E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Dr. Caspari
Fischer Das Gift der Propheten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96041-039-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Dr. Caspari
ISBN: 978-3-96041-039-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminaldirektor Caspari und sein Team jagen den Kopf eines Kinderpornorings. Doch kaum haben sie den Mann festgenommen, entkommt er unter rätselhaften Umständen aus dem Untersuchungsgefängnis. Casparis vierter und bisher schwerster Fall.
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MONTAG, 8. OKTOBER
CLARA
Clara mochte es nicht, nach einem anstrengenden Sonntag am Montag gleich wieder zu arbeiten. Doch der Schulbetrieb nahm auf Pfarrerinnen und deren Verpflichtungen an den Wochenenden keine Rücksicht. In den zwei letzten Stunden nahm sie die Kanonbildung des Neuen Testaments durch. Die Kämpfe der frühen Kirche mit den Gnostikern, den damaligen Esoterikern, wurden heiß diskutiert. Clara gefiel es, dass die Schüler es nicht einfach hinnahmen, dass die Kirchenväter Recht gehabt haben sollten, sondern dass sie sich mit den Argumenten aller Streitparteien intensiv auseinandersetzten. Am deutlichsten fiel ihr Jasmin auf. Das Mädchen hatte sich in den vergangenen Monaten immer mehr zurückgezogen. In dieser Stunde schien sie allerdings aufzutauen. Heftig stritt sie mit und übernahm die Positionen der Gnostiker. Der Gong unterbrach schließlich eine der spannendsten Stunden, die Clara bisher in diesem Schuljahr unterrichtet hatte. Während die Schüler ihre Hefte und Bücher einpackten, sah sie zu Jasmin hinüber. Die Lebhaftigkeit, mit der sie diskutiert hatte, war schon wieder verflogen. Als Jasmin an ihr vorbeiging, hielt Clara sie an »Einen Moment bitte, Jasmin.« »Frau Frank?« »Ich möchte dich kurz sprechen, ist das möglich?« »Klar«, entgegnete das Mädchen. Sein Gesicht sagte etwas anderes. »Mir fällt in letzter Zeit auf, dass du dich immer mehr zurückziehst«, begann Clara vorsichtig. »Du bist häufig abwesend.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, wand Jasmin sich. »Geht es dir nicht gut? Ist etwas vorgefallen, das dich belastet oder dir Angst macht?«, fragte Clara ganz direkt. »Nein, wirklich nicht«, erwiderte Jasmin ein wenig zu halbherzig. Clara wusste, dass sie so bei dem Mädchen nicht weiterkommen würde. »In Ordnung. Wenn du Hilfe brauchst – ich bin für dich da.« Für einen kurzen Augenblick fiel die Maske. »Ja, danke, das weiß ich.« Clara gab sich damit zufrieden. Sie wechselte das Thema. »Ich habe mit Erstaunen die Vehemenz gesehen, mit der du die Position der Gnostiker verteidigt hast.« »Die sind mir irgendwie sympathischer. Auf die kirchliche Lehrmeinung stehe ich gerade nicht so.« Clara ließ sie gehen. Wenn sie Jasmin helfen wollte, musste sie Geduld haben. Während Clara zum Lehrerzimmer ging, fiel ihr Michael Gärtner wieder ein. Sie nahm sich vor, ihn gleich zu besuchen, wenn sie ihre Sachen aus dem Lehrerzimmer geholt hatte. Anders als Jasmin würde er Clara sagen, was mit ihm los war. Oder sie würde so lange bohren, bis er es tat. BERTRAM
Vincent Montag war ein hochgewachsener junger Mann von 18 Jahren. Auf Bertram wirkte er sympathisch. Was dem altgedienten Polizeibeamten sofort auffiel, war der unruhige Blick. »Geht es Ihnen nicht gut?« »Der Gang zur Polizei fällt mir nicht leicht. Pfarrer Leistner ist schließlich eine Institution in Gelnhausen. Irgendwie fühle ich mich wie ein Königsmörder.« »Was ist denn vorgefallen?« »Nach meiner Kommunion wollte ich immer nur eins werden, und das war Messdiener. Ich fand es als kleiner Junge immer schon toll, neben dem Priester zu stehen und ihm dabei zu helfen, das Heilige zu zelebrieren. Am Anfang war Pfarrer Leistner auch sehr freundlich zu mir. Aber ich war ein Kind, das halt auch Fehler macht. Wenn er eine normale Arbeitswoche hatte, ließ er das durchgehen. Wenn er aber viele Beerdigungen und andere Verpflichtungen in der Woche hatte, war er sehr leicht reizbar. Einmal hatte er nach einer Messe einen heftigen Streit mit unserem Messner. Ich war noch in der Sakristei und räumte einige Kleinigkeiten weg, die die anderen Ministranten hatten liegen lassen. Pfarrer Leistner kam mit einem hochroten Kopf in die Sakristei, nachdem er den Messner nach Hause geschickt hatte. Er schrie mich gleich an: ›Du hast wieder einmal zu viel Weihrauch in das Fass getan. Sollen denn die Gottesdienstbesucher ersticken?‹ Dann hat er mich geschlagen.« »Wie und wohin?«, fragte Bertram. »Mit der flachen Hand auf meine Arme, dann hat er mich über’s Knie gelegt.« »Nicht ins Gesicht?« »Nein, wieso?« »Was Sie mir erzählen, zeugt von einem kontrollierten Akt der Gewalt. Nach Ihrer Schilderung war der Pfarrer aber außer sich vor Wut. Man würde bei einem solchen Gemütszustand eher eine explosive Eskalation erwarten. Was ich damit sagen will, ist, dass die meisten Männer in Pfarrer Leisners Situation Sie wohl eher geohrfeigt und vielleicht noch geboxt hätten.