Fitzpatrick Mein Leben nebenan
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-11440-4
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-11440-4
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Huntley Fitzpatrick wuchs in einem kleinen Küstenort in Connecticut auf, der die Vorlage für den Ort Stony Bay in ihrem Bestseller 'Mein Sommer nebenan' und dessen Fortsetzung 'Mein Leben nebenan' lieferte. Schon als Kind wollte sie Schriftstellerin werden. Nach dem Universitätsabschluss arbeitete Huntley Fitzpatrick unter anderem als Lektorin in einem großen Verlag.
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Zweites Kapitel
Es ist dir also wirklich ernst damit?«
Ich packe gerade meine letzten Klamotten in einen Karton, als Ma, wie immer ohne anzuklopfen, in mein Zimmer kommt. Verdammt gefährlich, wenn man einen dauergeilen siebzehnjährigen Sohn hat. Sie bleibt in der Tür stehen, mit ihrer rosa Bluse und dem Jeansrock, der mit … Krebsen? … bestickt ist.
»Ich tue nur, was man mir gesagt hat, Ma.« Ich quetsche noch ein Paar Flipflops in den bereits vollgestopften Karton. »Pas Wünsche sind mir Befehl.«
Sie tritt einen Schritt zurück, als hätte ich sie geohrfeigt. Liegt wahrscheinlich an meinem Ton. Ich bin jetzt seit fast zwei Monaten trocken, aber immer noch süchtig danach, mich wie ein Arschloch zu benehmen. Ha.
»Du hattest so viele Privilegien, die ich nie hatte, Timothy …«
Jetzt geht das wieder los.
»… Privatschule, Schwimmunterricht, Tennis-Camp …«
Jep, ich bin ein alkoholsüchtiger Highschool-Abbrecher, aber hey, schaut euch meine fantastische Rückhand an!
Sie schüttelt so heftig einen blauen Blazer aus, dass es ein schnalzendes Geräusch macht. »Und was wirst du jetzt tun? Weiter in diesem Baumarkt arbeiten und zu diesen Meetings gehen?«
Das Wort Baumarkt klingt aus ihrem Mund wie Pornoschuppen und zu diesen Meetings gehen wie diese Sexvideos drehen.
»Es ist ein guter Job. Und ich brauche diese Meetings.«
Ma streicht den Stapel mit meinen zusammengefalteten Klamotten glatt. Auf ihren sommersprossigen Händen treten blaue Adern hervor. »Ich verstehe nicht, wie irgendwelche fremden Leute dir besser helfen können als deine eigene Familie.«
Ich öffne den Mund, um zu sagen: Ich weiß, dass du es nicht verstehst. Deshalb bin ich auf fremde Leute angewiesen. Oder: Onkel Sean hätte diese fremden Leute gut gebrauchen können. Aber darüber spricht man in unserer Familie nicht.
Ich stopfe noch ein Paar wahrscheinlich zu klein gewordene Segelschuhe in den Karton, bevor ich zu ihr rübergehe und sie in den Arm nehme.
Sie tätschelt kurz meinen Rücken und löst sich dann wieder von mir.
»Kopf hoch, Ma. Nan wird definitiv an der Columbia angenommen werden. Nur eines von deinen Kindern ist ein beschissener Versager.«
»Achte auf deine Ausdrucksweise, Tim.«
»Tut mir leid. Ein dämlicher Wichser, der nichts auf die Reihe kriegt.«
»Tim!«
Ja, schon gut. Was soll’s.
Meine Zimmertür fliegt auf – wieder ohne dass vorher angeklopft wird.
»Da ist ein Mädchen für dich am Telefon, Tim. Sie klingt, als hätte sie eine Kehlkopfentzündung«, sagt Nan und runzelt die Stirn, als ihr Blick auf meine gepackten Sachen fällt. »Gott, so wird doch alles total knittrig.«
»Stört mich ni–« Weiter komme ich nicht, denn da hat sie den Karton schon auf meinem Bett ausgeleert.
