E-Book, Deutsch, 262 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm
Flörke Das Ilona-Projekt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-946086-33-8
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 262 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm
ISBN: 978-3-946086-33-8
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise der Hansestadt und des Landes Niedersachsen. Er wendet sich an Menschen, die ebenso offen sind für Populär- wie für Hochkultur, aber beiden misstrauen. Sein Lieblingspublikum hat Lust am Denken und Spaß am Spiel mit Figuren, Perspektiven, Sprache. Sein Debütroman »Das Ilona-Projekt« erschien 2018 bei duotincta.
Autoren/Hrsg.
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1 | Taormina am Abend
Solange HP sich damit begnügte, Taormina von seinem Bett in Hamburg aus ins Auge zu fassen, erhob sein Körper keinen Einwand gegen die Reise. Er fing erst damit an, als er begriff, dass er mit von der Partie sein sollte und dass man ihn am Abend der Ankunft in ein Zimmer führen würde, das ihm unbekannt war. Seine Auflehnung begann mit Herzrasen, ging über in Apathie und verlegte sich schließlich auf die Ausblendung der Wirklichkeit.
An der Rezeption des Hotel Méditerranée in Taormina kommt HP zu sich. Er stellt den Koffer ab, füllt den Meldeschein aus, lässt sein Gepäck aufs Zimmer bringen, steckt den ersten Band Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein und flieht hinaus in den Abendsonnenschein.
Reisen wäre in Ordnung, wenn der Ortswechsel nicht wäre, denkt er in Taormina auf dem berühmten Corso vor dem Hotel Méditerranée. Zwischen den Häusern der Altstadt führen Treppen den Berghang hinauf. Ein Weinhändler stellt drei Tische raus, tatsächlich nur so wenige, rammt eine blakende Fackel in den Boden und schaut die Treppe zu HP hinab. Wie gut!, denkt der. Am besten, ich versuche in jenen Zustand alkoholgestützter Euphorie zu gelangen, in dem das Nervensystem weniger verletzlich ist. Er bestellt eine Flasche roten Lacrimae Christi, gezogen auf schwarzer Lava, Empfehlung des Wirts.
Ich sitze hier, denkt HP, weil ich es nicht geschafft habe, nein zu sagen. Tief unter mir liegt ein dunkles, schwarzes Nichts, das Meer, weil ich nicht nein gesagt habe. Rechts erhebt sich der Umriss des Ätna, weil ich nicht nein gesagt habe. Von der kleinen beleuchteten Straße, zweihundert Meter tiefer, mit ihren Miniaturautos will ich nicht reden. Spielzeug-Eisenbahnen eilen dort unten durch die Nacht, weil ich es nicht geschafft habe.
Er sitzt exakt 204 Meter über dem Meeresspiegel. Das hat er aus dem Reiseführer. Selbst gekauft nach sorgfältiger Prüfung. Der beste all der schlechten. Aber ohne käme er sich irgendwie nackt vor.
Er könnte eine Ansichtskarte schreiben. Liebe Schwester, die Aussicht in Taormina ist genauso wie im Reiseführer beschrieben. Herzliche Grüße, HP.
– Taormina!, hat sie gerufen. Stell dir vor, Taormina, gellt es noch jetzt in seinen Ohren.
Der ganze Kreis springt auf, brüllt Taormina und hebt die gefüllten Champagnergläser.
– Taormina!, prosten sie ihm zu. Freust du dich denn nicht? Nun freu dich doch!
Es ist sein Geburtstag. Seine Schwester hat eingeladen. Er sei die wichtigste Person in ihrem Leben. Sie brauche ihn. Damit sie wisse, wo sie hingehöre im alltäglichen Wechsel von Selbstoptimierung und Einsamkeit.
Neue anschmiegsame Herrenschuhe verbreiten ihren Lederduft. Wir möchten, dass Ihr Leben gut läuft, steht auf dem Karton. Das Leben seiner Schwester läuft gut; die Schuhe hat sie ihm gekauft. Damit er in Taormina was Bequemes zum Laufen hat. Das Wohnzimmer seiner Schwester, 58 Quadratmeter direkt am Alsterlauf, erstreckt sich über zwei Ebenen. Eine ist mit Kamin ausgestattet, die andere mit Esstisch und Kristalllüster.
