Flörke | Nebelmeer #7 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 268 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 221 mm

Flörke Nebelmeer #7


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-946086-69-7
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, 268 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 221 mm

ISBN: 978-3-946086-69-7
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Wir wollen den Misserfolg! Das war die Losung seiner Jugend. Inzwischen ist HP Aufseher in der Hamburger Kunsthalle und bewacht Caspar David Friedrich. Als sein Jugendfreund Maximilian vermisst wird, macht sich HP auf die Suche und entdeckt: Der klaut mir meine Lebensgeschichte, um seine Biographie zu schreiben! Ein entführtes Kunstwerk, ein toter Ehemann, ein Zwischenfall mit fiesem Hund und eine Buchmesse, auf der zu viel gelacht wird, stören HPs Suche; ebenso eine Anhalterin, die erklärt: Der Umweg ist das Ziel, Baby! Lutz Flörkes zweiter Roman gleicht einem Roadmovie - eine ebenso groteske wie erheiternde Irrfahrt durch die Erinnerung, den Stoff, aus dem die Träume sind.

Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise des Landes Niedersachsen und der Stadt Hamburg.
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1 | Abends in der Kunsthalle



Anfangen. Ich liebe Anfänge, nur Anfänge. – Am Anfang ist alles frisch und einzigartig. Anfänge mit mir als Hauptperson. Mein Leben besteht aus Anfängen.

Wir wollen den Misserfolg! Das war einmal ein Anfang. Eben muss ich daran denken. Ruhig drehe ich meine Runde durch die Deutsche Romantik, Runge, Friedrich, Overbeck. Ich denke über Anfänge nach, ruft da plötzlich Dorothée:

– Wir haben einen Notfall!

Das ist doch sonst nicht ihre Art, mich bei der Arbeit zu überfallen.

Sie steht vor dem Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, Öl auf Leinwand, um 1817. Der Wanderer auf dem felsigen Gipfel wendet ihr den Rücken zu. Dorothée könnte sich über seine Schulter hinweg ebenfalls im Anblick des Nebelmeers verlieren, aber sie ruft:

– Wir haben einen Notfall!

– Ich bin Melancholiker.

– Papperlapapp!

Melancholie wehrt sich gegen alle selbstgestellten …

– Papperlapapp!

– Ich habe mich in die Kunsthalle zurückgezogen aus Gründen der Melancholie …

Sie unterbricht:

– Meinst du nicht, dass das einfach in deinem Charakter begründet liegt?

– Lediglich insofern, als Charakter die individuell gebrochene Spiegelung gesellschaftlicher Zustände meint, entgegne ich.

Darauf sie:

– Das ist doch depressiv!

Darauf wieder ich:

– Ich habe mich in die Hamburger Kunsthalle zurückgezogen, um mich gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten zu wehren.

Darauf wieder sie:

– Papperlapapp.

Dieses Gespräch hat keinen Sinn. Es hat keinen Sinn, ihr zu erklären, weshalb ich nicht Karriere gemacht habe, dennoch nicht gescheitert bin und mir nichts wünsche, als zu sein, was ich bin, Bodyguard für Caspar David Friedrich. Obwohl mir manchmal Zweifel kommen. Aufseher schauen stumm, sie gehen im Kreis herum, Bilder betteln still um Gunst, ist das noch Kunst?

Sie läuft mir nach:

– Es handelt sich um einen Notfall. Ich brauche deine Hilfe.

Vielleicht sollte ich anders beginnen. Ohne Dorothée. Stürzt da plötzlich eine wildfremde Frau in Gummistiefeln herein. Stolpert auf mich zu und schreit vor dem Wanderer über dem Nebelmeer:

– Er ist die Treppe hinuntergestürzt.

In jedem Fall ein dynamischer Anfang. Stürzt plötzlich eine Frau in Gummistiefeln herein, den Mantel eng um sich gewunden, bricht zusammen und haucht mit rauchiger Stimme aus lila Lippen:

– Er liegt am Fuß der Treppe. Aber ich war’s nicht.

