Flaubert | Madame Bovary | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Reihe: Reclam Taschenbuch

Flaubert Madame Bovary

Sittenbild aus der Provinz
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-15-961897-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Sittenbild aus der Provinz

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Reihe: Reclam Taschenbuch

ISBN: 978-3-15-961897-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Emma den Landarzt Charles Bovary heiratet, träumt sie von Liebe, Luxus und Leidenschaft, von einem Leben, wie sie es aus ihren Romanen kennt. Doch der Alltag in der Provinz ist ganz anders als erhofft. In ihrem Bestreben, ihre Sehnsüchte zu erfüllen, lässt sie sich verführen und setzt damit eine verheerende Spirale aus Betrug und Verzweiflung in Gang. Gustave Flaubert brachte sein Ehebruchroman eine Anklage wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral ein. Das Gericht sprach den Autor zwar frei, rügte aber insbesondere den schockierenden Realismus, der sich in der erotisch aufgeladenen und psychologisch scharfen Darstellung der Emma Bovary zeigte. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Erster Teil


I


Wir hatten Arbeitsstunde, als der Direktor hereinkam; ihm folgten ein »Neuer«, der noch sein Zivilzeug anhatte, und ein Pedell, der ein großes Pult trug. Die geschlafen hatten, fuhren hoch, und alle standen auf, als seien sie beim Arbeiten überrascht worden.

Der Direktor deutete uns durch eine Handbewegung an, dass wir uns wieder setzen sollten; dann wandte er sich an den Studienaufseher:

»Monsieur Roger«, sagte er halblaut zu ihm, »diesen Schüler hier möchte ich Ihrer Obhut empfehlen; er kommt in die Quinta. Wenn sein Verhalten und sein Fleiß lobenswert sind, kann er ›zu den Großen‹ kommen, zu denen er seinem Alter nach gehört.«

Der Neue war in dem Winkel hinter der Tür stehengeblieben, so dass man ihn kaum hatte wahrnehmen können; er war ein Bauernjunge, ungefähr fünfzehn Jahre alt und größer als wir alle. Das Haar trug er über der Stirn geradegeschnitten, wie ein Dorfkantor; er sah klug und sehr verlegen aus. Obwohl er keine breiten Schultern hatte, schien seine grüne Tuchjacke mit den schwarzen Knöpfen ihn an den Ärmelausschnitten zu beengen; aus den Aufschlägen sahen rote Handgelenke hervor, die es gewohnt waren, nackt zu sein. Seine blaubestrumpften Beine kamen aus einer gelblichen, von den Trägern straff hochgezogenen Hose. Seine Schuhe waren derb, schlecht gewichst und mit Nägeln beschlagen.

Es wurde mit dem Vorlesen der Arbeiten begonnen. Er spitzte die Ohren und hörte zu, aufmerksam wie bei der Predigt, und wagte nicht einmal, die Beine übereinanderzuschlagen oder den Ellbogen aufzustützen, und um zwei Uhr, als es läutete, musste der Studienaufseher ihn besonders auffordern, damit er sich mit uns andern in Reih und Glied stellte.

Es herrschte bei uns der Brauch, beim Betreten des Klassenzimmers unsere Mütze auf die Erde zu werfen, um die Hände freier zu haben; es galt, sie von der Tür aus unter die Bank zu schleudern, so dass sie an die Wand schlug und viel Staub aufwirbelte; das war so üblich.