– Glaubst du, flüstert sie, ich lade zum Spaß ein? Geselligkeit ist kein Spaß, mein Lieber, sondern Arbeit an sozialer Vernetzung, die dem Fortkommen dient. Spaß kommt oben drauf, wenn man Glück hat und einem die Menschen sympathisch sind.
Ihre Freunde erheben das Champagner-Glas, seine Schwester zieht den Gutschein hervor. HP weiß, egal, was kommt, ich möchte lieber nicht. Studien-Reise: Tempel, Orgien, Liebesgötter – griechisches Sizilien. Goethe war auch schon da!
Eine Stille tritt ein. Sie starren ihn an. Er leert das Glas und schafft es nicht, glücklich zu sein. Warum kann er nicht wenigstens so aussehen? Seine Schwester könnte das. Die anderen warten. Sie haben gesammelt, sie machen ihn glücklich, das wollen sie jetzt sehen. Wirklich glücklich ist, wer einen anderen glücklich macht, der sonst kein Glück im Leben hätte. Jemanden ohne Selbstvertrauen. Einer muss ja der ohne Selbstvertrauen sein, das ewige Kind; die Wahl seiner Schwester ist auf HP gefallen. Sie hat Erfolg, er ist das Kontrastprogramm.
Ein bisschen mehr Freude könne er schon zeigen, findet sie. Er starrt zu Boden. Auch so schafft er es nicht, nein zu sagen. Steht stumm dumm rumm. Lehnt nicht ab, schweigt. Alle warten mit erhobenen Gläsern, schließlich ruft seine Schwester:
– Seht nur, wie gerührt er ist.
Gläser klingeln.
– Prost! Damit du mal siehst, dass die Welt nicht nur aus Büchern besteht!
Der Wirt auf der Terrasse in Taormina zieht den Korken aus der Flasche Lacrimae Christi. Schnuppert daran, nickt, reicht ihn dem Gast. HP winkt ab und bittet mit einem Handzeichen, vollzuschenken. Der erste Schluck, der zweite, er klappt die Augenlider zu.
Begrüßungscocktail – nein danke. Selbstverständlich hat er sich der Reisegruppe gar nicht erst angeschlossen. Was wollen Reiseleiter ihm erzählen, was er nicht sowieso besser weiß? Die paar Fakten kann man nachlesen und über Zusammenhänge weiß er besser Bescheid. Die Jahrhunderte der großen Metaerzählungen mögen vorbei sein, desto wichtiger ist es, die kleinen intelligent und phantasievoll auszumalen. Wenn ihm jemand zuhören würde …
HP wünscht sich oft, Hauptperson seiner Lebensgeschichte zu sein. Bis dahin trinkt er seinen Wein lieber allein. Der Reiseveranstalter wird sich selbstverständlich weigern, die nicht in Anspruch genommenen Leistungen zurückzuerstatten. So wird fast sein ganzes Reisebudget fürs Hotel in Taormina draufgehen; in zwei Wochen kann er wieder zurückfliegen.
HP nimmt einen Schluck, blättert in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und liest: Die Erschaffung der Welt begann an einem Sonntag. Der erschöpfte Schöpfer lehnte sich zurück und dachte: Morgen fang ich was Neues an. Und am Montag, nachdem er geruht hatte, schwebte der Geist über den Wassern und es war gut.
Ob das wirklich von Proust stammt? Er will den Satz noch einmal lesen, findet ihn aber nicht wieder. Vielleicht im vorigen Abschnitt?
Stimme vom Nachbartisch:
– Sie lesen Proust? Respekt!
– … die wahren Paradiese sind die, die man verloren hat, liest HP.
– Ich würd’ auch gern Proust lesen.
