Flöss | Brüchige Ufer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Flöss Brüchige Ufer

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-7733-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7733-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Breit angelegtes, in den Einzelheiten aber knapp erzähltes Panorama einer burgenländischen Familie von 1900 bis heute, Zeitgeschichte in Einzelschicksalen: Da gibt es den Auswanderer und seine tristen Erfahrungen in Amerika, das Dienstmädchen bei einer jüdisch-großbürgerlichen Familie in Wien, die eifrige und auch nach 1945 nicht "bekehrte" Sekretärin eines Gauleiters, da wird vom Umgang der Burgenländer mit ihren jüdischen Mitbürgern erzählt, von den Ereignissen rund um die Befreiung eines Außenlagers von Mauthausen, vom armen Studenten, der in den prosperierenden Sechzigerjahren zum gesellschaftlichen Aufsteiger wird. Im Mittelpunkt stehen das Erwachsenwerden eines Buben und seine seelische Befindlichkeit als Erwachsener - ein weitgehend von den früheren Verhältnissen in Familie und Gesellschaft geprägter Charakter.

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Man hatte sie schon in die Sterbekammer geschoben. In dieses schmale lichtlose Viereck, in dem sich selbst Tote fürchten. Auf den Füßen der Leiche lag die dunkelbraune Handtasche, auf dem Boden stand ein Nylonsack, aus dem Wäschestücke heraushingen. Die Schwester hielt einen Zipfel des Leintuchs in der Hand. „Wollen Sie Ihre Frau Mutter noch einmal anschauen?“ „Warum haben Sie mich nicht rechtzeitig gerufen?“ Gyula* kam schon das dritte Mal bei einem Tod zu spät. Die Sterbekammer seines Vaters im Wiener Spital hatte genauso ausgesehen. Wahrscheinlich sahen alle Sterbekammern der Welt gleich aus. Warum er damals wie ein Irrer durch Wien gerast war, wozu er damals rechtzeitig hatte ankommen wollen, wusste er nicht mehr. Mit zwei Gendarmen hatte Gyula die Tür aufgesperrt. Er besaß noch immer einen Schlüssel zum Haus seiner geschiedenen Frau. Die Nachbarn hatten Karin schon seit Tagen vermisst. Die Gendarmen fürchteten sich vor Karins Hund, der sie verbellte. Gyula fürchtete sich vor der Toten, die einmal seine Frau gewesen war. Er schaute die Leiche, die zwischen Bergen von leeren Cognacflaschen unter einer Decke auf dem Boden kauerte, nicht an. Er hatte auch seinen toten Vater nicht angeschaut und wollte seine tote Mutter nicht sehen. Eigentlich war Gyula froh, dass er nie zum Sterben beizeiten kam, sondern immer nur zum Totsein. „Frau Regner ist eingeschlafen, hat mir die Nachtschwester bei der Dienstübergabe gesagt.“ Das mit dem Einschlafen stimmte nicht ganz. Die Nachtschwester hatte gehofft, dass Frau Regner es noch ein paar Stunden machen würde in dieser unruhigen Nacht, und sie hatte ihr den Gefallen getan. Waren in einer Nacht zwanzig Betten zu betreuen, bedeutete ein Todesfall eine zusätzliche Mühe. Erschreckendes hatten Tode hier zwar nichts mehr. Aus der Pflegeabteilung des Altersheimes trug man selten einen Greis lebend hinaus. Die Angehörigen weinten meist anstandshalber, wenn ihnen einer zusah. Und waren erlöst. Sterben störte mehr, als es erschütterte. Sie hatte die laut röchelnde Frau Regner aus dem Zimmer geschoben. Die Bettnachbarin hatte sich über den Radau beklagt, obwohl sie nicht nur dement war, sondern auch schwerhörig. Warum machten Sterbende meistens