»Wo ist dein Koffer?« Sie fängt an, meine Sachen in kleine Stapel aufzuteilen. »Der blau karierte mit deinem Monogramm?«
»Keine Ahnung.«
»Ich gehe im Keller nachschauen«, ergreift Ma erleichtert die Gelegenheit, das Zimmer zu verlassen. »Was ist mit diesem Mädchen, Timothy? Soll ich dir das Telefon bringen?«
Ich wüsste nicht, welchem Mädchen ich irgendetwas zu sagen hätte. Außer Alice Garrett. Die mich definitiv nicht anrufen würde.
»Sag ihr, ich bin nicht da.«
Nie wieder.
Nan faltet hektisch Kleidungsstücke zusammen und sortiert meine Hemden nach Farbe und Material. Ich halte ihre Hände fest. »Hey. Lass es. Das ist nicht wichtig.«
Sie schaut auf. Shit, sie weint.
Wir Masons sind nah am Wasser gebaut. Muss irgendeiner dieser irischen Flüche sein. Ich schlinge ihr einen Arm um den Nacken und klopfe ihr auf den Rücken. Sie fängt an zu husten und muss kurz lachen.
»Du kannst mich jederzeit besuchen kommen, Nano. Wann immer du das Gefühl hast … es hier nicht mehr auszuhalten … oder so.«
»Das wird aber nicht dasselbe sein«, sagt Nan und wischt sich mit dem Saum meines Hemds über die Nase.
Sie hat recht. Es wird nicht dasselbe sein. Nie wieder die ganze Nacht alte Steve-McQueen-Filme schauen, weil ich ihn cool finde und Nan ihn sexy. Keine Lakritzstangen und Schokoriegel mehr, die wie durch Zauberhand in meinem Zimmer auftauchen, weil Nan weiß, dass regelmäßige Zuckerzufuhr das einzige sichere Heilmittel gegen Drogenabhängigkeit ist.
»Sieh es von der positiven Seite. Du musst nie mehr meinen lahmen Arsch decken, wenn ich die ganze Nacht weg bin, musst nie mehr irgendwelche Ausreden aus dem Ärmel schütteln, wenn ich mal wieder irgendwo nicht aufgetaucht bin, und du musst dich nie wieder von mir um Kohle anschnorren lassen.«
Sie tupft sich mit meinem Hemd die Augen ab. Ich ziehe es aus und gebe es ihr. »Behalte es, dann hast du etwas, das dich an mich erinnert.«
Sie fängt tatsächlich an, es zusammenzufalten, und starrt anschließend tieftraurig auf das ordentliche kleine Quadrat. »Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich jeden vermissen, den ich je gekannt habe. Ich vermisse sogar Daniel. Ich vermisse Samantha.«
»Daniel war ein aufgeblasenes Arschloch und ein mieser Freund. Samantha, deine eigentlich beste Freundin, ist nur zehn Straßen und zehn Minuten – oder eine Handy-Nachricht – weit entfernt.«
Sie hockt sich auf den Boden, zieht ihre knochigen Knie an die Brust und legt ihre Stirn darauf, sodass ihre Haare ihr vom Weinen gerötetes Gesicht verdecken. Nan und ich sind beide rothaarig, aber sie hat die ganzen Sommersprossen abbekommen und ist von Kopf bis Fuß damit übersät, während ich sie nur auf der Nase habe. Sie schaut mit kläglichem, bebendem Gesicht zu mir auf. Ich hasse dieses Gesicht. Damit kriegt sie mich immer klein.
»Du wirst schon klarkommen, Nan.« Ich tippe mir an die Schläfe. »Du bist genauso intelligent wie ich. Und viel weniger verkorkst. Jedenfalls soweit die meisten Leute wissen.«
Nan zuckt zurück. Wir fechten ein stummes Blickduell aus, während die Anspielung zwischen uns in der Luft hängt. Schließlich schaut sie weg und macht sich daran, mit akribischer Sorgfalt ein T-Shirt zusammenzufalten, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.