HP schweigt und starrt ins Buch. Das irritiert den anderen nicht. Er macht sich breit. Selbstvertrauen und Übergewicht, von beidem zu viel. Er schielt in HPs Buch und sagt:
– Nicht nur die wahren Paradiese sind verloren, auch mein Handgepäck.
Über einem hellen, edelknitternden Leinenhemd wölbt sich eine Weste mit geometrischen Mustern in skandinavisch blassen Wollfarben, wie aus dem Ikea-Katalog, nur teurer … Dazu Strohhut mit dunklem Band, Modell Tod in Venedig. Mit mindestens einer Flasche Rotwein intus stellt er die Gemeinsamkeit der Ästheten her:
– Ja, Proust …!
Das soll HP schmeicheln und tut es auch.
– Wie gern läse auch ich jetzt Proust. Leider unmöglich. Weil ich mein Handgepäck im Taxi vergessen habe. In Stuttgart! Mit dem zweiten Band drin. Verlorene Zeit, verlorenes Buch, verlorenes Paradies. Den ersten Band habe ich soeben wieder einmal gelesen. Der zweite ist im verlorenen Koffer. Und ich kann doch nicht mit dem dritten fortfahren, wie soll man den dritten vor dem zweiten lesen, Guermantes vor Im Schatten junger Mädchenblüte?
– Kennen Sie den?, fragt HP. Kommt ein Mann vorbei und sagt: Proust! – Sagt der andere: Gesundheit!
Der Dicke, er heißt Reinhardt, wie sich herausstellen wird, will sich ausschütten vor Lachen. Lacht lauthals proustend. Rumpf bebt, Arme schlackern, enorme Geste mit links. Schwupp, wischt er sein gefülltes Weinglas vom Tisch.
Instinktiv findet das Glas sein Ziel, denkt HP. Wäre ich doch im Hotel geblieben. Schon saugt seine Hose gierig den roten Wein in sich hinein.
– O! Da ist Ihnen aber ein Malheur passiert!, lächelt Reinhardt süffisant.
Zwei vorbeikommende Mädchen schauen auf HPs Schoß und kichern schamlos. Eine bläst die Kerze auf seinem Tisch aus.
Reinhardt schenkt sich sein Glas voll, aus HPs Flasche.
Setzt an, trinkt leer, schenkt nach:
– ’tschuldigung. Auf den Schreck …
– Die Hose ist klitschnass!
– Das trocknet unter Siziliens Himmel!
Er schnalzt mit der Zunge.
– Im Übrigen bezahle ich Ihnen die lockerlose Abendhose! Hab nur leider im Moment nicht genug Geld dabei …
HP drückt eine Serviette auf den Fleck; die weicht sofort durch. Sein neuer Bekannter ordert eine weitere Flasche, nimmt einen Schluck, setzt das Glas mit Schwung auf den Tisch, nickt, der Wirt füllt beide Gläser. Der ist in Stimmung, denkt HP, jetzt kommt bestimmt seine Lebens-Geschichte. Und sie kommt.
– Erbe! Ich bin hauptberuflich Erbe. Können Sie sich das vorstellen?
HP tupft auf seinem Schoß herum. Die Serviette färbt die Hose grün.
– Sie sollten dem Himmel danken, wenn Sie nicht erben müssen. Jeder grinst, wenn man das erzählt. Denkt, deine Probleme möchte ich haben. Erbe! – Seit über vierzig Jahren bin ich Ziel und heimlicher Zweck all dessen, was meine Eltern vor mir angefangen haben, über den Tod hinaus. Einmal Erbe, immer Erbe, egal, was ich dagegen tue. So etwas Unnützes wie Literatur habe ich studiert, um keine Drogeriekette verwalten zu müssen, in der man Hautcreme und Katzenstreu verkauft! Der Erbe eines Katzenstreu-, Hautcreme- und Staubsaugerbeutel-Imperiums! Stellen Sie sich das vor! Von Magen-Darm-Pastillen und Bio-Weinen nicht zu reden. Das können Sie sich nicht vorstellen!
Er hätte ebenso gut Ameisenköder erwähnen können, Düngerstäbchen oder Tortenspitzen aus Papier.
– Früher wurde man...