E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Flanery Ich bin niemand
Erscheinungsjahr 2017
ISBN: 978-3-641-19994-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-19994-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als der Geschichtsprofessor Jeremy O’Keefe nach zehn Jahren aus Oxford in seine Heimatstadt New York zurückkehrt, um dort an der New York University zu unterrichten, gerät er in einen Sog seltsamer Vorfälle: Eine Studentin kommt nicht zum verabredeten Treffen, später stellt er verdutzt fest, dass er selbst die Verabredung abgesagt haben soll; ein ihm unbekannter junger Mann behauptet, ihn zu kennen; eine Reihe Pakete erreichen ihn, mit den Ausdrucken seiner Telefonverbindungen und seines Mailverkehrs der letzten Monate; der mysteriöse junge Mann taucht immer wieder auf – O’Keefe fühlt sich verfolgt, kann die Geschehnisse nicht zuordnen. Ist jemand hinter ihm her? Spielt ihm jemand einen bösen Streich? Wird er überwacht? Oder wird er einfach verrückt? Nach und nach stellt sich heraus, dass der Ursprung dieses Rätsels in O’Keefes Zeit in Oxford begründet liegt.
Ein stilistisch herausragender, hochintelligenter Roman über Erinnerung, Verdrängung und das, was geschieht, wenn unsere Vergangenheit uns einholt.
Patrick Flanery wurde 1975 in Kalifornien geboren und lebt seit Jahren in Großbritannien. Nach einer Promotion an der Universität von Oxford unterrichtete er zunächst in Sheffield Literatur und arbeitet heute in London als Publizist. Sein Interesse gilt der Literatur und dem Filmschaffen Südafrikas. Absolution, sein erster Roman, wurde vielfach nominiert u.a. für den Guardian First Book Award, den Desmond Elliot Award, den IMPAC Dublin Award und den Royal Society of Literature’s Ondaatje Prize.
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Als ich Anfang dieses Jahres
Als ich Anfang dieses Jahres nach New York zurückkehrte, hatte ich über ein Jahrzehnt in Oxford gelebt. Da es mir nicht gelungen war, eine feste Stelle an der Columbia University zu bekommen, glaubte ich, Großbritannien könne meiner Karriere einen Neustart ermöglichen, auch wenn ich immer vorhatte, nach Amerika zurückzukehren, und mir vorstellte, ich würde höchstens ein paar Jahre im Ausland bleiben. In der Zwischenzeit hat sich Amerika jedoch so drastisch verändert – durch Zufall bin ich direkt nach den Angriffen auf New York abgereist –, dass ich mir jetzt nicht weniger fremd vorkomme als während jener langen Jahre in Großbritannien.
Ich hatte zwar die britische Staatsbürgerschaft erworben und besaß ein Haus in Ostoxford, in einer Straße mit dem recht optimistischen Namen Divinity Road, die mit zunehmender Steigung auch an Wohlstandsflair gewinnt, doch die Integration von Einwanderern hat in Großbritannien keine Tradition, daher spielte es für meine britischen Kollegen, Freunde und Studenten kaum eine Rolle, dass ich von Rechts wegen einer der Ihren war. In erster Linie war ich Amerikaner und würde es immer bleiben. Vielleicht ist vollständige Assimilation möglich, wenn man als junger Mensch kommt, aber ich war in den Vierzigern und meine Gewohnheiten zu festgefahren, als dass ich sie noch hätte ändern und über den rechtlichen Status hinaus hätte Brite werden können.
Nach Abschluss meiner Promotion in Princeton hätte ich mir nicht unbedingt die New York University als Arbeitsplatz ausgesucht, aber jetzt war ich euphorisch, als die Fakultät für Geschichte der NYU mich aufforderte, mich um eine Professur zu bewerben, und noch glücklicher, als mir die Stelle auch angeboten wurde, überzeugt davon, dass nun meine Jahre fern von der Heimat zu Ende waren. Es ist erstaunlich, wie sehr die Distanz die Haltung beeinflussen kann, und obgleich ich allein aus eigenem Antrieb nach Großbritannien gegangen war, wurde ich nach den ersten Jahren zunehmend unruhig und verbittert, weil mir ein vollwertiges amerikanisches Leben verwehrt blieb, so schien es mir jedenfalls damals. Ich machte meine früheren Kollegen an der Columbia University und welche Machenschaften auch immer dazu geführt hatten, dass mir dort keine feste Stelle angeboten worden war, dafür verantwortlich, dass ich nun als recht bescheidener Fellow und Dozent von vorn anfangen musste, an einem von Oxfords älteren Colleges, das, obwohl im fünfzehnten Jahrhundert gegründet, nicht die intelligentesten Studenten anzog und finanziell auch nicht aufs Beste ausgestattet war.
