E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Fischer Der verlorene Mann
1. Erstauflage 2016
ISBN: 978-3-7650-2115-2
Verlag: Lauinger Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7650-2115-2
Verlag: Lauinger Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heidi Fischer (*1954) lebt in Coburg und arbeitete als Lehrerin an einer privaten Förderschule. Sie ist Mitglied im Fränkischen Autorenverband und schreibt seit vielen Jahren Gedichte und Kurzgeschichten. Ihre Arbeiten wurden in unterschiedlichen Anthologien und der Literaturzeitschrift 'Wortlaut' veröffentlicht. Bisher erschienen bei Der Kleine Buch Verlag 'Laufmaschen im Strickstrumpf' (2013) und 'Wer später stirbt, ist länger alt' (2015).
Autoren/Hrsg.
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»I´m really sorry, but your husband got lost.«
»Husband. Ehemann? The husband of whom?« Elisabeth Wagner war für einen Moment so verwirrt, dass sie überhaupt nicht mehr klar denken konnte. »Verloren gegangen. Was soll das heißen?« Sie merkte nicht, dass sie vor lauter Nichtverstehen wieder ins Deutsche gewechselt war. Aus dem Hörer an ihrem Ohr knatterte es. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war verstummt. Nach ein paar Sekunden wiederholte Elisabeth auf Englisch: »Got lost, what does that mean?«
Zwei Uhr fünfundvierzig war es genau. Sie hatte auf ihre Armbanduhr geschaut und sich verschlafen gewundert, wer so spät, oder besser gesagt so früh anrufen könnte. Das Telefonat war ihr vielleicht auch wegen der Uhrzeit so unrealistisch vorgekommen. Sie war vor dem Fernseher eingeschlafen, gerade lief ein französischer Film mit deutschen Untertiteln. Vor ihr stand ein Glas Mineralwasser und ein Teller mit appetitlich aufgeschnittenen Äpfeln aus ihrem Garten, die an der Oberfläche schon leicht bräunlich angelaufen waren, weil sie seit Stunden darauf warteten, gegessen zu werden.
Aus dem ersten Schlaf gerissen zu hören, dass der Ehemann verloren gegangen ist, würde wohl bei den meisten Menschen panische Reaktionen auslösen. Elisabeth reagierte mit einem Schweißausbruch. Hitze, die wie eine Flamme durch ihren Körper schoss und sie in feuchte Hilflosigkeit tauchte. Normalerweise lag Elisabeth um diese Uhrzeit längst im Bett. Aber seit einigen Monaten wurde sie von Schlafstörungen und Hitzewallungen während der Nacht heimgesucht. Typisch für ihr Alter, hatten ihr die Frauenärztin und einige ihrer Freundinnen versichert. Sie versuchte es locker zu sehen, doch in den dunkler werdenden Spätsommernächten überfiel sie manchmal leichte Panik, zögerte sie das Schlafengehen bewusst hinaus, wollte sie nicht allein unter der Bettdecke liegen und der Willkür ihres älter werdenden Körpers ausgeliefert sein.
Die Stimme aus dem Telefonhörer hatte sich zuerst erkundigt: »Do I talk to Elisabeth Wagner, the wife of Norbert Wagner?«
Elisabeth hatte den Fernseher auf stumm geschaltet. »Wer will das wissen?« Sie war vorsichtig mit genauen Angaben am Telefon. Viel zu oft versuchten dubiose Firmen, ihr seltsame Werbeangebote aufzuschwatzen. Die Uhrzeit hätte zu einem unseriösen Anruf gepasst.
»He got lost«, wiederholte die Frau. Offensichtlich war ihr Englisch auf einige wenige Wörter begrenzt. Es rauschte in der Leitung und war für Sekunden, die sich ins Unendlich dehnten, ruhig wie an einem windstillen Tag am Meer.
»He didn´t come back«, ertönte dann wieder die Stimme. Ob die Frau am anderen Ende auch dieses Rauschen hörte? Elisabeth sah Norbert, ihren Mann, irgendwo zwischen Strand und Wellen einsam umherirren. Aber das Bild war so falsch, dass sie beinahe laut gelacht hätte. Nepal lag garantiert nicht am Meer und ihr Mann würde niemals freiwillig Urlaub am Strand machen. Er war unterwegs auf Trekkingtour im Himalaya.
Dass ihr Exmann sich in Nepal aufhielt, wusste sie von ihrer Tochter Lena. Elisabeth bezeichnete ihren Ehemann immer als Exmann, auch wenn die Ehe niemals offiziell durch einen Richterspruch aufgelöst worden war. Ihre Tochter traf sich regelmäßig mit ihrem Vater. Von Norbert selbst hatte Elisabeth schon seit Monaten nichts mehr gehört. Sie lebten seit vier Jahren getrennt, ihre Wege hatten seitdem in vollkommen unterschiedliche Richtungen geführt.
Sie versuchte sich wieder auf die eben gehörten Worte zu konzentrieren. Konnte man in einer Trekkinggruppe verlorengehen? Bei einem Mann wie Norbert schwer vorstellbar. Und warum wurde sie darüber informiert und nicht Sara Westermeier, seine Lebenspartnerin?
»How long is he missed?« Sie suchte in ihren übermüdeten Hirnwindungen mühsam nach den richtigen Vokabeln.
»Already for three days. Sorry, but we couldn’ t find your telephone number earlier.« Die Stimme klang schuldbewusst. Elisabeth hörte im Rauschen des Meeres ein nervöses Husten, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Die Nummer der Anruferin war nicht auf dem Display erschienen.
