Flöss | Löwen im Holz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Flöss Löwen im Holz

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-7735-4
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7735-4
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sechs Jahre wartete die Lena auf ihren Fidl, der 1915 in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Seine Briefe und die Erzählungen ihrer Großmutter verdichtet die Autorin zu einem Panorama unterschiedlichster Gefühle und Ereignisse. Was Krieg, Kampf und das massenhafte Sterben für den einzelnen Soldaten bedeutet, wie Tiroler bei ukrainischen Bauern arbeiten und russische Gefangene beim Grödner Bahnbau helfen, warum ein Welschtiroler zuerst für den österreichischen Kaiser und dann für Italien kämpfen muß, Helene Flöss weiß es anschaulich und spannend niederzuschreiben, wobei nicht nur die große Politik eine Rolle spielt, sondern vor allem Traditionen und Lebensart der kleinen Leute, die ihre Folgen tragen müssen. Bevor Lena stirbt, hinterläßt sie ihrer Enkelin die Gewißheit, daß es mit dem Sterben wie mit dem Einschlafen sei: man merke den Augenblick nicht, in dem man vom einen Zustand in den anderen tritt. Man wache eben dann in einer anderen Welt auf. Es ist auch eine andere Welt, von der sich 'das Kind' im Roman von der 'Großmutter' erzählen läßt. Es ist eine vergangene Welt, mit der uns aber immer noch viel und Entscheidendes verbindet. Es ist nicht Nostalgie, die Helene Flöss bewegt, sondern der Wunsch zu verstehen, wie alles geworden ist. Daß darüber ein Hauch Wehmut weht, wen wundert's?

Helene Flöss, geboren 1954 in Brixen, Südtirol, lebt seit 1991 im Burgenland. Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und im Rundfunk. Bei Haymon: Nasses Gras. Erzählungen (1990), Spurensuche. Erzählungen (1992), Briefschaften. Roman (gemeinsam mit Walter Schlorhaufer, 1994), Dürre Jahre. Erzählung (1998), Schnittbögen. Roman (2000), Löwen im Holz. Roman (2003). Brüchige Ufer. Roman (2005), Der Hungermaler. Erzählung (2007).
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Unzählige Male wiederholte Geschichte, beharrlich, ausdauernd, in der immer gleichen Wahl der Worte, im immer gleichen Ablauf der Handlung, der Personen, des Ausgangs.

Die heimliche Hoffnung des Kindes, diesmal, vielleicht bleibt diesmal der mittlere der drei Soldaten nicht im Krieg.

Der hölzerne Stuhl mit den gedrechselten Beinen, mit der geschnitzten Lehne, der ausgekerbten Löwenmähne, leicht nach hinten geneigt, das obere Ende abgerundet, dunkles Holz; in der Mitte der Lehne eine Aussparung. Die Aussparung ist ein Löwenmaul. Da hinein steckt man die flache Hand, um den Stuhl zu verschieben, ihn aufzuheben.

Die Angst des Kindes vor diesem Löwenkopf, dem Löwenmaul; das Sitzen auf dem äußeren Rand, aufrecht. Die Füße baumeln über dem Boden. Kein Anlehnen, keine Berührung der Schulterblätter mit diesem aufgerissenen Maul.

Onkel Lenz steht vom Stuhl auf, gebückt langt er mit der Rechten in den Rücken. Seine behaarte, langfingrige Hand packt die Luft, gleicht einer Spinne, die das Löwenmaul demnächst verschlingen wird.

Die hohen Betten in Großmutters Schlafzimmer, schwer, mit dicken Matratzen und metallenen Federn. Der Genuß, in der Sommerfrische auf Großmutters leerer Ehebettseite schlafen zu dürfen. Und neben dem Bett zwei dieser geschnitzten Stühle. Abend für Abend an die freie Bettkante des Kindes geschoben. Auf daß es nicht herausfalle. Auf daß die Löwen die Träume des Kindes bewachten.

Das Kind fällt in all den Sommern kein einziges Mal aus dem Bett, weil es sich weit in die Bettmitte hineinlegt. Weil es sich auch im Schlaf vor den hölzernen Wächtern fürchtet.

Drei Generationen von Kindern haben sie schon bewacht. Einmal wird das Kind von seiner Mutter einen dieser Stühle erben. Den Stuhl der Mutter der Mutter.

