E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Fischer Laufmaschen im Strickstrumpf
2. Auflage 2015
ISBN: 978-3-942637-78-7
Verlag: Lauinger Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-942637-78-7
Verlag: Lauinger Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heidi Fischer wurde 1954 in Oberfranken geboren, lebte einige Jahre in München, um dann mit Ehemann und drei Kindern wieder nach Coburg zurückzukehren. Sie arbeitete als Lehrerin, Mutter und Hausfrau und schreibt seit vielen Jahren nebenbei Gedichte und Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften. Das Buch 'Du riechst noch immer so ...' mit Gedichten und Kurzgeschichten erschien 2008 im Heinz Wohlers Verlag. 'Laufmaschen im Strickstrumpf' ist ihr erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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Das Telefon klingelt um neun Minuten nach Mitternacht. In die tiefe Ohnmacht des ersten Schlafes hinein.
Um diese Uhrzeit bedeutet ein Anruf nie Gutes. Das weiß Anna. Im ersten Erwachen hat sie geglaubt verschlafen zu haben und ist erschrocken hochgefahren.
Schemenhaft erkennt sie die Umrisse von Schlafzimmerschrank, Nachttisch und Bettumrandung. Die Dunkelheit ist nur durchbrochen von den Leuchtzifferblättern der Uhr im Regal gegenüber und dem Handy, das nebenan auf dem Nachtkästchen liegt.
Dem Blick auf den Wecker folgt Erleichterung, die sich sofort wieder verflüchtigt. Sie weiß nicht, was schlimmer ist, morgens zu verschlafen, aber wenigstens einmal wieder durchschlafen zu können, oder diese Unterbrechungen ihrer Nachtruhe. Diese ständige Bereitschaft. Das Telefon liegt seit Monaten immer in Griffweite. Jede Nacht. Wie damals, als Steffi ein paar Wochen alt war und wegen ihrer Blähungen weinte. Stundenlang war sie mit dem winzigen, vom Schreien rot angelaufenen Säugling durch die dunkle Wohnung gewandert. Morgens war ihr Gesicht blass vor Müdigkeit und die Speckröllchen, die sie sich während der Schwangerschaft angefuttert hatte, waren einer schmalen Wespentaille gewichen.
Aber das ist neunundzwanzig Jahre her. Die schweren Erinnerungen daran sind verblasst, geblieben ist nur das Positive aus dieser Zeit der frühen Elternschaft. Anna wünscht sich manchmal die unbekümmerte Gedankenlosigkeit zurück, mit der sie lebte, als sie selbst so alt war wie jetzt ihre Tochter, als ihre Haare noch nicht mit silbergrauen Strähnen durchzogen waren, ihr Gang noch flott und energiegeladen war und ihre Stirn sich nicht fortwährend in tiefe Falten legte. Wenn Anna heute in den Spiegel schaut, ist ihr die Person, die ihr entgegenblickt, fremd geworden. Sie sieht eine Frau, die viel zu dünn ist und deren Kurzhaarfrisur dringend einen neuen Schnitt bräuchte, um chic zu sein. Ganz zu schweigen von ihrer Kleidung! Schon seit Monaten hat sie sich nichts Neues mehr gekauft. Ständig läuft sie in Hosen herum, die an ihr schlackern und zieht Pullover an, die schon längst nicht mehr in Mode sind. Aber am wenigsten gefällt ihr der eigene Blick: Ihre graublauen Augen haben den Glanz verloren.
Am Display leuchtet der Name der Schwiegereltern auf. Sie seufzt und hebt ab. Ihr Mann liegt mit röchelndem Atem nebenan im Doppelbett. Er hat das Klingeln nur mit einem tiefen Aufschnarchen kommentiert und sich in Richtung der anderen Bettseite gedreht.
Richard hat einen beneidenswerten Schlaf! Sie hat noch nicht ein Mal erlebt, dass er nachts vor ihr aufgestanden wäre, um ans Telefon zu gehen. Anna greift mit einem resignierten Aufseufzen nach dem Hörer.
„Ja, was ist …“
Sie hat ihre Frage noch nicht fertig, da fängt am anderen Ende ein Wimmern an, das sich zu schrillem Kreischen steigert. Sie ahnt, dass es mit ihrer Nachtruhe mal wieder vorbei sein wird. Ihr Magen krampft sich zusammen, sie spürt, wie sie innerlich versteinert.
„Papa, was ist denn los?“
„Sie schlägt mich …“, kann sie mühsam aus dem Gestammelten herausfiltern. Dann wieder Kreischen und Schluchzen.
Nach ein paar Sekunden poltert etwas zu Boden. Es hört sich an, als wäre eine wüste Schlägerei im Gange.
Sie streiten wieder ums Telefon, denkt sie müde.
Es ist eine Endlosschleife. Mehrmals die Woche. Manchmal täglich.
Kindergarten für Greise.
Schließlich gelingt es ihrem Schwiegervater, den Hörer wieder zu ergattern.
„Du musst sofort kommen!“, schnauft Werner. Seine Worte klingen undeutlich, wahrscheinlich weil seine Zähne im Wasserglas im Bad stehen.
„Vater, du weißt doch, dass wir nicht mehr mitten in der Nacht durch die halbe Stadt düsen, nur weil ihr nicht schlafen könnt.“ Ihre Stimme klingt unerträglich schulmeisterlich in den eigenen Ohren.
„Diesmal ist es anders.“
Am liebsten würde Anna den Hörer einfach wieder auflegen, sich die Decke über den Kopf ziehen und weiterschlafen. Doch schon bei dem Gedanken empfindet sie Schuldgefühle, sie bemüht sich um Geduld.