einen letzten, überflüssigen Lärm, bevor sie aufhörten? „Die von vierundfünfzig links ist schon drüben“, sagte die Nachtschwester zur Ablöse. Sie meinte die Sterbekammer. Auf dem Protokollblatt, das sie übergab, standen die Telefonnummern der Söhne von Irma Regner. Schwester Herta trank noch einen Kaffee. Währenddessen hatte Irma Regner zu atmen aufgehört. Erst nach dem Austeilen des Frühstücks fiel irgendjemandem zu fragen ein, wann denn die Söhne der Verstorbenen kämen. Da wussten die noch gar nichts. Gyula ging mit der Handtasche und dem Nylonsack ins Zimmer Nummer vierundfünfzig. „Darf Frau Regner schon heimgehen?“, fragte die Bettnachbarin. „Meine Tochter sagt, sie könne mich zu Hause nicht brauchen, weil niemand da sei, der mich pflegt. Dabei brauche ich eh keine Pflege. Nur kochen könnte ich für die Kinder nicht mehr.“ Als sie wusste, dass es alleine nicht mehr lange gehen würde, hatte die Mutter ihren Gyula gefragt, ob er sie zu sich nähme. Aber das war ihr mehr herausgerutscht. Es war eigentlich gar keine Frage, keine Bitte. Und als Gyula ganz ähnlich mit der erforderlichen Fürsorge antwortete, wie die Tochter dieser Frau, und von der Hauspflegerin sprach, die er schicken wollte, schämte sich Irma Regner ein bisschen und redete vom Eiskasten, der tropfte. Der Kellner hing mehr an der Budel, als dass er an ihr lehnte. Seine Arme hatte er über dem Bauch verkreuzt. Der Kopf baumelte schief und schläfrig am Hals. Eine baufällige Erscheinung. Aus der schmalen Spalte zwischen den Lippen kam ein gedämpftes Gurren wie das Rollen ferner Züge. Die Ankömmlinge störten zu dieser mittäglichen Zeit die eingesessene Gewohnheit, die zwischen halb zwei und halb drei eine des Dösens war, der Stille und der Leere. Der Kellner hatte in den langen Dienstjahren gelernt, im Stehen zu schlafen, einzunicken. Nur gegen die wehen Füße hatte er kein Mittel gefunden. Er brauchte diese knappe Stunde nach der Mittagszeit, um einmal aus dem rechten, dann aus dem linken Schuh zu schlüpfen, und für sein Kreuz, damit es sich erholte, damit es nicht über dem Hosenbund auseinanderbrach. Er war nicht mehr der Jüngste. Die drei Männer am Fenstertisch wertete er nicht eigentlich als Gäste. Sie waren hier eingewachsen, gehörten zum Lokal wie Kaffeemaschine und Zapfhahn. Es war nicht einmal mehr nötig, darauf zu warten, ob und wann sie ihr zweites und drittes Bier wünschten. Der Kellner hatte das seit einer Ewigkeit im Gespür, schob sich schleifend die drei, vier Schritte an ihren Tisch und wieder zurück. Das ungebetene Paar war ganz in Schwarz, aber das besagte heutzutage nichts mehr. Jetzt glaubte der Kellner, er müsste den Herrn kennen. Es geschah immer häufiger, dass ihm Gesichter entfielen, Namen sowieso, und er hatte sich doch einmal auf sein verlässliches Gedächtnis etwas zugute gehalten. Auf diese Berufskrankheit der Kellner. Er zog ruckartig an den zerknitterten Enden seiner Weste. „Leere Kaffeehäuser haben etwas Trauriges“, sagte Alena. „Dieses ist dem Friedhof am nächsten“, antwortete Gyula. Die drei Männer am Stammtisch saßen da, als warteten sie, dass der Tag verging. Und nicht nur dieser. Auf ihren Gesichtern lag die ganze langweilige dezembrige Ödnis. Der mit grobkörnigem Streusand vermischte Schneematsch knirschte schon beim Anschauen. Dichter Nebel schob sich wie ein plumpes Tier die Straße entlang. Es war, als