»Wie auch immer«, murmelt sie und geht nicht weiter darauf ein.
Ich taste über die Tagesdecke auf meinem Bett, finde meine Zigaretten, zünde mir eine an und nehme einen tiefen Zug. Ich weiß, dass es Gift für mich ist, aber Gott, wie schafft es bloß irgendjemand, ohne zu rauchen, den Tag zu überstehen? Ich lege die brennende Kippe im Aschenbecher ab und klopfe meiner Schwester erneut auf den Rücken, sanfter diesmal.
»Komm schon. Mach dich nicht verrückt. Du weißt doch, wie Pa ist. Für ihn zählt nur, dass unterm Strich ein positives Ergebnis rauskommt. Job – Häkchen. Highschool-Abschluss – Häkchen. College – Häkchen. Hauptsache, der Schein wird gewahrt.«
Ich weiß nicht, ob es meiner Schwester hilft, aber während ich rede, kühlt sich der in meinem Magen zuckende Feuerball ab und löst sich auf. Anderen etwas vorspielen. Darin bin ich ziemlich gut.
Ma steckt den Kopf ins Zimmer. »Der junge Garrett ist hier. Du liebe Güte, Tim. Zieh dir was über.« Sie wühlt in einer Kommodenschublade und wirft mir ein Sommercamp-T-Shirt zu, von dem ich dachte, ich hätte es schon vor Jahren aussortiert. Nan springt auf, wischt sich die Tränen weg, zupft an ihrem eigenen Shirt herum und wischt sich die Hände an ihren Shorts ab. Sie hat unzählige nervöse Ticks – Nägel kauen, Haarsträhnen drehen, Kugelschreiberminen rein- und rausdrücken. Ich habe schon immer zu denen gehört, die mit einem gefälschten Ausweis, einem entspannten Gesichtsausdruck und einem Lächeln durchkommen. Meine Schwester schafft es, selbst dann schuldbewusst auszusehen, wenn sie betet. Auf der Treppe werden Schritte laut, kurz darauf klopft es an der Tür – endlich mal jemand, der anklopft! –, und Jase kommt herein und schiebt sich die feuchten Haare aus der Stirn.
»Scheiße, Mann. Wir haben noch nicht mal angefangen, die Sachen in den Wagen zu packen, und du bist schon am Schwitzen?«
»Bin hierhergerannt.« Er stützt die Hände auf den Knien ab und schaut zu meiner Schwester. »Hey, Nan.«
Nan, die ihm den Rücken zuwendet, nickt ihm kurz zu. Als sie sich umdreht, um sorgfältig zu Bällen ineinandergestülpte Socken in meinen Karton fallen zu lassen, betrachtet sie ihn verstohlen. Jase ist die Art von Typ, den Mädchen immer zweimal anschauen.
»Du bist hergerannt? Von dir sind es ungefähr fünf Meilen bis hier! Bist du verrückt?«
»Drei Meilen, und nein, ich bin nicht verrückt.« Jase lehnt sich an die Wand und fängt an, seine Beine zu dehnen. »Bin total außer Form, nachdem ich den ganzen Sommer im Laden rumgehockt habe. Nicht mal die drei Wochen Trainingslager haben was gebracht.«
»Du machst trotzdem einen ziemlich fitten Eindruck«, sagt Nan, das Gesicht hinter ihren Haaren versteckt, dann sieht sie mich an, murmelt: »Wehe du haust ab, ohne dich zu verabschieden, Tim«, und verlässt fluchtartig das Zimmer.
Jase, der offensichtlich nichts von dem kleinen Hormonschub meiner Schwester mitbekommen hat, sieht sich im Raum um. »Bist du fertig?«
»Ähm … glaube schon.« Ich sehe mich ebenfalls um, überlege, ob ich irgendwas vergessen habe, aber das Einzige, was mir noch einfällt, ist mein Muschelaschenbecher. »Jedenfalls, was meine Klamotten angeht. Ich bin eine absolute...