Dennoch empfand ich es mit der Zeit als angenehmen Aufenthaltsort, auch wenn das Arbeitspensum beträchtlich größer war als an einer vergleichbaren amerikanischen Institution, denn in Oxford werden Studenten weiterhin individuell oder in kleinen Gruppen unterrichtet und die Beratungs- und Betreuungspflicht ist stets dehnbar, anders als in der akademischen Welt Amerikas. Ich gewöhnte mich daran, dass der Collegekoch mir das Mittagessen auf meine Zimmer schickte, wenn er nicht zu beschäftigt war, und oft ein paar Leckerbissen (wir sagen dazu tidbit, die Briten titbit) vom High-Table-Dinner des vorigen Abends hinzufügte. In den Collegekellern gab es exzellente Weine, und das Leben verlief seit Jahrhunderten in den gleichen Bahnen, mit so gut wie dem einzigen Unterschied, dass nun auch Frauen aufgenommen wurden, was einige Dons zu meiner Zeit immer noch für eine verfehlte Modernisierung hielten, die den Charakter von Oxford unwiderruflich verändert hatte, davon ließen sie sich nicht abbringen.
Ich hatte Glück mit der Lage auf dem Immobilienmarkt und verkaufte vor meiner Rückkehr nach New York diesen Juli das Haus in der Divinity Road mit dem unglaublichen Profit von einer Million Dollar, die ich in ein Haus und etwas Land mit Blick auf den Hudson River ein paar Stunden nördlich der Stadt investierte, während ich die großzügig von der NYU subventionierte Wohnung in den Silver Towers in der Houston Street bezog. Schön ist die Wohnung nicht, aber es sind nur fünf Minuten zu Fuß bis zur Bobst Library, und ich habe es genossen, wieder in einer Stadt zu sein, die in einer Weise Weltstadt ist, wie es Oxford bestimmt nie sein wird, trotz der vielen internationalen Studenten und Wissenschaftler, die geschäftig durch seine Straßen eilen.
Die Heimkehr bedeutete natürlich, dass ich meine Tochter öfter als ein- oder zweimal im Jahr sehen würde, wie während meiner Zeit in Großbritannien üblich. Der Verlust meiner Festanstellung war mit dem Scheitern meiner Ehe einhergegangen obwohl beides nichts miteinander zu tun hatte und es keinen Schuldigen gab. Dennoch hatte diese Gleichzeitigkeit bei mir damals das Gefühl verstärkt, dass ein Neuanfang anstand; nicht nur meine Karriere in der akademischen Welt von Amerika war, soweit ich es beurteilen konnte, zu Ende, sondern auch meine Ehe.
Vor ein paar Wochen, mein erstes Semester in New York hatte gerade erst angefangen, hatte ich einen Termin mit einer Doktorandin, deren Prüfungskommission ich zugeteilt worden war. In Oxford hatte ich mir einen zwanglosen Umgang mit Studenten, besonders mit Absolventen, angeeignet, daher schlug ich Rachel ein Treffen in einem Café am Samstagnachmittag vor Thanksgiving vor. Das Café gehörte zu einer Reihe von Lokalen mit italienischem Ambiente in der MacDougal Street und behauptete, dort schon länger ansässig zu sein als wahrscheinlich war, aber der Kaffee war günstig und die Gebäckauswahl in der Glasvitrine wirkte authentisch. Es half mir, den Kulturschock ein wenig zu dämpfen, den ich seit meiner Rückkehr nach Amerika empfand, und gestattete mir einen Moment lang zu glauben, dass jene Kennzeichen europäischen Lebens, die ich lieb gewonnen hatte, auch auf dieser Seite des Atlantiks sichtbar seien. Demzufolge kehrte ich regelmäßig jede Woche im Caffè Paradiso ein, zumal es auch der ruhige und geräumige Ort war, an dem man Freunde und Studenten treffen und lange Gespräche führen konnte, ohne das Gefühl zu haben, dass ein Kellner oder eine Kellnerin einen gleich hinauskomplementieren würde. Es hat mehr Atmosphäre und Lebendigkeit als irgendeins der Kettencafés und ist nicht so hektisch, wie die Lokale, die sich einen bohemehaften Anstrich geben und so überfüllt sind, dass man um einen Tisch kämpfen muss und dann den Druck herumkreisender Gäste spürt, die nach den ersten Anzeichen einer Bewegung Ausschau halten, die sich zu einem Aufbruch auswachsen könnte. Das Caffè Paradiso ist nicht schick oder hip, aber es hat eine schlichte Eleganz, der es, so vermute ich, seine lange Geschichte zu verdanken hat – entweder das, oder es dient als Deckadresse für Geldwäsche, was in dieser Stadt immer möglich ist.