Das Kind greift an die vordere Kante des Sitzes und zieht den Stuhl nahe an die Wand heran. Die Wand mit den drei Tafeln. Silbergrau gerahmte, vergrößerte Photographien dreier Soldaten. Alle drei mit derselben schiffchenförmigen Kappe. Alle drei mit denselben schlecht erkennbaren Zeichen auf den Schultern. Alle drei in Brusthöhe abgeschnitten, alle drei ernst, alle drei mit demselben Vornamen, demselben Nachnamen, alle drei tot, gefallen; zwei an der Ostfront, einer am Balkan.

Der Mittige trägt eine Nickelbrille. Der Mittige der drei Soldaten ist Onkel Clemens. Clemens Federspiel, Student.

„Unteroffizier“, sagt die Großmutter.

Seitlich, wie rechter und linker Schächer, Clemens Federspiel, Eichholz. Clemens Federspiel, Kronenwirt. Sie gehören zusammen, die drei Vettern.

Das Kind steht auf dem Stuhl, damit es den Bildern ganz nahe ist.

„Der Fidl“, sagt die Großmutter, „ist schwer über die Stiege heraufgestapft, langsam. Er ist immer schwer und langsam über die Stiege gegangen, der Fidl mit seinem Asthma.“

Sie hat die Krapfen im heißen Fett, ruft aus der Küche, komm, Fidl, es gibt Krapfen.

Sie hat ihn heute nicht aus der Gemeindestube abgeholt. Krapfen sind nur dann köstlich, wenn der Esser auf den Krapfen wartet, nicht umgekehrt. Gewöhnlich geht sie am mittleren Vormittag mit einer entkernten, halbierten Birne über den Dorfplatz in Fidls Schreibstube. Gemeindeschreiber ist ihr Fidl, ein Hungerleiderberuf.

Die Lona ist ans Sparen gewöhnt. Seit sie mit dem Fidl verheiratet ist, kennt sie die Not. Nicht die ganz große, nicht den Hunger, aber die Knappheit. Und doch findet sie immer etwas, was ihren Fidl freut. Wenn es nicht die vollkommenste Birne ist, dann ein paar Nüsse oder Dörrzwetschgen. Die Birne reibt sie mit einem leinenen Tuch ab, bis die Schale glänzt, legt die Frucht für ihren Fidl auf einen ihrer schönen Teller.

Noch nie hat es in der Gemeindestube von Innerwiesen so viel Schreibarbeit gegeben. Einberufungen müssen über den Tisch des Fidl, Urlaubsbescheinigungen, Gefallenenmeldungen, Vermißtenanzeigen; dazu noch die Anträge derer, die sich zur Umsiedlung nach Deutschland entschlossen haben, auch die Gesuche der Rückwanderer in dieser bewegten Zeit.

Eine Handschrift wie ein Studierter, heißt es im Dorf. Das wäre er gern geworden, der Fidl, ein Studierter. Es ist bei der schönen Handschrift geblieben.

Der Fidl steht in der Küchentür, atmet schwer. „Wir brauchen heute keine Krapfen, Lona“, sagt er.

Die Lona bekreuzigt sich. „Jessis Marria.“ Sie weiß Bescheid.

Vor zwei Jahren die Nachricht auf Fidls Schreibtisch. Da sitzt er noch in Moosbruck, im Amt für Aus- und Rückwanderer, in der Zweigstelle des Kreises 3. . Es ist der Sohn von Fidls ältestem Bruder. Sein eigener Sohn ist es nicht. Noch nicht. Was ist das für ein Trost.

Die zweite Nachricht ein Jahr später. . Herzrasen. Der zweite Clemens Federspiel. Es ist der Sohn von Fidls zweitältestem Bruder. Sein eigener Sohn ist es nicht. Noch nicht. Was ist das für ein Aufschub.

Die dritte Nachricht. . Das wäre nicht nötig gewesen: . Es gibt nur mehr diesen einen Clemens Federspiel, seinen Sohn.

