Flöss Schnittbögen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-7737-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7737-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Liebesgeschichten, in ein dichtes Netz von Politik, Krieg, Alltagsereignissen und Bräuchen in einer Kleinstadt und am Dorf verwoben, wie die Punkte, Striche und Linien der Schnittmuster, auf die die Schneiderin Elsa ihre Notizen schreibt. Verwoben auch in die Briefe, die Matti seiner Verlobten Olga schreibt, zuerst aus Berlin, später von der russischen Front.
Schauplätze der Geschichte: eine Kleinstadt und ein Dorf in Südtirol. Zeitlicher Hintergrund sind die dreißiger und vierziger Jahre: Südtirol unter Mussolini, die Südtiroler im Dilemma zwischen Auswandern und Dableiben, der Terror von NS-Dorfgrößen nach dem Einmarsch der Deutschen 1943, Desertion, Sippenhaftung, Ernüchterung. Kaum je wurde über dieses Stück Zeitgeschichte so knapp und doch so eindringlich geschrieben.
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Berlin, 4. Jänner 1941. ... Hier im „Hegelhaus“ ist es jetzt lebendiger geworden und ich bin wieder besserer Laune. Es ist eine große Gruppe Studenten zu diesem Matura=Kurs gekommen. Ein Brunecker ist auch darunter ... Weißt Du, wenn ich allein bin, mache ich mir tausend Gedanken, ich spüre Heimweh und alles verdrießt mich. Am Abend finde ich keinen Schlaf. Ich meine, das macht die zuviele freie Zeit ... Mit meinem Bruder Jan bin ich so alle vierzehn Tage einmal beisammen. Von daheim bekomme ich viel Post. Meine Schwester Zilia schreibt nur auf italienisch; macht nichts, ich lese ja italienisch genauso gern ... Ja, ja, die Ladiner ... für die Faschisten sind die Ladiner seit jeher halbe Walsche gewesen. Eine Woche nach Dreikönig hat der Vater den neuen Gesellen eingestellt. Jetzt hole ich mir noch einen Badioten ins Haus, hat er gesagt. Die Mamma hat immer dann ladinisch mit dem Mati geredet, wenn der Vater sie nicht gehört hat. Ein schneidiger Bursch ist er gewesen und ein feiner dazu. Bevor er sich selbst bedient hat, hat er bei Tisch die Suppe in meinen Teller geschöpft. Das war bisher noch keinem Lehrbuben und keinem Gesellen eingefallen. Die Mamma ist mit dem Mati wie mit ihrem eigenen Buben umgegangen. Der Vater ist reserviert geblieben. Er hat überhaupt vor allen gern den Meister herausgekehrt, ist schroff zu den Leuten gewesen. Schlecht gezahlt hat er auch. Verliebt? Ich weiß nicht, Elsa, ob ich in den Mati verliebt gewesen bin. Er in mich schon. Einmal sind wir in die Fischzucht hinuntergegangen, auf den Eislaufplatz vom Unterfrauner Oskar, du weißt ja. Da hat mir der Mati etwas Warmes zu trinken gekauft. Es hat Musik aus einem Grammophon gegeben, und der Mati ist mit mir Schlittschuh gelaufen. Ja, ein paar Mal sind wir noch auf den zugefrorenen Eisack gegangen, weil wir da allein gewesen sind. Zum Rodeln ist es nicht gekommen. Schnee ist in diesem Winter ’39 keiner mehr gefallen. Enttäuscht bin ich schon gewesen, wie der Mati nach Berlin gegangen ist. Die Seinen haben alle für Deutschland gestimmt. Ausgewandert sind sie nur zu dritt, Mati, Jan und Sefl. So ist es überhaupt gewesen im Tal. Ein Drittel der Badioten hat für Deutschland optiert, ein Drittel