E-Book, Deutsch, 196 Seiten
Fleck / Silalahi GEFLECKTE DIAMANTEN
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95765-729-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
herausgegeben von Marina Silalahi
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-95765-729-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dirk C. Fleck, geboren 1943 in Hamburg, studierte an der Deutschen Journalistenschule in München. Er war Ressortleiter beim Spandauer Volksblatt in Berlin, Lokalchef der Hamburger Morgenpost, Redakteur bei Tempo, Merian und Die Woche. Seit 1995 war er als freier Autor unter anderem für Spiegel, Stern, Geo, Die Welt und die Berliner Morgenpost tätig, bevor er sich ganz der Bücherschreiberei widmete. 'Palmers Krieg' (1992) war sein erster Roman, es folgte 'GO! - Die Ökodiktatur' (1993), für den er mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet wurde. Mit dem 'Tahiti-Projekt' (2008) gewann Fleck den begehrten Preis zum zweiten Mal. 'MAEVA!' folgte 2011, 'Feuer am Fuß' rundet die Trilogie ab. Viel Beachtung fand Flecks Buch 'Die vierte Macht' (2012), in dem er fünfundzwanzig deutsche Spitzenjournalisten von Kai Diekmann bis Frank Schirrmacher zu ihrer Verantwortung im Zeichen des drohenden Ökozids befragt. Mehr über den Autor erfahren Sie auf seiner Website. Kurzbeschreibung:
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Gefleckte Diamanten
»Alles, was ich finde, habe ich selbst einst verloren.« –
Peter Handke
Wir reißen das Theater ab! Wir denken nicht mehr, wir wollen Hände und Umarmungen. Wir wollen uns auf den Boden schmeißen und uns lieben, die Häftlinge aus den Anstalten stürmen lassen. Lasst uns atmen, geben wir uns hin. Wir bitten um den Wahnsinn des Wahnsinns wegen.
Das Sprechen ist schon Luxus, Exzess, Überbau. Nimm den einen Pulsschlag mit, verbirg dich darin.
Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt der Banalität, der Dummheit, des unnützen Zeitvertreibs, des kleinen Alltags? Ganz einfach: weil es ihn noch gibt, den kleinen Alltag. Er ist meine Heimat, mein Leben. Zwar ist bereits die Lunte an ihn gelegt und nichts von ihm wird übrig bleiben, aber er atmet noch. Noch sind in ihm alle Missverständnisse geborgen, noch wird in ihm gelogen und betrogen, gehasst und manchmal sogar geliebt. An Tagen wie diesen reicht das aus, um mit ihm Frieden zu schließen. Um die Wunden zu kühlen, die ich mir im Umgang mit ihm zugezogen habe. An Tagen wie diesen liebe ich unser aller Entsetzen in meiner kleinen Straße, in der sich jeden Abend zur Tagesschau der Widerschein aus den Fernsehapparaten in den Zweigen der kranken Kastanien bricht. An einem Tag wie diesem kann ich halt lieben nur, und sonst gar nichts …
Wenn du nicht genügend Energie für die Faulheit aufbringen kannst, die dich das Leben entspannt betrachten lässt, dann setze deine Neugier und Wachheit ruhig weiter dafür ein, der vorbeiziehenden Zeit Gedanken und Bilder zu entreißen, die du dir als Erkenntnistapete ins Wohnzimmer deiner Seele kleben kannst.
Die simple Tatsache, dass wir endlich sind, wird nicht etwa als Chance begriffen, den uns geschenkten Augenblick zu lieben und zu leben, sondern dient dazu, uns ausschließlich mit »Erdarbeiten« zu beschäftigen. Wir errichten einen Wall aus Illusionen um die Wahrheit der eigenen Endlichkeit, hinter dem wir dann in Angst verharren. Als amorphe ängstliche Verfügungsmasse, die keinen Sinn mehr für die Schweinereien entwickelt, die ihr unverblümt zugefügt werden. Die eine Lüge nach der anderen wie Glückspillen schluckt, die nie erprobt wurden.