Zielgenau würfe sie sich in meine Arme. Natürlich wäre das ein Notfall. Museumsbesucher blieben stehen und beobachteten uns. Endlich wäre etwas los zwischen den Bildern. Die Kollegen guckten neidisch; alle Aufmerksamkeit läge bei mir. Ein Anfang als Hauptperson, nicht etwa bloß als Protagonist, sondern als Erzähler einer Geschichte.

Ereignisse ereignen sich, wie, wann und wo sie sich eben ereignen. Wenn ich sie erzähle, muss ich mich aber nicht ihrer Abfolge unterwerfen. Die Konturen von Ereignissen verdanken sich der Erzählung, in der sie auftreten. Etwa dieser hier. Die Erzählung legt fest, was wir zu den relevanten Ereignissen hinzuzählen und was nicht. Na also! Die Entscheidung über Relevanz und Reihenfolge müssen die Ereignisse mir überlassen.

HP – Hauptperson und Erzähler in eins.

– Nun bleib doch endlich stehen, ruft Dorothée, und hör zu!

Ich verschiebe die hereinstürzende Frau in Gummistiefeln auf ein späteres Kapitel.

– Dorothée, sage ich, wir hatten so einen schönen Anfang damals.

– Wir sollten unser Leben nicht mit Rückblenden verschwenden! Weißt du, was dein Freund Maximilian sich geleistet hat?

Wenn sie Krach mit ihm hat, ist er mein Freund. Zwar kenne ich ihn seit der Schulzeit, aber sie hat mit ihm seit Jahren eine feste freie Beziehung, während ich ihn kaum sehe.

Sie zieht mich auf die Bank herunter und drückt mir ein Tablet in die Hand.

– Sieh dir das an!

Maximilian sitzt an seinem wie stets leergeräumten Schreibtisch. Vor ihm liegt ein Blatt Papier.

– Und?

Dorothée startet das Video. Maximilian starrt nach links oben, nach rechts oben, direkt in die Kamera und liest:

– Wir wollen den Misserfolg.

Den Satz kenn ich und die folgenden Sätze auch:

– Wir kennen die Notwendigkeit, Geld zu verdienen; keinesfalls erkennen wir sie an. Wir wehren uns gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten. Wenn Arbeit wirklich so toll wäre, dann würden die Reichen sie für sich behalten, schreibt Mark Twain. Wir wollen den Misserfolg. Wir wollen nicht dem Erfolg hinterherhetzen wie ihr! Kein Burnout, keine Frühvergreisung des Geistes, keine Gesellschaft mit beschränktem Horizont.

– Der anarchistische Ton passt gar nicht zu ihm, stellt Dorothée fest.

– Wir haben das gemeinsam geschrieben, damals, sage ich. Unser Manifest, zusammen vorgetragen auf der Abiturfeier. Natürlich hat es keinen interessiert. Als wir fertig waren, haben sie einfach weitergefeiert. Beim Klassentreffen zwanzig Jahre später erinnerte sich niemand mehr daran.

– Wieso fällt Maximilian eure postpubertäre Rebellion heute wieder ein? Der will doch nicht ernsthaft den Misserfolg.

– Wir wollten die selbstbewussten Performer des eigenen Misserfolgs sein, sage ich.

– Quatsch. Maximilian verkörpert den Typus des kreativen Erfolgsmenschen, beruflich, privat, freizeit- und körperorientiert, als Konsument oder Produzent. Er ist Inbegriff der postpostmodernen, authentisch-marktkonformen Persönlichkeit.

Ich habe ihn gewarnt. Schon damals, als er sein kleines Vermögen erbte, sagte ich zu ihm:

– Vergiss nicht, wir wollen den Misserfolg!

– Klar, antwortete er, ist ja bloß Spaß.

Und investierte in Aktien. Ich warnte:

– Pass auf! Du gerätst in die Erfolgsspur.