der Optanten ist dann auch wirklich gegangen. Sobald er es zu etwas gebracht hat, holt er mich, hat er versprochen. Dafür habe ich dich nicht in die Avviamento geschickt, daß du doch wieder nur einem Gesellen Seine wirst, hat der Vater gesagt. Daß es den Habenichtsen ein Leichtes sei, zu gehen, hat nicht nur er behauptet. Um dieses mindere Mischbrot zu backen, müssen wir niemanden anstellen, hat er gemeint und sich nach keinem Gesellen mehr umgeschaut. In Berlin hat es Bäcker genug gegeben, und der Mati hat einen Hausmeisterposten bekommen. Das „Hegelhaus“ ist so etwas wie ein Internat gewesen, in dem Studenten gewohnt haben, die zu strammen Deutschen ausgebildet worden sind. Stramme Offiziere, stramme Lehrer. Der Mati wäre auch immer gern ein Student gewesen, aber sein Vater hat das Kostgeld im Vinzentinum nicht zahlen können. Neun Geschwister sind sie beim Mati daheim gewesen. In den Dreißigerjahren hat sein Vater alles verloren, was er zu verlieren gehabt hat; das Wirtshaus, den Laden, das Holz, das er schlägern mußte und das keinen Wert mehr gehabt hat im Verkauf. Die Felder hat er versteigert. Die „schöne Krämerin“ ist eine Kleinhäuslerin geworden. Matis Mutter hat auf dem Stegener Markt ein Standl gehabt. Was man bei ihr erworben hat, das hat man der schönen Krämerin abgekauft. Aber warmherzig muß sie auch gewesen sein, nicht nur schön. Was hat der Mati diese Umma geliebt ... Geküßt und umarmt hat er sie. Das hat es sonst nicht gegeben. Bauern sind nicht zärtlich. Bauern schreiben auch keine Briefe. Aber ihre Feldpost ist ein Stoß gewesen, nicht viel kleiner als der meine. Sie hat Socken gestrickt mit diesem Spiel aus fünf dünnen, kurzen Nadeln. Flink. Wenn sich ihre Ränder am Augenlid mit Wasser gefüllt haben, hat sie auf ihr Strickzeug hinuntergeschaut. Da hat sie schon nur mehr die Briefe gehabt ... Was glaubst du denn, so viel Zeit habe ich gar nicht gehabt, als daß ich lange um den Mati hätte weinen können. Zwischen Backstube, Wiesen und Äckern in Villanders und Sarns hat wenig Sinnieren Patz gehabt. MIT „NEUJAHR 1941“ ist die erste Rolle meiner Zuschneidepapiere überschrieben. Blaues Tüllband rundum. Da bin ich gerade siebzehn und im letzten Jahr meiner Schneiderlehre. Daheim im Wirtshaus ist nicht viel los. Seit Krieg ist, ist nie mehr viel los. Und Weihnachten ist auch im Frieden eine tote Zeit. Betritt am Christtag zu Mittag ein Fremder die Stube, stirbt im kommenden Jahr einer aus dem Haus, heißt es. 1941 stirbt in vielen Häusern jemand. An den Bakelitkasten auf der Stellage geht nur Vater. Er schaltet ein und aus, laut oder leise. Ist die Wirtsstube leer, spielt er sein Programm, stellt auf sehr leise und hört den Feindsender. Seit drei Jahren hat der Sternwirt einen anderen Namen. Die Dableiber, sagen die, die für Deutschland gestimmt haben, die Dableiber trinken dem walschen Wirt seinen walschen Wein. Der Sternwirt lebt von der bischöflichen Kurie, heißt es in der Stadt auch, eine sichere Kundschaft. Vor der Wahl – mein Gott, was ist das für eine Wahl, wenn einer nicht einmal weiß, welches das kleinere Übel ist – vor der Wahl zeigt man sich im schwarzen Hemd und streckt vor den walschen Beamten die Rechte mit dem eisernen Ring aus. Nach der Wahl hält