E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Fischer Nur echte Engel sind schwindelfrei
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7751-7313-1
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten zwischen Himmel und Erde
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7751-7313-1
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerhard Fischer wurde in Heidersdorf im Erzgebirge geboren. Nachdem er aus der Oberschule entlassen wurde, da sein Vater NSDAP-Mitglied war, arbeitete er als Heim- und Hilfsarbeiter in einer Holzfabrik. 1953 schloss er seine Ausbildung zum Diakon ab und war in Plauen/Vogtland, sowie Kesselsdorf bei Dresden tätig. 1958 wurde er in den volksmissionarischen Dienst der sächsischen Landeskirche übernommen. Er ist seit 1975 Gemeindepfarrer in Falkenau bei Chemnitz und ab 1996 Pfarrer i. R. Fischer ist verheiratet und hat drei Kinder.
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Zions Töchter
»Du bist ein ganz böser Junge. Zu dir kommt das Christkind in diesem Jahr bestimmt nicht!«
Diese Drohung aus dem Mund meiner Mutter galt mir, einem Jungen von sechs Jahren.
Was hatte ich verbrochen, dass meine Mutter – eine sonst so gütige Frau – mir eine solche Strafe ankündigte?
Ich weiß es noch genau. Ich war zum wiederholten Male mit meinem Schlitten die Dorfstraße hinuntergerodelt, was wir Kinder nicht durften. Erstens glätteten wir mit unseren Schlittenkufen die Fahrbahn, sodass die Leute ausrutschten und hinstürzten, zweitens könnten wir einen Unfall verursachen, meinte der Schutzmann.
Nein, bitte stell dir den Straßenverkehr nicht in seinen heutigen Dimensionen vor. In unserem Ort Heidersdorf gab es ein einziges Auto, das vom »Butterbellmann«, unserem Milchhändler; der fuhr täglich höchstens einmal dorfab und wieder hinauf. Ansonsten wurde die Straße von Pferdefuhrwerken benutzt. In jeder Stunde kam etwa eins vorbei, in Ausnahmefällen auch mal zwei. Also, wo sollte da die Gefahr liegen?
Nun, die gab es in gewisser Weise schon. So war es mehrfach passiert, dass entgegenkommende Pferde vor den Schlitten »scheuten« oder gar »durchgingen«, ihr Fuhrwerk über den Straßengraben rissen und samt Kutscher und Fracht in den Schnee kippten. Schließlich kamen wir auf unseren meist selbst gebauten »Käsehitschen« mit Tempo und Geschrei die Dorfstraße herunter.
»Bahne frei! Kartoffelbrei!!«
Die Fußgänger flohen an den Straßenrand und schimpften hinter uns her. Keiner freute sich an unserem Vergnügen.
Die Dorfstraße war als Rodelbahn verboten. Aber es gab in der ganzen Umgebung keine bessere Bahn als diese Straße.
Wenn wir das Dorf bis zum Ende (oder Anfang) hinaufliefen, konnten wir vier Kilometer abwärtsrodeln. Wo gibt’s das schon!
Aber dafür haben Erwachsene kein Verständnis.
Nun hatte ich also die Bescherung. Nein, im Gegenteil: Es würde für mich keine Bescherung geben. Das Christkind würde an mir vorbeigehen.
Das war schlimm – sehr schlimm. Es war geradezu zum Heulen. Dann brauchte es auch gar kein Weihnachten zu geben. Was sollte ein Weihnachten ohne Christkind – und damit ohne alle Geschenke – für einen Sinn haben?
Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb meine immer brave Schwester. Zu der würde das Christkind auf jeden Fall kommen, und wenn es dann einmal im Hause wäre, fiele für mich vielleicht doch etwas ab?
Meine »strenge Oma« (im Unterschied zu unserer »gütigen Oma«; sie besuchten uns abwechselnd) riss diesen winzigen Hoffnungskeim samt der Wurzel aus meiner geschundenen Seele.
»Schlag dir das aus dem Kopf. Ja, das Christkind wird zu deiner Schwester kommen; aber an dir wird es wortlos und unsichtbar vorbeigehen.«
Aus der Traum vom fröhlichen Weihnachten.
Voller Reue und Buße hockte ich vor unserem Haus auf meinem Schlitten, während die anderen Kinder fröhlich die Dorfstraße hinunterrodelten.
»Bahne frei! Kartoffelbrei!«
Da fuhren sie – Heinz, Roland, Siegfried, Hanna, Irene und Julia.
Julia war die Tochter eines Lehrers. Mein Vater hatte den gleichen Beruf und legte als Schulleiter besonderen Wert auf die Vorbildwirkung seiner Kinder. Julia hieß mit Nachnamen »Ziemann«.
Ich fuhr gern mit ihr Schlitten; am liebsten lud ich sie auf meinen und hängte ihren Schlitten einfach hinten an.
Als echter ritterlicher Kavalier ließ ich sie vor mir sitzen und übernahm hinter ihr den schwierigen Part des Lenkens. Ihre beiden langen, blonden Zöpfe flogen mir um die Ohren, und das fand ich herrlich.
Heute fuhr sie ohne mich! Ich litt.
Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass das Christkind an allen vorbeiläuft, die verbotenerweise auf der Straße rodeln.
Ach was. Ich würde schweigen und hätte am Heiligen Abend wenigstens den Trost, dass auch Julia ohne Geschenke und Freude blieb.
Es war der vierte Advent. Meine Eltern gingen wie jeden Sonntag mit mir und meiner Schwester zum Gottesdienst. Mir war schon alles egal. In den Jahren zuvor hatte ich mich an den vier Kerzen auf dem Adventskranz gefreut, die das nahe Weihnachten anzeigten. Heute hätte der ganze Kranz in Flammen stehen können, es wäre mir noch nicht einmal aufgefallen. Es war doch sowieso alles sinnlos. Das Christkind würde an mir vorbeigehen.