„Was ist denn diesmal anders?“
„Mama hat …“ Er schluchzt auf, gefolgt von einem dumpfen Schlag.
„Hab ich dich. Ich werd’s dir zeigen, du Dreckstück.“ Danach ertönt nur noch das Besetztzeichen.
Eine Weile bleibt Anna starr, mit dem Hörer in der Hand, auf der Bettkante sitzen. Dann rüttelt sie Richard solange an der Schulter, bis er wach wird.
„Ich muss rüber fahren. Sie streiten wieder.“
„Lass sie doch einfach. Sie bringen sich schon nicht um.“ Die Worte ins Kopfkissen gebrummt, unwillig, im Halbschlaf.
„Hat sich aber ganz danach angehört.“
Ihr Mann ist wieder einmal der Meinung, dass sich alle Dinge von alleine regeln. Unangenehmes pflegt er auszusitzen, beziehungsweise Anna zu überlassen. Sie rüttelt ihn erneut, packt härter zu als gewollt. Richard öffnet schlaftrunken die Augen.
„Soll ich fahren?“
Die Frage kommt halbherzig, mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Wecker. Anna weiß genau, dass er es nicht wirklich in Erwägung zieht, den Part des Streitschlichters zu übernehmen. Aber er ist auch derjenige, der morgen früh raus muss. Um sechs Uhr klingelt sein Wecker. Um Viertel vor acht muss er in der Schule sein.
Sie steht zwar immer mit ihm auf, aber in den letzten Wochen kommt es häufiger vor, dass sie sich wieder hinlegt, wenn er nach dem Frühstück gegangen ist. Der Nachtschlaf fehlt ihr. Sie spürt zunehmende Gereiztheit, die sich immer öfter zu weinerlicher Wut steigert.
„Bleib liegen. Ich fahr schnell rüber.“ Ihre Stimme klingt dünn und angespannt. Es sind zehn Minuten Weg, in der Nacht sogar manchmal nur acht, weil um diese Uhrzeit kein Verkehr ist. Aber Minuten dehnen sich in den Stunden nach Mitternacht zu Unendlichkeiten.
Hastig zieht sie sich den Pullover an, der noch vom Vortag über der Stuhllehne hängt, schlüpft in die Jeans.
Sicher stehen ihre Haare wild in alle Richtungen. Aber das ist egal. Sie wird nur kurz zum Haus der Schwiegereltern fahren, deren Streit schlichten und dann wieder zurück ins Bett gehen.
Beim letzten Mal war Gisela schon wieder friedlich, als sie dort ankam. Die Aggressivität überfällt sie in Schüben. Und oft verschwindet sie genauso schnell, wie sie ausbricht.
Die Straßen der fränkischen Kleinstadt sind wie ausgestorben, reges Nachtleben findet an anderen Orten statt. Eine torkelnde Gestalt auf dem Bürgersteig unter matt leuchtenden Straßenlaternen, zwei liebeskrank jaulende Katzen und die schemenhaften Umrisse der hoch über der Stadt thronenden Festung begleiten ihren Weg. In der Innenstadt gibt es sicher mehr Menschen, die auch keinen Schlaf finden oder denen, wie ihr, keine Nachtruhe vergönnt ist. Sie aber nutzt die Stadtautobahn, um zu den Schwiegereltern zu gelangen.
Manchmal parkt in der Einbuchtung unter der Frankenbrücke ein Polizeiauto; ihr Blick gleitet automatisch zu dem Platz. Die Streifenpolizisten langweilen sich bei ihren nächtlichen Einsätzen, haben sie bereits zweimal angehalten, aus Ermangelung ernsthafter Beschäftigung.
Heute ist der Platz leer, sie gibt Gas und erhöht ihre Geschwindigkeit auf hundert; erlaubt sind nur siebzig Stundenkilometer. Sie fühlt einen Moment trotzige Freude, die sich verflüchtigt, als sie abbremsen muss, um die Autobahn zu verlassen und in das Wohngebiet am Rande der Stadt einzubiegen.
Beim Öffnen der Haustür riecht Anna es sofort. Es stinkt nach alten Menschenkörpern, nach abgestandener Luft und Exkrementen.
Penetrant und schlimmer als gewöhnlich. Deutlicher ist auch die Aura des Todes zu spüren, noch nicht unmittelbar, aber intensiver als sonst.
Ihre Schwiegermutter vergisst vieles: die Namen und Gesichter von Menschen, die sie gut kennt, morgens ihre Zähne einzusetzen, Essen vom Herd zu nehmen, bevor es überkocht oder anbrennt. Sie hat auch vergessen, dass Fenster geöffnet werden können. Putzen, lüften, Blumen gießen – hausfrauliche Tätigkeiten sind für sie bedeutungslos geworden, früher hat sie diese akribisch ausgeführt.
Annas Schwiegervater weigert sich ebenfalls regelmäßig zu lüften.
„Was das kostet“, sagt er, „reine Vergeudung von Energie. Ihr jungen Leute seid so was von verschwenderisch. Dabei wollt ihr am liebsten morgen schon die Atomkraftwerke abstellen. Aber Strom sparen ist ein Fremdwort für euch! Bei uns bleiben jedenfalls die Fenster zu. Es wird nur einmal am Tag gelüftet und damit basta.“
Und damit basta, sagt er oft. Meist dann, wenn Anna etwas will, was nicht in seinen Kram passt. Und das ist fast immer der Fall.
„Hallo, wo seid ihr denn?“ Anna schaut kurz ins Schlafzimmer, aber da ist keiner.
„Hier“, tönt erstickt die Stimme ihres Schwiegervaters aus dem Esszimmer.
Werner liegt am Fußboden. Auf dem...




