Flacke Das Mädchen aus dem Vinschgau
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0670-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 495 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0670-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Laas in Südtirol, 1519. Die junge Luzia ist unsterblich in den verarmten Bergbauer Toni verliebt. Doch ihr Vater, ein aufstrebender Marmorhändler, zwingt Luzia zur Verlobung mit Diethard, einem angesehenen Geldleiher für Steinmetzarbeiten. Sofia ist völlig verzweifelt, ihr Herz gehört nur Toni. Als der eines Tages spurlos verschwindet, zögert Luzia deshalb keine Sekunde und macht sich auf die gefährliche Suche nach ihm - unbarmherzig verfolgt von Diethard, der sich zurückholen will, was ihm gehört: Luzia...
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Göflan am Nördersberg, im Jahre 1519
1
Noch war es still. Eine dichte Schneedecke drückte die Zweige der Schwarzkiefern weit herunter. Die steilen Berghänge wirkten wie erstarrt, so wie jedes Mal, bevor der Schnee zerbarst. Nur wenig Sonnenlicht fiel durch die aschgrauen Wolken an den Bergspitzen. Kein Schrei des Steinadlers durchschnitt die Stille. Kein Lufthauch wiegte die sperrigen Zweige der alten Birnbäume. Auch der Himmel schien zu schweigen.
Luzia stapfte und stolperte durch hohe Schneewehen, die der Jochwind aufgetürmt hatte, und hastete immer weiter auf das Steinhaus zu, das vorgelagert auf einer gerodeten Bergebene lag.
Sie zitterte am ganzen Leib. Die Murmeltierfelle, die mit Eisenstiften an die Kanten ihrer Holzschuhe genagelt und mit Schnüren um die Waden gewickelt waren, wärmten nur wenig. Die Tierhäute waren brüchig geworden und rissen Fetzen für Fetzen an den Nägeln ein.
Frost sog die Wärme aus Luzias Füßen. Die nackten Finger brannten vor Kälte. Trotzdem hielt sie eine kleine Kupferkanne mit kostbarem Öl fest umklammert.
Nur kurz blickte sie sich um. Das Tal unter ihr versank im Dunst, den der Fluss ausatmete. Hin und wieder schimmerten die schiefergrauen Fluten der Etsch auf, die sich durch die sumpfige Ebene schlängelte.
Nur weiter! Wie getrieben hastete Luzia voran. Noch war alles ruhig. Doch ihr war, als würde sich die Luft bedrohlich zusammenballen. Der Atem brannte ihr in der Lunge, sie keuchte und hustete und leckte sich über die ausgetrockneten Lippen. Wieder schob sie die fröstelnden Finger der einen Hand unter die Fellmütze, die an Fuchsschwänzen unter dem Kinn festgebunden war, während sie mit der anderen das Kupferkännchen an sich drückte. Ihr dicker Zopf baumelte an einer Seite vor dem Lodenumhang hin und her, Schneekristalle hatten sich in dem dunklen Haar verfangen.
Der Nebel im Tal kroch unerbittlich die Dörfer hoch, durch enge Gassen und schmale Wege, und ließ die kahlen Felder und Baumwipfel ringsum im Dunstschleier versinken.
Keine dreihundert Schritte mehr waren es bis zu Luzias Elternhaus, das aus Bruchsteinen der Berge hochgemauert war. Eine helle Rauchfahne quoll aus dem Schornstein, zerfaserte allmählich und löste sich auf. Das Schrägdach mit den Holzschindeln war vom Schnee freigeschaufelt worden, damit es unter der schweren Last nicht zusammenbrach. Auch das Dach vom Viehstall war mit Brettern freigeschabt worden, denn dort malten sich Furchen und Kratzer neben den Steinbrocken ab, die als Gewicht auf den Querlatten lagen.
Das Holzhaus der Birchlers weiter hinten lag wie verloren da. Kein Ofen war entzündet, keine Rauchfahne stieg auf. Nur ein festgetrampelter Pfad führte von dort durch den Schnee zu ihrem eigenen Haus herüber.