Wie lang der Weg bis zum Festenegg ist. Wie steil der Hügel, auf dem der Hof thront. Der Fels ist ein gutes Fundament für das mächtige Anwesen. Noch nie ist ihm der Aufstieg derart schwer angekommen. Wie feindlich die Mauer mit den zwei Toren mit einem Mal ausschaut. Und der Fidl trägt das Unglück hinein.

Jetzt müßte ihn die Lona doch schon hören, ihm entgegengehen. Wie immer ist die außenliegende Stiege blitzblank, als könnte es gar nicht hineinregnen und hineinwinden unter das Vordach bis auf die Stufen.

Was dieser Mensch für einen Beruf hat! Schreiber von Gefallenenmeldungen … Wie viele Briefvorlagen hat er zur Auswahl …, eine erlesene Handschrift: , woher hat er das. …, woher weiß er das.

Die Großmutter hebt das Kind vom Stuhl, weg von diesen drei Tafeln. Aber noch ist die Geschichte nicht zu Ende. Das Kind hockt sich auf den Fußschemel vor Großmutters Beinen.

„Damals dachte ich, die Sonne würde nie mehr aufgehen“, sagt sie.

Sie weint nicht. Sie weint auch nicht, wenn sie die Feldpost ihres Sohnes nachliest, Brief für Brief bis zur Gefallenenmeldung.

„Das Alter macht hart“, sagt sie, wenn das Kind wissen will, warum sie nicht mehr weint.

Und die Sonne ist doch wieder aufgegangen.

Tagelang sitzt sie dem Fenster gegenüber, zählt die Regentropfen. Nachts geht sie in der Stube auf und ab, hin und her.

„Wie eine Löwin im Käfig“, sagt der Fidl, „leg dich hin.“

Sie sieht ihren Buben hinter dem Haus sitzen. Er sitzt mit aufgestützten Armen da, Kopf in den Händen. „Was ist dir, Clemens.“

„Ich muß nachdenken“, sagt er.

Ein grüblerischer Mensch, so jung und so grüblerisch, still, ein hellwacher Schlafwandler in seiner abweisenden, erbitterten Ruhe, die wie ein verschlossenes Tor ist.

Er geht am Abend nicht auf den Dorfplatz hinunter. Er mischt sich nicht unter die übermütigen Gleichaltrigen. „Sie lachen über jede Dummheit“, sagt er.

Vom Franziskanergymnasium der Brief des Präfekten: Frau Federspiel möge ihren Sohn verwarnen. Wenn die Gymnasiasten in geschlossener Reihe durch die Stadt gingen, hätte keiner die Hand zum Hitlergruß zu heben. Auch nicht zu patrouillierenden Soldaten hinüber.

„Ich habe nicht gegrüßt“, sagt der Clemens, „weder mit der Hand noch mit den Augen.“

Vor dem Einrücken wird er zu seinem Vater sagen, daß er nicht für Führer, Volk und Vaterland kämpft – oder fällt; er nicht.

Die Schule ist teuer.

„Was soll ich denn werden“, fragt der Clemens, „als Pfarrer gehen mir die Frauen ab, als Lehrer fehlt mir die Geduld, zum Doktorsein die Liebe zu den Menschen, Advokat ist nicht vornehm.“

Er hat sich nicht mehr entscheiden müssen. Zweiundzwanzig ist er beim Granatangriff in Witebsk.

Witebsk – wie vertraut das dem Fidl klingt, Witebsk. Keine dreißig Jahre ist es her, da ist er ganz in der Nähe gewesen. Ja, das kann man schon so sagen, ganz in der Nähe, bei einem Riesenland wie der Ukraine. Und Soldat war er auch, der Fidl, gefangen von den Russen.

Kühl sind die Abende in der Sommerfrische. Hat Onkel Clemens in Rußland gefroren? Das Kind kriecht auch in Augustnächten unter das wärmende...


Helene Flöss, geboren 1954 in Brixen, Südtirol, lebt seit 1991 im Burgenland. Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und im Rundfunk. Bei Haymon: Nasses Gras. Erzählungen (1990), Spurensuche. Erzählungen (1992), Briefschaften. Roman (gemeinsam mit Walter Schlorhaufer, 1994), Dürre Jahre. Erzählung (1998), Schnittbögen. Roman (2000), Löwen im Holz. Roman (2003). Brüchige Ufer. Roman (2005), Der Hungermaler. Erzählung (2007).



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