man Walsche und Deutsche leichter auseinander. Viele Walsche aber wissen nicht einmal, wie sie zu solchen geworden sind. „Der Faschismus hat den Model für den Hitler geschnitzt“, sagt der Sternwirt. Meine Schneidermeisterin ist eine Nazi, weil ihr Sepp einer ist. Dem Vater verschweige ich, daß der Mann der Meisterin zur AdO gehört. Die Schneiderlehre habe ich gegen seinen Willen durchgesetzt. „Und was werde ich“, frage ich, als Richard, mein älterer Bruder, ins Vinzentinum aufs Gymnasium kommt. „Du wirst schön, Kind, das reicht für eine Frau.“ Ich bin die jüngste in der Schneiderei. Die Meisterin sagt, ich sei gut fürs Geschäft. Der Mann der Meisterin bringt deutsche Soldaten ins Haus und heimische Nazigrößen. Die Meisterin tischt groß auf. Sie handelt sich von den Bäuerinnen der Umgebung Butter und Speck ein. Und die Geschäftsfrauen aus der Stadt brechen für ein neues Kostüm ihre geheimen Vorräte an. Der Mann der Meisterin gönnt dem schneidigen männlichen Besuch auch die Freundlichkeit der Schneidergehilfinnen. Frau Pichler schimpft mit den Mädchen in der Schneiderei. Mit mir schimpft sie nie. Was sich so tut um mich herum, schreibe ich im Bett auf ausgediente Papierschnitte. „Daß mir auch nie eine Jungfrau unterkommt ...“ Herr Pichler breitet gern seine Liebesabenteuer aus. Es schert ihn nicht, daß seine Frau mithört oder zuschaut, wenn er den Lehrmädchen an den Busen greift. „Herr Pichler, bitte!“ Ohne Kopftuch darf in der Schneiderei niemand an den Bügeltisch. Die Stoffe haben Kriegsqualität. Die Meisterin behauptet, der stinkende Nebel, der unter dem Eisen herausdampft, sei Schuld daran, daß zwischen ihren eingedrehten Locken weißliche Löcher durchschimmern. „Sie werden Judenhäute in die Webe einarbeiten.“ „Ach, du mit deinen geschmacklosen Witzen, Sepp.“ Nach der Arbeitswoche nehme ich Stoffreste mit nach Hause und nähe in der freien Zeit, die in der Wirtsstube zwischen einem Achtel und dem anderen bleibt. Vater ist seit einem halben Jahr tot. Mutter läßt als Witwe den Betrieb nicht verkommen. Sie hat schon zu Vaters Lebzeiten das Sagen im Haus gehabt. Richards Militärdienst als Dableiber dauert sieben Monate. Die gleichaltrigen Optanten in der Gaststube schimpfen ihn einen Walschen und einen Davonstehler. „Buona notte, walscher Totte!“ rufen die Kinder über den Domplatz. „Buona sera, walscher Plärra“, kommt es zurück. Großmutter steht seit drei Monaten nicht mehr vom Bett auf. Sie hat schweres Asthma und einen Roßhaarkeil im Rücken. „Solange die Augen mittun“, sagt sie und liest ein Buch nach dem anderen. Die bringen der Dompfarrer und der Herr Professor aus dem Vinzentinum. Sie hat mich gern neben sich. „Mein schöner Trost“, sagt sie. Bis zur Sperrstunde hängt ein dumpfes Geraune über der Gaststube. Ab und zu dreht ein später Trinker sein Ohr zum Deckengetäfel und schüttelt den Kopf. Er hört der Sternwirtin lesende Altstimme. Es ist wie Rosenkranzbeten oder die Heiligenlitanei. Ich zeichne und nähe neben der Großmutter, fädle die winzigen Modellkleider mit zwei Ösen an den Schulterstücken auf eine Schnur, die quer durchs Zimmer geht. An jedem ersten Freitag im Monat beichtet die Großmutter, an jedem Sonntag geht sie zur Kommunion. Was beichtet jemand, der...