E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Flammer Entwicklungstheorien
5. unveränderte Aufl 2017
ISBN: 978-3-456-95810-1
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-456-95810-1
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Kann sich der Mensch ein Leben lang entwickeln? Oder muss er sogar? Wie viel Einfluss hat er selber auf seine Entwicklung? Oder anders gefragt: Entwickeln sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene anhand eines angeborenen Programms oder aus der Notwendigkeit, sich an immer neue Bedingungen und Ansprüche der Umwelt anzupassen? Oder ganz einfach aus Lust und aus Freude am Neuen? Und was sind das für Veränderungen, die man Entwicklung nennt? Lernen? Reifen? Krisenbewältigung? Neues aufsuchen und verarbeiten? Sich anpassen, gelten lassen, sich arrangieren? Große Denkerinnen und Denker wie Piaget, Sigmund und Anna Freud, Erikson, Margaret Mahler, Wygotski und viele andere mehr haben gründlich über solche Fragen nachgedacht. Ihre Erkenntnisse werden im vorliegenden Buch in allgemein verständlicher Form dargestellt, gegenseitig verglichen und an wissenschaftlichen Befunden gemessen. Das Standardwerk zum Thema Entwicklungstheorien richtet sich an all jene, die über Entwicklung nachdenken, einen umfassenden Überblick über die Vielfalt einzelner Entwicklungserscheinungen erwerben und sich auf jeden Fall nicht einer einzigen „Schule“ verschreiben möchten.
Zielgruppe
Psychologen, Pädagogen, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen, Religionspädagogen, Psychiater, Pädiater, Geriater, Sozialarbeiter
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Geriatrie, Gerontologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Lehrerausbildung, Unterricht & Didaktik Allgemeine Didaktik Religionspädagogik, Religionsdidaktik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Pädiatrie, Neonatologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis und Vorworte;7
2;1 Entwicklung – Theorie –Entwicklungstheorie;15
3;2 Die Kontroverse um die Anlage- und Umwelteinflu?sse auf die Entwicklung;29
4;3 Endogenistische Entwicklungstheorien;49
5;4 Exogenistische Entwicklungsauffassungen;63
6;5 Die psychoanalytische Entwicklungstheorie;75
7;6 Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson;95
8;7 Humanistische Entwicklungstheorie;115
9;8 Adaptation und Strukturgenese nach Jean Piaget;131
10;9 Kritische Auseinandersetzung mit Piaget;159
11;10 Kohlbergs Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils;173
12;11 Die Theorie der Fertigkeitsentwicklung nach Kurt W. Fischer;191
13;12 Robbie Case: Entwicklung als Problemlösen und Entwicklung des Problemlösens;211
14;13 Entwicklung als dialektischer Prozess;227
15;14 Die ökologische Entwicklungstheorie von Urie Bronfenbrenner;247
16;15 Ansätze zu einer systemischen Entwicklungstheorie;263
17;16 Entwicklung als kontrollierte Handlung;287
18;17 Physiologisch inspirierte psychologische Entwicklungstheorie;303
19;18 Neuere Theorien der Selbstentwicklung;317
20;19 Welche Theorie ist die beste?;341
21;Literaturverzeichnis;349
22;Personen- und Sachregister;379
2 Die Kontroverse um die Anlage- und Umwelteinflüsse auf die Entwicklung
Sind wir so, wie wir sind, weil es so in unseren Genen geschrieben steht oder weil wir und weil vor allem andere auf unsere Entwicklung in bestimmter Weise Einfluss genommen haben? Und nachdem wir jetzt sind, wie wir sind: Wie viel Entwicklungsspielraum bleibt uns noch? Wie sehr ist unsere Entwicklung vorprogrammiert? Das sind Fragen, welche die Psychologie seit ihren Anfängen begleitet haben. Und sie interessieren nicht nur die wissenschaftliche Psychologie, sondern auch jene Menschen, die sich auf solche Erkenntnisse (und Annahmen) beziehen, wenn sie Einfluss auf Menschen und die Gesellschaft nehmen: Fachpersonen und Laien der Erziehung und Bildung, der Sozialpolitik oder der Rechtspflege.
Dabei folgt nicht immer das Handeln der Erkenntnis, sondern oft die Argumentation dem Handeln. Privilegierte können ein Interesse daran haben, ihre Privilegien durch Verweis auf die Unabänderlichkeit der Unterschiede zwischen den Menschen zu verteidigen. Unterprivilegierte sind mehr an der Beeinflussbarkeit und Bildungsfähigkeit der Menschen interessiert, um sich selbst und ihresgleichen eine Chance zu geben oder gar die Ungleichheiten als Ungerechtigkeiten zu entlarven und mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Aber Habende mögen gelegentlich auch darauf verweisen, dass sie die Chancen der Verbesserung eben wahrgenommen hätten, während Nichthabende (z. B. Arbeitslose) sich einfach zu wenig anstrengten.
Das Gerechtigkeitsideal auf der Basis von allgemein gültigen Menschenrechten ist historisch eine neuere Errungenschaft. Im Altertum wurden schwach begabte und behinderte Menschen häufig abgeschoben (Haeberlin, 1985, S. 45). Und noch Rousseau (1762) hätte nicht ihr Erzieher sein wollen, wie er in seinem «Emil oder Über die Erziehung» (utb-Ausgabe 1975, S. 28) schrieb: Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher. Mit der Sorge für ein unnützes Leben verliert er die Zeit, die der Wertsteigerung dieses Lebens gewidmet war … Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet … Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke.
Es gab noch im letzten Jahrhundert ein Vernichtungsprogramm für Behinderte und Unpassende. Und berühmte Wissenschafter wie Terman (1916), Goddard (1920) und gar der Nobelpreisträger Shockley (1972) empfahlen eugenische Maßnahmen als «Entwicklungshilfe» für die Menschheit (vgl. Rosemann, 1979, S. 71). Auch forschungspolitisch wirkt sich dieses Ringen um Privilegien und Gerechtigkeit aus. Es gibt Forscher, die aufgrund ihrer Daten zu bestimmten Aussagen gelangten und dafür an Leib und Leben bedroht wurden1. Es existiert sogar der berechtigte Verdacht, dass ein prominenter Forscher seine empirischen Daten zugunsten des Einflusses der Vererbung auf die menschliche Entwicklung gefälscht hat.2 Aber nicht nur Fälschungen, sondern auch tendenziöse Definitionen können die klare Sicht auf die Befund - lage trüben. So wurde noch vor 25 Jahren von Scarr und Kidd (1983, S. 346) kurz und bündig definiert: «Entwicklung ist der Prozess, durch den der Genotyp zum Phänotyp wird. Die Forscherin Diana Baumrind (1993, S. 1313) hingegen vertrat z. B. die Position, dass wir primär die veränderbaren Bedingungen der menschlichen Entwicklung erforschen sollten, damit durch deren Manipulation allenfalls mehr Gerechtigkeit geschaffen werden könne.
Tatsächlich hat das Ausmaß der Anlagedeterminiertheit der menschlichen Entwicklung sehr viel mit Chancengleichheit zu tun. Aber was soll man tun, solange die Frage empirisch nicht verlässlich geklärt ist? Man könnte einfach von der Hypothese der maximalen Lernbarkeit aller Fähigkeiten und Eigenschaften ausgehen. Solange man nicht genau wisse, ob und wie die Anlagen wirken, sei es verantwortungslos, die Hände resigniert in den Schoß zu legen, meinen etwa Umweltwirkungsverfechter; systematische Umweltgestaltung eröffne der Menschheit wenigstens eine Chance für Verbesserungen.