Der beste Weg zur Heilung der Gesellschaft ist, wenn wir auf die Schönheit unseres eigenen Ichs zugehen. Schließlich haben wir nur uns, aber das ist ja mehr als genug.
Es ist gut, dass nicht jedem unserer Wünsche entsprochen wird. Sie stellen uns nur ins Abseits, so lange sie nicht eine tief empfundene Sehnsucht zum Ausdruck bringen.
Eure Feuer sind ohne Glut. Verstehste?
KOEXISTENZ. – Wer errät die Albträume der Kinder, die sich an Erwachsenen entzünden? Da wir nur selten zu ihnen sprechen, wenn wir ihnen etwas sagen, schlüpfen sie aus der Rolle des Zuhörers und beginnen uns zu umkreisen. Sie sehen uns reden, sie registrieren unsere überzogene Mimik, sie glauben uns nicht, sie erraten unsere Absichten, noch ehe wir sie verbergen können. Wie schmutzig seine Schuhe sind und wie gelb seine Finger! Warum glänzt seine Stirn so speckig? Das blöde Haar am Ohrläppchen, wie sieht denn das aus? Er lügt (Lüge, Lüge, Lüge …!), er hat gestern Nacht gefickt (bäh …), er ist genau wie alle anderen, er hat keine Ahnung (er merkt nicht einmal, dass ich Idiot denke … Idi, Idi, Idi …!). Die Stimme des Vaters wabert durch den Raum, sie ist etwas, das sich das Kind von den Ohren reißen möchte. Wie er die Lippen bewegt! Alles, was er sagt ist wawa … Wawa-Brei …
»HÖRST DU MIR ÜBERHAUPT ZU?!«
Erwachsene sind Höllenhunde.
DANKE! Kein anderes Wort hat eine solche Bürde auferlegt bekommen. Es ist klein, bescheiden, alles andere als pompös und muss doch als Instrument herhalten, wenn wir den überwältigenden Aufruhr unseres Herzens, das auf unerwartete Weise berührt wurde, denjenigen beschreiben wollen, die dafür verantwortlich waren.
Ich streichel die Palme, die ich vor acht Jahren als »Wohnungswächter« geschenkt bekam. Damals war die Yucca fünfzig Zentimeter hoch, inzwischen greift sie nach der Decke meiner Altbauwohnung. Ihr stetiges Wachstum war mir zu keiner Zeit bewusst. Die Palme war immer nur so groß, wie ich sie gerade vorfand. Angenommen, wir hätten sie über acht Jahre mit statischer Kamera gefilmt, dann stünden jetzt 70.000 Stunden Film zur Verfügung. Aufschluss über ihr Wachstum gäbe das Material nicht. Eine Menge anderer Dinge würden wir in der Wiederholung sehen, mich zum Beispiel. Ich würde ständig durchs Bild laufen, ich wohne ja hier. Wir würden mich essen, arbeiten, trinken und lieben sehen, eins zu eins, aber das Wachstum der Palme bekämen wir nicht zu Gesicht. Dazu müssten wir die acht Jahre durch den Zeitraffer jagen. Erst wenn wir sie zu einer Stunde verdichteten, könnten wir den Wohnungswächter sich entwickeln sehen. Das wäre dann immer noch ein bedächtiges »aufbäumen«. Zentimeter für Zentimeter würde die Pflanze ihre Kraft entfalten, während die reale Zeit zu einem nervösen Lichtgeflacker verkäme. Von mir, der ich mit der Palme gelebt habe, fehlte gar jede Spur. Meine Bewegungen wären nicht registriert. Sie wären allenfalls als dubioser Nebel erkennbar. Ich wäre ausgelöscht. Obwohl wir beide, die Pflanze und ich, zwei körperliche Wesen waren, obwohl wir beide zur selben Zeit am selben Ort existierten, wäre ich im Zeitraffer unsichtbar. Für die Palme war ich eine Ahnung, ein Hauch, mehr nicht. Es gibt auch Menschen, die wir aufgrund ihrer andersgearteten Geschwindigkeit nicht zu erkennen vermögen, während sie ihrerseits ganz praktisch mit uns umgehen. Wir nennen sie Geister.