In ihrem Kopf breitete sich fassungslose Leere aus. Sie wusste später nicht, wie lang dieser Zustand angedauert hatte, aber als sie den Hörer auflegte, hatte der Vorspann zu einem Krimi begonnen. Der französische Spielfilm war unbemerkt zu Ende gegangen. Auf dem Bildschirm lag eine tote Frau mit starrem Blick im feuchten Gras. Im Hintergrund zeigte eine sorglose Frühlingslandschaft, dass dies ein ungewöhnlich friedlicher Ort für das Auffinden einer nackten Leiche sein musste. Elisabeth schaltete den Fernseher aus, aber diese Momentaufnahme brannte sich in ihr Gedächtnis ein und würde später stets auftauchen, wenn sie an die Mitteilung von Norberts Verschwinden denken musste.
Discover Nepal-Tours, hatte sich die Stimme gemeldet. Die Reiseagentur musste ihren Sitz in Nepal haben. Anders ließ sich die Zeit des Anrufs nicht erklären. Elisabeth glaubte zu wissen, dass der Zeitunterschied zu Deutschland ungefähr fünf Stunden betrug, genau konnte sie sich nicht erinnern. Norbert, ihr Ehemann, weihte sie schon längst nicht mehr in seine Reisepläne ein, aber sie hätte auch gar nichts darüber wissen wollen. Seit er sie verlassen hatte, wollte sie überhaupt nichts mehr von ihm wissen. Zumindest nicht von ihm direkt. Über ihre Tochter Lena informierte sie sich manchmal, was er gerade plante oder tat. Dass er wieder einmal in Nepal unterwegs war, in diesem Land, das er als seine zweite Heimat betrachtete, wusste sie. Lena hatte sich furchtbar aufgeregt, dass ihr Vater so kurz nach dem Erdbeben in eine Region fahren wollte, die noch immer als hoch gefährdet eingestuft wurde. Viele Teile des Landes waren verwüstet und er hatte sich ausgerechnet auch noch das Gebiet des Epizentrums der Katastrophe ausgesucht.
Norbert hatte die Bedenken seiner Tochter genauso weggewischt wie die Sorge seiner Geliebten. Er war sich sicher, dass sein Vorhaben ungefährlich war und wollte unbedingt selbst Hilfsgüter in die Region bringen. Mit mehreren Koffern Übergepäck brach er auf; die Bitten von Sara und Lena, doch noch ein paar Monate zu warten, konnten ihn nicht umstimmen.
Was war geschehen? Wie konnte jemand in einer Reisegruppe verlorengehen? Oder war er gar nicht in einer größeren Gruppe gereist? Norbert hatte schon oft über eine Agentur gebucht und war dann trotzdem mit zwei oder drei Trägern allein losgezogen.
Sie wählte seine Handynummer, die noch immer in ihrer Telefonliste gespeichert war. Nichts. Kein Empfang. Oder die Nummer war nicht mehr aktuell. Während seiner vorherigen Trekkingtouren war ihr Mann auch selten erreichbar gewesen. In den Bergen des Himalaya war das keine Besonderheit. Aber dieser erfolglose Versuch verlieh seiner Unerreichbarkeit neue Bedeutung.
In den nächsten Stunden begab sie sich auf Spurensuche. Sie durchforstete seine alten Ordner, die noch immer sorgfältig aufgereiht in seinem Arbeitszimmer neben dem Computer standen. Er hatte seine Reisen nach Jahren geordnet; bis 2010 waren es jährlich zwei bis drei dicke Ordner. Danach gab es keine mehr. Im Januar 2011 war er ausgezogen. Die alten Akten hatte er zurückgelassen. »Du kannst sie entsorgen, ich brauche sie nicht mehr«, hatte er gesagt. Sie hatte es auf später verschoben.
Das Arbeitszimmer blieb in Elisabeths Denken immer sein Arbeitszimmer. Er hatte in den folgenden Jahren nie Anstalten gemacht, dieses Büro zu räumen. Als könnte er sich damit den Anspruch erhalten wieder zurückzukommen. Norbert neigte dazu, sich selbst zu belügen oder zumindest weigerte er sich beharrlich, Tatsachen zu schaffen.
In einem der Ordner fand sie die Adresse und Telefonnummer des Reisebüros mit Sitz in Kathmandu. Allerdings konnte sie dort nur auf den Anrufbeantworter sprechen. Sie wurde von einer freundlichen Stimme in englischer Sprache darauf hingewiesen, dass das Reisebüro Discover Nepal-Tours leider nicht ständig besetzt sei. Mittlerweile zeigte das Zifferblatt ihrer Uhr vier Uhr dreißig.
Elisabeth wusste, dass ihre Tochter dort im vergangenen Jahr ebenfalls eine Reise gebucht hatte. Sie würde ihr weiterhelfen können. Doch zu dieser Uhrzeit konnte sie nicht anrufen und würde bis zum Morgen ausharren müssen.
Ohne eine Minute Schlaf verbrachte sie die Wartezeit mit viel zu vielen Tassen Kaffee, einer halben Packung Zigaretten und einer Tafel Halbbitterschokolade. Sie hatte unbeschreibliche Gelüste auf Nougatschokolade, aber ihre Suche in den Vorratsregalen blieb vergeblich. Gähnende, selbstauferlegte Leere, bis auf eine angebrochene Packung Halbbitterschokolade, die sie eigentlich gar nicht mochte.
Als sie Lena um acht Uhr morgens am Telefon erreichte, war diese trotz der frühen Stunde wie immer im Stress. Sie hatte schon am Computer gesessen und gearbeitet. Zwischen ihren Worten hörte sie Lenas Baby brabbeln und glucksen, dann zärtliches Gemurmel ihrer Tochter.
»Was meinst du mit...