stieße ein Maul die Schwaden stoßweise aus und verschlucke gleichzeitig Häuser und Tore und Gehsteige. Deshalb schoben die Männer ihre Köpfe kaum aus den Krägen und ließen ihre Augen nur auf der Tischplatte herumwandern. Gyula grüßte zu den dreien hinüber. In einer Kleinstadt gehörte sich das. Sie drehten ihm kurz ihre Schädel zu und ließen ein unbestimmtes Gemurmel hören, das aus einem Rauchfang zu kommen schien. Mit einem für diese schäbige Leere unpassenden Schwung flog die Tür auf. Als hätte der neue Gast seine grüßende Hand schon draußen in Bereitschaft gehalten, fuhr er sie flink zum Stammtisch hin aus, drehte sich soldatisch zackig zur Seite. Dann riss er beide Arme in die Luft. „Grüßgott!“, dröhnte er in einer Lautstärke, als wollte er eine ganze Stadt begrüßen. Der Mann hatte ein durchdringendes Organ, etwas Schrilles, Scharfes darin. Hätte man sich auf der Straße befunden, wäre man gewiss zur Seite gesprungen, wie man dies einer plötzlichen Sirene oder Hupe wegen tut. Die Hände zusammenklatschend und die Arme wieder emporreißend ging er auf Alena und Gyula zu. Ein überschwänglicher Mensch. Weit über den Tisch gebeugt, streckte er seine Rechte zuerst in Gyulas Richtung, besann sich, fuhr kopfschüttelnd und handschwenkend zurück, wechselte zur Frau, drückte herzhaft zu, beschrieb noch einmal einen Bogen über dem Tisch und griff nach Gyulas Hand. „Nein, so etwas!“ Der ganze zappelnde, hüpfende, leuchtende Mensch eine einzige Freude. So vertraut waren die beiden Männer miteinander doch gar nicht. „Wir begraben heute meine Mutter“, sagte Gyula derart unvermittelt, als wollte er den Begeisterten für eine grobe Ungebührlichkeit bestrafen. Alena schaute in das zusammenfallende Häufchen Mensch. Der Mund zu einem unheimlichen Strich verengt, die Stirn zu einem hundertfach gefältelten Streifen geschrumpft. Er entfernte sich im Rückwärtsgang, eine windschiefe Figur, erschreckt, verstört, Unverständliches murmelnd. Seit langem schon verfolgte Alena mit einer Art von Bewunderung die Fähigkeit gewisser Menschen, ihre Stimmung mit einer Geschwindigkeit zu wechseln, als stülpten sie das Unterfutter ihrer Jacke nach außen. Auch Gyulas Vater musste über eine ähnliche Gabe verfügt haben. Wut und Aufgeräumtheit, Stolz und Untertänigkeit, Neugier und Stumpfheit wechselte er mit dem Ein- und Austritt aus seinem Haus. Es schien, als wendete er seinen Gemütszustand mit der Uniform und sei jenseits des Torpfostens auf der Stelle bekehrt. Der Kaffee, wider bessere Einsicht bestellt, war eine Vergeltung. Wässrig, sauer, lauwarm. Sie waren zu früh dran. Viel zu früh. Das kam sonst nicht vor. Gyula war gern säumig. Er glaubte, selbst viel weniger gern zu warten, als es derjenige tat, den er warten ließ. Sie habe sich ans Warten gewöhnt, hatte Gyulas Mutter gesagt. Da war sie achtundachtzig. Ans Warten auf ihren Sohn. In der...


Helene Flöss, geboren 1954 in Brixen, Südtirol, lebt seit 1991 im Burgenland. Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und im Rundfunk. Bei Haymon: Nasses Gras. Erzählungen (1990), Spurensuche. Erzählungen (1992), Briefschaften. Roman (gemeinsam mit Walter Schlorhaufer, 1994), Dürre Jahre. Erzählung (1998), Schnittbögen. Roman (2000), Löwen im Holz. Roman (2003). Brüchige Ufer. Roman (2005), Der Hungermaler. Erzählung (2007).



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