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden. »Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.« – Franz Kafka (1883–1924)
Der tief vergrabene kleinbürgerliche Hass auf alles Reine und Schöne.
Unserer pornografischen Epoche liegt eine Entwicklung zugrunde, die sich in der Menschheitsgeschichte von Anfang an aufgebaut hat und die wie ein reißender Strom über alle humanistischen Ideale hinweggefegt ist. An seinen Ufern liegen die Leichen unzähliger Mahnwesen, die der Schlammlawine unserer Zivilisation zum Opfer gefallen sind.
Ich hatte einen Traum. Er war komplett menschenfrei, was ich merkwürdig fand, denn für gewöhnlich begegnen einem Legionen menschlicher Gestalten, wenn man träumt. Man findet sich beispielsweise in einer Stadt wieder, in Fußgängerzonen, an Kreuzungen, in Restaurants. Die Menschen haben klar erkennbare Gesichter, wie im richtigen Leben. Sie benehmen sich wie im richtigen Leben, jeder auf seine Art. Wo kommen sie her? Es sind doch keine Erinnerungen, die uns dort präsentiert werden. Wir sind diesen Wesen noch nie zuvor begegnet. Oder doch? Nein, sind wir nicht. Nicht in diesem Leben. Also: Wo kommen sie her, die Traumfiguren in ihren Autos, im Kaufhaus, am Würstchenstand, die Paare und Passanten, die Gehetzten und Lachenden, die Bettler und die feinen Leute mit den Sektgläsern in der Hand, die einem sogar manchmal zuprosten? Keine Ahnung, aber jedes ihrer Gesichter ist bis ins Detail ausgeprägt. Die Traumwelt präsentiert sich so vielschichtig und real, wie wir es auch im Wachzustand erleben. Aber die Frage bleibt: Wo kommen all die Menschen her, die als Statisten durch unsere Träume geistern? Handelt es sich um Wesen, die vor uns hier zu Gast waren und nun anstehen, um wiedergeboren zu werden, damit sie ihre Lektion zu Ende lernen? Eine Lektion, die unterbrochen wurde durch Kriege und Krankheiten, durch Mord und Selbstmord oder weil einfach nur die Herzen im Überlebenskampf stumpf und empathielos geworden waren. Herzen, die den eigentlichen Sinn des Lebens nicht mehr begreifen und greifen konnten. Und dieser Sinn besteht darin, eins zu werden mit der Schöpfung und zu verstehen, was Liebe meint. LIEBE – der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammenhält. Nur wer das verstanden hat, wird davon befreit, sich erneut in diesen gigantischen Wartesaal zu begeben, aus dem sich meine Traumfiguren rekrutieren.
Ich glaube, dass wir alle »entrümpelt« werden mit der Zeit, bis wir uns nicht mehr als die Person wahrnehmen, für die wir uns so lange gehalten haben.
Er war einen Kopf kleiner als ich, und dennoch gelang es ihm, auf mich herabzublicken.
Was nützt es, zu fliehen, wenn das Unglück in einem steckt?
Schau auf die Blätter, schau auf die Gräser. Sie bewegen sich im Wind, sie tanzen nach seiner Pfeife. Und jetzt schau dir den Wind an. Kannst du ihn sehen? Du musst dich von den Pflanzen leiten lassen, sie tun nur, was der Wind ihnen einhaucht. Man kann ihn sehen. Er ist es doch, der die Bewegungen formt. Man kann ihn sogar streicheln. Wenn er mit unserem Haar spielt, uns ins Gesicht peitscht oder zärtlich über die Arme fährt, dann können wir ihn sehen, am besten bei geschlossenen Augen.
Wir schlagen Pflöcke in den Fluss des Lebens, um Orientierung zu haben und urteilen zu können. Jemand hat seine Großmutter umgebracht, also ist er ein Mörder. Die Vorgeschichte dieses Ereignisses spricht frei, in jedem Fall spricht sie frei. Sie wird aber nicht erzählt und will auch nicht gewusst werden. Weil die...