Aber sei es nun, dass dies Verfahren dem Neuen nicht aufgefallen war, oder sei es, dass er sich nicht getraute, sich ihm anzupassen, jedenfalls war das Gebet gesprochen, und er hielt noch immer seine Mütze auf den Knien. Es war eine jener bunt zusammengesetzten Kopfbedeckungen, in denen sich die Grundbestandteile der Bärenfellmütze, der Tschapka, des steifen Huts, der Otterfellkappe und der baumwollenen Zipfelmütze vereinigt fanden; mit einem Wort, eins der armseligen Dinge, deren stumme Hässlichkeit Tiefen des Ausdrucks besitzt wie das Gesicht eines Schwachsinnigen. Sie war eiförmig und durch Fischbeinstäbchen ausgebaucht; sie begann mit zwei kreisrunden Wülsten; dann wechselten, getrennt durch einen roten Streifen, Rauten aus Samt und Kaninchenfell miteinander ab; dann folgte eine Art Sack, der in einem mit Pappe versteiften Vieleck endete; dieses war mit komplizierter Litzenstickerei bedeckt, und am Ende eines langen, viel zu dünnen, daran herabhängenden Fadens baumelte eine kleine, eichelförmige Troddel aus Goldfäden. Die Mütze war neu; der Schirm glänzte.

»Steh auf«, sagte der Lehrer.

Er stand auf; seine Mütze fiel hin. Die ganze Klasse fing an zu lachen.

Er bückte sich, um sie aufzunehmen. Einer seiner Nebenmänner stieß sie mit einem Ellbogenschubs wieder hinunter; er hob sie noch einmal auf.

»Leg doch deinen Helm weg«, sagte der Lehrer; er war ein Witzbold.

Die Schüler brachen in schallendes Gelächter aus, und das brachte den armen Jungen so sehr aus der Fassung, dass er nicht wusste, ob er seine Mütze in der Hand behalten, sie am Boden liegenlassen oder sich auf den Kopf stülpen solle. Er setzte sich wieder hin und legte sie auf seine Knie.

»Steh auf«, sagte der Lehrer wiederum, »und sag mir deinen Namen.«

Der Neue stieß mit blubbernder Stimme einen unverständlichen Namen hervor.

»Nochmal!«

Das gleiche Silbengeblubber wurde vernehmlich, überdröhnt vom Gebrüll der Klasse.

»Lauter!«, rief der Lehrer, »lauter!«

Da fasste der Neue einen verzweifelten Entschluss, machte seinen maßlos großen Mund auf und stieß mit vollen Lungen, wie um jemanden zu rufen, das Wort »Charbovari« hervor.

Es entstand ein Lärm, der mit jähem Schwung losbrach, im mit dem Gellen schriller Stimmen anstieg (es wurde geheult, gebellt, getrampelt und immer wieder gerufen: Charbovari! Charbovari!), der dann in Einzeltönen einherrollte, äußerst mühsam zur Ruhe kam und manchmal unvermittelt auf einer Bankreihe wieder losbrach, wo hier und dort ein unterdrücktes Lachen laut wurde, wie ein nicht ganz ausgebrannter Knallfrosch.

Unter dem Hagel von Strafarbeiten stellte sich die Ordnung in der Klasse allmählich wieder her, und der Lehrer, dem es endlich gelungen war, den Namen Charles Bovary zu verstehen, nachdem er sich ihn hatte diktieren, buchstabieren und nochmals vorlesen lassen, wies sofort dem armen Teufel einen Platz auf der Strafbank an, unmittelbar vor dem Katheder. Er setzte sich in Bewegung, aber ehe er hinging, zögerte er.

»Was suchst du?«, fragte der Lehrer.

»Meine Mü…«, sagte der Neue schüchtern und sah sich beunruhigt rings um.

»Fünfhundert Verse die ganze Klasse!« Die wütende Stimme, die das ausgerufen hatte, vereitelte wie das »Quos ego« einen neuen Sturmausbruch. – »Verhaltet euch doch ruhig!«, fuhr der Lehrer unwillig fort und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, das er unter seinem Käppchen hervorgezogen hatte. »Und du, der Neue, du schreibst mir zwanzigmal ab ›ridiculus sum‹.«

Dann, mit milderer Stimme:

»Na, deine Mütze, die wirst du schon wiederfinden; die hat dir keiner gestohlen!«

Alles war wieder ruhig geworden. Die Köpfe neigten sich über die Hefte, und der Neue verharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obwohl von Zeit zu Zeit ein Kügelchen aus zerkautem Papier, das mittels eines Federhalters geschleudert wurde, auf seinem Gesicht zerplatzte. Aber er wischte sich mit der Hand ab und blieb reglos mit niedergeschlagenen Augen sitzen.