Rachel erschien für gewöhnlich pünktlich zu unseren Besprechungen, und wir hatten bereits im September ein Treffen gehabt, das ich in Oxford als Dissertationsgespräch bezeichnet hätte, jetzt jedoch eher eine Beratung genannt hätte, oder, wenn das zu geschäftsmäßig klang, schlicht Verabredung zum Kaffee. In den zwei Monaten seither hatte ich wenig von Rachel gehört, bis sie mir den Entwurf eines Kapitels zusandte. Diese Arbeit, über die Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, war sehr kompetent. Meine Reaktion beschränkte sich auf wenige Vorschläge dazu, wie sie ihren methodischen Rahmen präzisieren könnte, trotzdem schrieb ich ihr, dass ich ein weiteres Treffen vor den Ferien für sinnvoll hielte.
Da ich immer zeitig da bin, wohin ich auch gehe, hatte ich ein Buch mitgebracht, auch wenn ich nicht damit rechnete, dass Rachel mich warten lassen würde. Bei unserem ersten Treffen und bei allen darauffolgenden Besprechungen machte sie den Eindruck einer jungen Frau von außerordentlicher Akribie und Pünktlichkeit, sogar Penibilität. Zeit und Ort unseres letzten Treffens hatte sie mir bereits mehrere Tage im Voraus schriftlich bestätigt, ehe ich es getan hatte, und als ich verabredungsgemäß im Café an der südöstlichen Ecke des Washington Square ankam, hatte sie schon auf mich gewartet.
Bei diesem zweiten Treffen vor ein paar Wochen bestellte ich einen Café Americano, wählte einen Tisch am Fenster und schlug mein Buch auf. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr, welches es war, vielleicht Paul Virilios Open Sky oder etwas in der Art, aber bald wurde mir bewusst, dass ich bereits zehn Seiten gelesen hatte, und als ich auf meine Uhr sah, war es fast Viertel nach vier, fünfzehn Minuten später als verabredet. Ich holte mein Handy heraus, ein altmodisches schwarzes Plastikteil, das keine E-Mails senden oder empfangen konnte, aber ich konnte Rachel zumindest eine SMS schicken, dachte ich, so wie manchmal meiner Tochter, wenn ich mit ihr verabredet war und im Verkehr stecken blieb. Als ich mein Telefonbuch durchsuchte, fand ich Rachels Namen zu meiner Überraschung nicht darin, obwohl ich sicher war, dass ich ihre Daten bei unserem Treffen im September eingegeben hatte.
Es vergingen weitere zehn Minuten, und ich holte wieder mein Handy heraus, prüfte noch einmal, ob ich nicht ihre Nummer übersehen hatte, vielleicht war sie unter dem Nachnamen statt dem Vornamen gespeichert, aber da war nichts. Möglicherweise hatte ich irgendwann den Eintrag versehentlich gelöscht, meine Finger sind nicht mehr so geschickt wie einst, und es fällt mir schwer, die winzigen Tasten auf meinem Handy zu treffen. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein, Rachels Namen und Nummer ins Telefonbuch aufgenommen zu haben, schlussfolgerte ich, oder ich erinnerte mich lediglich an eine Absicht, die ich nicht umgesetzt hatte.
Ich hatte den Kaffee aufgespart, beschloss aber...