Das erste Lied wurde gesungen. Da ich noch nicht lesen konnte, blätterte ich in dem von meiner Mutter extra mitgebrachten Bilderbuch.
Doch mit einem Mal horchte ich auf. Das konnte doch nicht wahr sein. Was sangen die? »Tochter Ziemann, freue dich! Jauchze laut …« Und gleich noch einmal: »Tochter Ziemann, freue dich!« Außerdem verstand ich die Worte: »… kommt zu dir!« Völlig klar. Das Christkind kommt zu Ziemanns Tochter und damit konnte nur Julia gemeint sein, denn Ziemanns hatten nur diese eine Tochter.
Julia darf sich freuen?
Ausgerechnet die, die nie in die Kirche kommt und die wie ich auf der Straße rodelt? Wo gibt’s denn so was?
Die betet noch nicht mal ein Abendgebet, hat das Vaterunser nicht gelernt und bedankt sich bei Gott für keine Mahlzeit.
Das ist entweder eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, oder … meine Mutter hat sich geirrt und das Christkind kommt sowohl zu Julia als auch zu mir.
Ja, so und nicht anders musste es sein.
Vor Aufregung baumelten meine Beine so ausdauernd hin und her, dass ich von meiner Schwester einen Rippenstoß bekam. Doch der konnte mir meine wiedergefundene Freude nicht rauben. Ich war ganz einfach glücklich.
Der Rest des Gottesdienstes mag lang gewesen sein. Mich bekümmerte das nicht. Kaum hatten wir die Kirche verlassen, sang ich laut: »Tochter Ziemann, freue dich. Tochter Ziemann, freue dich. Tochter Ziemann, freue dich.«
Zunächst wurde ich von keinem beachtet.
Als ich jedoch in unserer Wohnung durch alle Zimmer tanzend mein Lied fortsetzte, fragte mich meine Mutter:
»Was singst du denn eigentlich?«
»Na, das Lied von Julia.«
»Von Julia?«
»Ja. Ihr habt es doch selbst gesungen: ›Tochter Ziemann, freue dich.‹ Und wenn Julia sich auf Weihnachten freuen darf, dann darf ich es auch. Bestimmt hast du dich geirrt, Mutti. Das Christkind kommt zu mir, ganz gewiss!«
Heute begreife ich, warum meine Mutter erst einmal lächelte und dann nachdenken musste, ehe sie mir antwortete. Das missverstandene »Tochter Zion« klärte sie nicht auf.
Aber sie nahm mich beim Kopf und sagte: »Es freut mich, dass du im Gottesdienst so aufmerksam zugehört hast. Ja, das Christkind kommt doch zu dir, obwohl es dich auf der Straße hat rodeln sehen.«
»Es hat bestimmt gerade mal weggeguckt.«
»Nein. Das hat es nicht. Es wird jedes Mal traurig, wenn es erlebt, dass wir böse sind – aber es straft uns nicht dafür.«
»Prima Mutti, das kannst du auch so machen. Und nun freue ich mich richtig toll auf morgen.«
Etliche Jahre vergingen, ehe ich begriff, wer denn das Christkind eigentlich ist, warum es zu mir kommt, und was es mir bringt.
Meine kindliche Fantasie sah – angeregt durch viele kitschige Weihnachtsbilder – das Christkind als ein Mädchen wie Julia, nur entsprechend größer, das in ein knöchellanges weißes Nachthemd gekleidet war. Es kam vom Himmel geflogen, guckte in alle Fenster, konnte aber auch durch die Wand ins Zimmer treten. Dabei war es selbstverständlich unsichtbar und besaß die Fähigkeit, auch meine Gedanken zu kennen, was mich zeitweise arg beunruhigte.
Ich verglich das, was ich vom Christkind wusste, mit dem, was ich von Jesus gelernt hatte, und ich fand heraus, dass die beiden nahe verwandt sein mussten. Sicher war das Christkind Jesu Schwester?
Nachdem mir diese Erkenntnis gekommen war, meldete ich mich im nächsten Kindergottesdienst zu Wort und verkündete meine Weisheit:
»Jesus hat eine Schwester, die heißt Christkind.«
Die Mädchen und Jungen, die um mich herumsaßen, lachten mich aus. »Quatsch, Jesus hatte gar keine Schwester. Du bist ja doof.«
Unser guter Pfarrer Schulze klärte uns auf:
»Gerhard hat recht. Jesus hatte eine Schwester, wahrscheinlich sogar mehrere. Aber keine von ihnen ist das Christkind. Das Christkind ist Jesus und Jesus ist Gott selbst.
Er kam in der Heiligen Nacht als Kind zur Erde, darum malen ihn die Künstler als das ›Christuskind‹.«
Er sang mit uns das Lied:
»Alle Jahre wieder kommt das Christuskind
auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.
Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,
geht auf allen Wegen mit uns ein und aus.
Ist auch mir zur Seite, still und unerkannt,
dass es treu mich leite an der lieben Hand.«
In meiner Seele ging ein Licht auf: Das Christuskind ist Jesus, zu dem ich Abend für Abend mein Gebet sprach! Es kam zu meiner braven Schwester; es kam aber auch zu Julia und zu mir. Es war ja auch zu dem Geizkragen Zachäus gekommen. Mein Straßenrodeln hatte seine Liebe nicht kaputt machen können. Es liebte mich trotzdem. Es liebte auch Julia, obwohl die nicht betete.
Damals war es mir...