solche nicht erwähnt, jedoch die schwarze Farbe mit der Vernebelung des Gemüts in Zusammenhang bringt. »Das finstere Herz« des wütenden Agamemnon, »von der Galle schwarz umströmt«,2 ist, obschon unausgesprochen, genauso eine Folge der Veränderung der Galle wie seines Grolls wegen der Weissagung von Kalchas. Zusammen spielen die Galle und die schwarze Farbe erst in Sophokles’ Tragödie eine Rolle: die »gallichtschwarze Brut«3 des Lernadrachen, die den Pfeil getränkt hat, ist nach den Worten des Dichters giftig (der schwarze Saft, auf griechisch wörtlich ). Somit hielt der Dramatiker, der als Priester zugleich Arzt war, die schwarze Galle für einen schädlichen Saft, nämlich für ein Gift des Körpers. Die Beschreibung und die Beurteilung dieses Giftes, der schwarzen Galle, wird an den Namen des Hippokrates (Ende des 5. Jahrhunderts) geknüpft. »Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, und diese Säfte machen die Natur (Konstitution) seines Körpers aus, und wegen dieser (Säfte) ist er krank oder gesund.«4 Hippokrates führte die Krankheit namens Melancholie zunächst auf ein Sichverfärben der Galle ins Schwarze zurück ( ist eine Krankheit des durch die Galle bestimmten Typs – ), nicht direkt auf die schwarze Galle wie in seinen späteren Schriften. Wenn das Verhältnis bei der Mischung der Säfte nicht ausgewogen ist, wähnte er, nachdem er den Begriff der schwarzen Galle eingeführt hatte, bzw. wenn sich einer der Säfte nicht mit den anderen entsprechend vermengt, dann wird der Körper krank. Die Konstitution des menschlichen Körpers hängt von diesem Verhältnis ab, und so bezeichneten die Griechen Beschaffenheit und Vermengung mit ein und demselben Wort: . Die kosmozentrische Anschauung der Griechen betrachtete den Menschen als organischen Bestandteil des Alls, sie stellte ihn nicht diesem gegenüber. Die Vermengung, deren Begriff sich ursprünglich auf eine Verbindung der Bestandteile bezog, ist für alles verantwortlich: ebenso für den Zustand des Kosmos wie für den des Menschen, also sowohl für seine Gestalt als auch seinen Charakter, und, wie bald Ptolemäus im ausführen wird, auch für jene Kraft, durch die die Sterne beeinflusst werden. Hippokrates selbst befasst sich auffallend wenig mit der Geistigkeit der Gestalt, er wendet seine Aufmerksamkeit eher den körperlichen Komponenten zu – doch trägt jene Anschauung, die sich zur Einheit von Körperzustand und Kosmos bekennt, unausgesprochen auch die Einheit von Körper und Geist in sich. Die Melancholie, sagt Hippokrates, ist eine Krankheit des Körpers: Der dickflüssige Saft der schwarzen Galle erlangt im Verhältnis zu den anderen, dominierenden Körpersäften Dominanz und kann, da das Blut somit vergiftet ist, nun verschiedene Krankheiten, von den Kopfschmerzen über Bauch- und Leberbeschwerden bis hin zur Lepra, erzeugen. Das Blut aber ist die Wiege der Vernunft, des Geistes, so Hippokrates, und daraus lassen sich die geistigen Folgen der das Blut vergiftenden Galle erklären. Die schwarze Galle ist demnach nicht an sich schon eine Krankheit, sondern wird erst durch das schlechte Verhältnis der Mischung dazu. Die sich in erster Linie auf einen geistigen Zustand beziehende...