– Nee, sagte er, das ist nur ein klitzekleines Portfolio.

Er investierte in Immobilien und einen Kultur-Reisedienst und sagte:

– Das Geld ist mir egal, wirklich.

Wieder machte er alles richtig. Die ökonomische Krise brachte eine Sinnkrise mit sich. Aus Angst vor Armut, Einsamkeit und undurchschaubaren Veränderungen verlangten Mittelschichtler nach sozialer Distinktion durch Bildung und Kultur. Der Kunstkenner Maximilian war ihnen lieber als ein Künstler, er belästigte sie nicht mit schwerverständlichen Werken, sondern konnte alles erklären: Kommt mit, ich zeige euch, was mir am Herzen liegt in Wien, Barcelona, Paris.

Ich sagte:

– Vorsicht, Maximilian, Erfolgsgefahr. Die Leute wollen keine Kunst, sondern ein bisschen am Abglanz teilhaben.

– Was willst du, antwortete er. Ist doch ihr Recht, oder?

– Denk an Adorno!, sagte ich: Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht.

– Ach, sagte Maximilian, Adorno …

Er gewann seine ersten eigenen 500.000.

– Hör mal, insistierte ich, du bist erfolgreich, da beißt die Maus keinen Faden ab.

– Nö, sagte er, darum geht es nicht.

Und gründete eine Kette von Art-Hotels. Entschleunigte Kultur für Menschen, die den Gedanken liebten, Genuss und Lebensstil seien wichtiger als Erfolg. Bereits beim Einchecken erhielt jeder Gast Eintrittskarten für überregional beachtete Kultur-Events.

– Du kriechst den Leuten in den Arsch, sagte ich.

– Wir bilden eine Erlebnisgemeinschaft, antwortete er.

– Wir wollten den Misserfolg, weil wir aufmüpfig waren, und ich bin es noch immer, erklärt Maximilian auf Dorothées Tablet. Aber inzwischen steht Misserfolg nicht mehr für Lifestyle, sondern für Versagen.

– Was für Probleme hat der denn?, ruft Dorothée so laut, dass ein Kollege um die Ecke schaut. Sind das Depressionen? Glaubst du, dass er sich was antut?

– In den Augen anderer darf man keinen Misserfolg haben, sagt Maximilian, gerade wenn man ihn propagiert.

Ich schaue Dorothée an.

– Ja, sagt sie, ich habe auch zuerst gedacht, jetzt kommt eine Frau ins Spiel.

– Ich wollte den Erfolg, um ihn verachten zu können, erklärt Maximilian in die Kamera.

– Ich verstehe den Kerl nicht, sagt Dorothée. Ist er wirklich lebensmüde? Oder erzählt der das nur, um nicht mit mir nach Tübingen ziehen zu müssen? Ich bestehe ja gar nicht darauf. Ich habe nur gesagt: Entscheide dich! Komm mit nach Tübingen, ich bekomme da eine Eins-a-Stelle an der Uni.

Glücklicherweise schieben da doch tatsächlich Besucherinnen, die sich unbeachtet wähnen, ihre Finger, Gesichter, Ärsche zu nahe an den Wanderer über dem Nebelmeer. Noch bevor die Alarmanlage anschlägt, springe ich auf und flüstere:

– Dies ist ein Museum! Anfassen können Sie drüben in der Europa-Passage.

– Nun lass die doch, zieht mich Dorothée auf die Bank zurück. Hier ist dein Notfall.

– Als ich das vierte Hotel eröffnete, erklärt Maximilian, hatte ich längst keine Lust mehr, Geld zu verdienen. Es ging ausschließlich um den kreativen Akt, nicht um den ökonomischen Erfolg. Beim fünften Hotel lag ich sechs Tage mit Migräne im Bett. Ich wollte es am...


Flörke, Lutz
Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise des Landes Niedersachsen und der Stadt Hamburg.



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