Abends, bei der Arbeitsstunde, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult hervor, brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und richtete sorgsam sein Schreibpapier her. Wir beobachteten ihn, wie er gewissenhaft arbeitete, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich große Mühe gab. Wohl dank dieser Gutwilligkeit, die er bezeigte, brauchte er nicht in die nächstniedrige Klasse zurückversetzt zu werden; denn er beherrschte zwar ganz leidlich die Regeln, besaß jedoch in den Wendungen nicht eben Eleganz. Die Anfangsgründe des Lateinischen hatte der Pfarrer seines Dorfs ihm beigebracht; aus Sparsamkeit hatten seine Eltern ihn so spät wie möglich aufs Gymnasium geschickt.

Sein Vater, Charles Denis Bartholomé Bovary, ein ehemaliger Bataillons-Wundarzt, hatte um 1812 bei Aushebungen Unannehmlichkeiten gehabt und war damals gezwungen, aus dem Heeresdienst auszuscheiden; er hatte nun seine persönlichen Vorzüge ausgenutzt und im Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Francs eingeheimst, die sich ihm in Gestalt der Tochter eines Hutfabrikanten darbot; sie hatte sich in sein Aussehen verliebt. Er war ein schöner Mann, ein Aufschneider, der seine Sporen laut klingen ließ, einen Backen- und Schnurrbart trug, stets Ringe an den Fingern hatte und sich in Anzüge von auffälliger Farbe kleidete; er wirkte wie ein Haudegen und besaß das unbeschwerte Gehaben eines Handelsreisenden. Nun er verheiratet war, lebte er zwei oder drei Jahre vom Vermögen seiner Frau, aß gut, stand spät auf, rauchte aus langen Porzellanpfeifen, kam abends erst nach dem Theater nach Hause und war ein eifriger Café-Besucher. Der Schwiegervater starb und hinterließ wenig; er war darob empört, übernahm schleunigst die Fabrik, büßte dabei einiges Geld ein und zog sich danach aufs Land zurück, wo er es zu etwas bringen wollte. Aber da er von der Landwirtschaft nicht mehr verstand als von gefärbtem Baumwollstoff, da er seine Pferde lieber ritt, anstatt sie zur Feldarbeit zu schicken, da er seinen Zider lieber flaschenweise trank, anstatt ihn fassweise zu verkaufen, das schönste Geflügel seines Hofs selber aß und sich seine Jagdstiefel mit Schweinespeck einfettete, sah er nur zu bald ein, dass er am besten tue, wenn er auf jede geschäftliche Betätigung verzichte.

Also pachtete er für zweihundert Francs im Jahr in einem Dorf des Grenzgebietes der Landschaft Caux und der Picardie eine Heimstatt, die halb Bauernhof, halb Herrenhaus war; und zog sich, verbittert, von Reue zernagt, unter Anklagen wider den Himmel dorthin zurück; er war jetzt fünfundvierzig Jahre alt; die Menschen ekelten ihn an, wie er sagte, und er war entschlossen, fortan in Frieden zu leben.

Seine Frau war anfangs toll in ihn verschossen gewesen; unter tausend Demütigungen hatte sie ihn geliebt, und diese hatten ihn noch mehr von ihr entfernt. Ehedem war sie heiter, mitteilsam und herzlich gewesen; bei zunehmendem Alter war sie (wie abgestandener Wein, der sich in Essig umsetzt) mürrisch, zänkisch und nervös geworden. Zunächst hatte sie, ohne zu klagen, sehr gelitten, als sie ihn allen Dorfdirnen nachlaufen sah...



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