« »Ich nehme an, er wollte vermeiden, dass meine Eltern die Spuren seiner Misshandlung an mir entdecken.« »Möglich. Wie ging es dann weiter?« »Irgendwann bekam er sich wieder in den Griff, keuchte heftig und setzte mich wieder auf. Dann bat er mich um Entschuldigung für seinen Ausbruch. Es täte ihm furchtbar leid.« »Sie haben die Entschuldigung akzeptiert?« »Ja, natürlich. Ich war ja noch ein Kind, und der Priester stand in meiner Vorstellung Gott ganz nahe, näher als alle anderen Menschen.« »War das das einzige Mal, dass er sie misshandelt hat?« »Nein. Ich bin weiterhin Ministrant geblieben. Aber es war, als wäre mit diesem Übergriff ein Damm gebrochen. Er hat sich immer wieder an mir abreagiert, egal, wer von uns Messdienern Mist gebaut hat.« »Wie oft geschah das?« »Drei bis vier Mal im Jahr. Als Firmling schlug ich dann einmal zurück. Ich war kein Kind mehr und wollte seine Brutalität nicht länger hinnehmen. Er bekam meine Faust mit voller Wucht in den Magen. Danach hatte ich Ruhe.« »Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt mit dieser Anzeige zu uns?« »Wie meinen Sie das?« »Nach Ihrer Gegenwehr wäre doch ein guter Zeitpunkt gewesen. Sie fühlten sich doch auch stark genug, dass Sie zurückschlagen konnten.« »Das war eine Verzweiflungstat. Trotzdem war er für mich immer noch der Priester.« Jungmann, der die Aussage auf dem Computer mitgeschrieben hatte, sah stumm zu Bertram hinüber. In seinen Blick stand der Zweifel geschrieben. Nachdem sie Vincent den Text seiner Aussage vorgelesen hatten und dieser ihn unterzeichnet hatte, ließen sie ihn gehen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sagten beide für eine halbe Ewigkeit kein Wort. »Glaubst du ihm?«, fragte Bertram. »Nicht eine Silbe«, antwortete Jungmann kalt. »Und dem Mädchen?« »Auch nicht.« »Und die Sache mit der E-Mail von Gärtner?« »Das ist das einzige, was meinen Standpunkt noch umwerfen könnte.« »Aber warum um alles in der Welt belasten sie die beiden Pfarrer?« »Gute Frage. Ich habe noch nicht mal eine Vermutung«, meinte Jungmann schulterzuckend. »Aber es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.« »Ja, das ist es«, brummte Bertram. »Und ich befürchte, das wird eine schmutzige Angelegenheit.« IRINA
Irina kam nur sehr langsam zu sich. Der Boden bewegte sich. Sie wandte den Blick sofort Richtung Decke. Man hatte sie zusammen mit den anderen Mädchen in Betten gelegt, die in einem engen Raum mit weißen Wänden standen. Sie hörte ihre Kameradinnen husten und spucken. Eine würgte und erbrach sich in einen Eimer, der neben ihrem Bett stand. Der Schwindel ließ allmählich nach. Gleichzeitig nahm sie das tiefe Brummen wahr, das nicht aufzuhören schien. Vorsichtig stellte sie die Füße auf den Boden und stemmte sich mit den Händen aus dem Bett. Der Boden wankte so stark, dass sie wieder zurück fiel. Sascha schaute vom Bett über ihr herunter. »Hallo, kleine Schwester«, sagte sie halblaut. »Du hast lange geschlafen.« »Wo sind wir hier?«, fragte Irina. »Auf einem Schiff.« »Auf einem Schiff?« »Ja, da ist eine Luke, da kannst du rausgucken, wenn du stehen kannst. Draußen siehst du die Wellen.« »Warum sind wir hier, Sascha?« »Ich weiß es nicht, Irina. Aber etwas Gutes kann das nicht bedeuten.« GÄRTNER
Das Leben im zwangsverordneten Urlaub war unerträglich. Michael Gärtner lief im Haus umher wie ein Tiger im Käfig. Er hatte versucht sich damit abzulenken, dass er endlich einmal sein Büro aufräumte und die Ablage auf Vordermann brachte. Er hasste die Verwaltungsarbeit, doch sie lenkte ihn den Vormittag über ab. Dann versuchte er, mit seiner Frau zu kochen, so wie sie es sonst immer taten, wenn er sonntags predigtfrei hatte. Doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu den beiden Fotos. Nachdem er sich beim Zwiebelschneiden in den Finger geschnitten hatte, nahm Claudia ihm das Küchenmesser aus der Hand. »Lass gut sein, Michael. Das wird so nichts. Wir sind ja ohnehin fast fertig. Den Salat bekomme ich auch noch allein hin.« Verärgert über sich selbst, ging er ins Bad und klebte ein Pflaster auf die Wunde. »Dieses Warten macht mich fertig«, sagte er, als er in die Küche zurückkam. »Du glaubst, diese Bilder waren erst der Anfang?«, fragte Claudia beunruhigt. »Natürlich«, erwiderte er. »Wer auch immer in meinen Computer eingedrungen ist, wird garantiert nicht aufhören. Für einen dummen Jungenstreich kostet eine solche Hackerarbeit zu viel Zeit und Engagement. Was wollen die bloß von mir? Ich habe doch niemandem etwas getan.« »Ich weiß es nicht, Michael, ich weiß es nicht. Wenn du selbst schon keine Idee hast …« Claudia drückte zärtlich seine Hand. Dann streichelte sie ihm über die Wange. Für solche kleinen Momente der Zärtlichkeit hatten sie sich in der Vergangenheit wenig Zeit genommen. Michael tat ihre Berührung unendlich...