Luzia stockte. War da nicht ein Knirschen, Bersten und Rutschen zu hören? Sie warf einen schnellen Blick zum Berghang hoch. In den letzten Tagen war es wärmer geworden. Die Schneemassen waren jetzt schwer und rutschig, die Kristalle vollgesogen mit Wasser, rissige Spalten durchzogen das Weiß.
Sie hastete weiter. Eisklumpen klebten an den zerrissenen Murmeltierfellen, und Luzia rutschte fast aus den Holzschuhen, zog dann aber die Zehen mit den umwickelten Lappen hoch und fand besseren Halt.
Nur noch ein paar Schritte! Die eiskalten Finger ihrer linken Hand griffen nach dem Türriegel und pressten ihn zur Seite. Er klemmte ein wenig, denn das Holz hatte sich verzogen. Es knarrte und quietschte, als sie die schwere Eingangstür aufdrückte. Dann stolperte sie in den düsteren Flur.
»Kind, wo bleibst du denn?« Luzias Mutter, die Moidl, eine kleine, drahtige Frau, zog hastig die niedrige Tür wieder zu. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie ihrer Tochter den Schnee vom Lodenrock, der schwer über die schmalen Hüften fiel. »Und? Hast du es?«
Luzia nickte und öffnete langsam die rotgefrorene Hand. Ein Schmerz wie von glühendem Eisen durchfuhr ihre Finger. »Es ging nicht schneller. Die alte Magda musste noch Schweinefett …«
»Später, Kind, später!« Erleichtert nahm die Moidl das kupferne Kännchen an sich. »Komm in die Stube. Wer weiß schon, was geschieht.« Während sie zurückhastete und ihre Schritte im Flur nachhallten, raunte sie: »Sie hat es. Jesus Maria, sie hat es. Endlich.«
»Und? Was hat sie denn?«, war die neugierige Stimme der Trina Birchler zu hören. Die Nachbarn aus dem hinteren Holzhaus hatten hier Zuflucht gesucht. »Was ist denn dadrin, in der Kanne?«
»Nichts weiter«, antwortete die Moidl verlegen. »Nur ein … Öl. Für rissige Haut.«
»Dass die Weiber nur an glatte Haut denken können!« Ferdl, Luzias älterer Bruder, zog verächtlich die Oberlippe hoch. »Und sie ist spät dran. Hat wieder mal getrödelt. Wie üblich!«
»Ein Mädel! Was kann man da anderes erwarten?« Diethard, der Sohn der Birchlers und ein kräftiger Bursche, der wohl zuzupacken wusste, spuckte die Worte aus wie vergorene Mehlklumpen. Er hielt nichts von Weibern, ihrem Getratsche und der häuslichen Arbeit, die sie zu verrichten hatten. Trotzdem starrte er Luzia, die schon im heiratsfähigen Alter war, oft wie entrückt hinterher. Und sein glasiger Blick verriet, dass er sich nur allzu gerne vorstellte, was sich da unter ihrem schwingenden Lodenrock verbarg.
Die Birchlers vom Nachbarshof waren Zugezogene, arme Bauersleute. Man erzählte sich, sie kämen ganz aus der Nähe von Einsiedeln und wären sogar entfernt mit dem Vogt Hans Birchler verwandt. Sie hätten ganz in der Nähe dieses berühmten Wallfahrtsortes gelebt, nicht weit vom Benediktinerkloster mit seiner Kapelle, die von Christus selbst und seinen Engeln geweiht worden war. Und wohin zum Fest der Engelsweihe jährlich über hunderttausend Pilger strömten und beteten und Pilgerabzeichen erwarben, die sie sich an die Joppe oder den Filzhut steckten.
Die Moidl wäre zu gerne einmal nach Einsiedeln gepilgert, den weiten Weg über den Alpenpass bei Reschen bis zur heiligen Stätte mit der Schwarzen Madonna. Vielleicht würde der Herrgott ihr ja später einmal die Zeit dafür schenken.
Dafür wanderte sie nach Taufers ins Münstertal zur Kirche St. Johann, die für Pilger auf ihrer Wallfahrt nach Chur errichtet worden war. Das Gewölbe war mit Wandfresken ausgemalt, die der Moidl jedes Mal den Atem stocken ließen. Da war ein Adler mit zwei Köpfen zu sehen, die Taufe Christi, Moses als Gesetzgeber, Juden, Äbte, Fürsten, Ritter, die Enthauptung Johannes’ des Täufers, die heilige Katharina …
Man mochte kaum hochschauen, pflegte die Moidl zu sagen, sonst würden die Augen ganz betrunken von so viel Malerei.
Das Prunkstück aber war für die Moidl die Schwarze Madonna mit dem Kind, die den Pilger schon draußen über der Tür empfing. Immerhin ein schwacher Trost, wenn es ihr vorerst nicht vergönnt war, nach Einsiedeln zu pilgern.
Warum die Birchlers aber von dort erst vor Kurzem hergezogen waren, hierher in die Nähe von Laas, Göflan und Schlanders, und die kleine Holzhütte auf der Hochebene nah dem Berghang erworben hatten, das konnte keiner sagen. Vielleicht hatten sie Dreck am Stecken und mussten fliehen. Wer wusste das schon.
Luzia mochte den Birchlersohn Diethard nicht, nicht sein aufreizendes Grinsen und erst recht nicht, wenn er sich mit seinem muskulösen Oberkörper aufplusterte und gebärdete wie ein brünstiger Hirsch. Im Spätsommer erst hatte sie ihn bei aufkommender Dunkelheit vor ihrem Kammerfenster erwischt, wo er wohl öfter herumlungerte. Seitdem schloss sie die alten Holzläden schon früh und hängte sogar Wolllappen vor die Ritzen.
»Wahrscheinlich hat Luzia noch mit Weibern getratscht und Zeit verplempert«, platzte Ferdl von der Stube her in ihre Gedanken. »Die plappern doch immer munter drauflos, sobald zwei zusammenstehen.«
»Ich sagte ja schon: ein Mädel!« Diethard entfuhr ein spöttisches Glucksen. »Denen ist das Plappern angeboren. Wie den Rindsviechern das Fladenscheißen.«
»Willst du wohl Ruhe geben!«, rief Alois Birchler seinen Sohn zur Ordnung.
Luzia hauchte verärgert auf ihre klammen Finger. Plappern und tratschen! War es ihre Schuld gewesen, dass die alte Magda zuerst das ausgelassene Schlachtfett mit den gerösteten Grammeln in die Steinguttöpfe hatte gießen wollen? Dass sie sich im Wassertrog die Hände geschrubbt und dann erst hinter dem Verschlag das kostbare Öl hervorgeholt hatte? Verbeugt hatte sie sich davor, die alte Magda. Ganz tief. Und dann die strähnigen Haare zurückgekämmt, als wollte sie ihr Leben neu ordnen.
Drüben in der Stube erhob die Moidl gerade ihre Stimme. Ein Bittgebet floss über ihre Lippen, dass der heilige Vigilius, der Wetterheilige und Achtsame, sich ihrer erbarmen sollte. Die anderen fielen raunend mit ein, und ihre Gebete vermischten sich zu einem beschwörenden Singsang.
Im düsteren Flur löste Luzia die Knoten von den Schnüren, die um die Murmeltierfelle gebunden waren, und zog die Füße aus den Holzschuhen. Vorsichtig wickelte sie die Lappen ab und rieb und knetete die unterkühlten Zehen, bis sie schmerzten.
»Luzia! Wo bleibst du denn?«, platzte ihr Vater Jakob in die Gebete, die anschwollen wie das Murmeln eines Gebirgsbaches, der unbeirrt seinen Weg talabwärts sucht. »Komm endlich! Was trödelst du wieder herum?«
Luzia zerrte sich die Fellmütze vom Kopf, ohne die Fuchsschwänze aufzuknoten, schlüpfte schnell in Strümpfe und hastete in die Stube.
Dort war es düster. Die Holzläden waren zugeklappt, nur hauchdünne Lichtstreifen sickerten durch die Ritzen. Eine Kerze aus...




