Roter Faden für das Leben (1. Korinther 13)
E-Book, Deutsch, 154 Seiten
ISBN: 978-3-290-17671-6
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
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|27| III. Paulus schreibt nach Korinth
Paulus tritt uns entgegen als Briefschreiber. Was wir an direkter Kenntnis von ihm haben, stammt in ganz elementarem Sinne aus Wörtern «in Bewegung» – aus dem Briefverkehr zwischen ihm und verschiedenen Gemeinden, wobei uns allerdings weder deren mögliche Anfragen noch Antworten überliefert sind. Auf langen Reisen wurden die Schreiben von Gemeindegliedern transportiert, meist zu Fuss, teils per Schiff. Man besuchte sich, man schrieb sich, man wusste voneinander. In den Zusammenkünften wurden die Briefe verlesen und besprochen, danach auch weitergeleitet an andere Gemeinden. «Meine geliebten Kinder»
Paulus kam in diesem Briefverkehr eine besondere Rolle zu: Er war der erste Apostel, der als Missionar den Schritt weit über das Land Israel und das Judentum hinaus tat. Auf seinen Missionsreisen – er soll Schätzungen zufolge im Laufe seines Lebens etwa 16 000 Kilometer zurückgelegt haben – gründete er etliche Gemeinden. Eine von ihnen war Korinth. Von etwa Anfang 50 bis Mitte 51 nach Christus hielt er sich in der Stadt auf, also anderthalb Jahre. Den 1. Korintherbrief schrieb er vier bis fünf Jahre später, im Frühjahr 54 oder 55, und zwar von Ephesus aus, wo ihn eine Dreierdelegation der Gemeinde besuchte, bestehend aus Stephanas, Fortunatus und Achaikus (vgl. 1. Korinther 16,17). Zur Gemeinde hatte er ein ausgesprochen väterliches Verhältnis. Er nennt sie «meine geliebten Kinder» (z. B. 1. Korinther 4,14–15). Er sieht sich als den, der die Gemeinde «gepflanzt» und der «als kundiger Baumeister das Fundament gelegt» hat, korrigiert aber sofort wieder und tritt vor Gottes |28| Wirken zurück: Es zählt ja «weder der, der pflanzt, noch der, der bewässert, sondern Gott, der wachsen lässt»; und «ein anderes Fundament kann niemand legen als das, welches gelegt ist: Jesus Christus» (3,6–7.10–11). Die Gründung der Gemeinde ist also nicht sein Werk; er sieht sich «als Diener des Christus und als Verwalter der Geheimnisse Gottes» (4,1). Der Kern dessen, was Paulus als «das Evangelium verkündigt» (1. Korinther 1,17; 15,1), ist, dass «Christus von den Toten auferweckt worden ist, als Erstling derer, die entschlafenen sind» (15,20); Christus hat sich gerade als «der Gekreuzigte» (1,23) erwiesen und als «Gottes Kraft und Gottes Weisheit» (1,24). Das hat universale Gültigkeit und gilt jedem Menschen: «Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus auch alle zum Leben erweckt werden» (15,22). Es ist eine neue Zeit, eine neue Zukunft angebrochen. In das Jetzt ragt hinein das Ziel der Zeit, das Ziel der Welt, «wenn er alle Herrschaft, alle Gewalt und Macht zunichte gemacht hat»; «als letzter Feind wird der Tod vernichtet» (15,24.26) – und mit diesem letzten auch der grösste Feind des Menschen, dem dieser als aus dem Garten Eden Vertriebener tagtäglich ins Auge sehen muss. Der «Stachel» (15,55–56), also das Schmerzhafte des Todes, ist, dass er auf die schärfste Weise zum Ausdruck bringt, dass wir von Gott getrennt sind. Das ist der innere Zusammenhang zwischen unserer Sterblichkeit und unserer Sündhaftigkeit, ebenso die allen Menschen eigene Adams-Natur. Das «Wort vom Kreuz» wird in Korinth «angenommen»
Das «Wort vom Kreuz» (1. Korinther 1,18) ist für Paulus die Richtschnur nicht nur dafür gewesen, was zu verkündigen sei als Evangelium, sondern auch in der Art, wie es weiterzugeben |29| sei: Man könnte es «kreuzweise» nennen. «Ich kam in Schwachheit und mit Furcht und Zittern zu euch, und meine Rede und meine Verkündigung baute nicht auf kluge Überredungskunst» (2,3–4). Starpredigertum, geniale Rhetorik und glänzende Auftritte sieht Paulus im Widerspruch zum «Wort vom Kreuz». Schliesslich hat Paulus selbst nur «empfangen» (15,3), was er verkündigt. Und die in Korinth haben es «angenommen», «stehen in ihm fest» und sollen es nun auch in Zukunft «genau so festhalten, wie ich [Paulus] es euch verkündigt habe» (15,1–2). Zu diesem «Annehmen» der Botschaft gehört die Taufe. Sie bedeutet «abgewaschen», «geheiligt» und «gerecht gemacht worden [sein] durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes» (6,11). Paulus betont, er selbst habe in Korinth nur wenige getauft: «[…] niemanden von euch […] ausser Krispus und Gaius – so kann niemand sagen, ihr wärt auf meinen Namen getauft worden. Das Haus des Stephanas habe ich zwar auch noch getauft, im Übrigen aber wüsste ich nicht, dass ich noch jemanden getauft hätte. Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen» (1,14–17). So sind sie in Korinth nicht vereinzelte Menschen, die für sich im Glauben sagen: «Herr ist Jesus!» (12,3), sondern es ist dort «die Gemeinde Gottes» aus «in Christus Jesus Geheiligten» und «zu Heiligen Berufenen» (1,2). Diese Christuswirklichkeit verbindet sie stärker als alle anderen kulturellen, sozialen und geschichtlichen Wirklichkeiten ihres bisherigen Lebens. «Denn durch einen Geist wurden wir ja alle in einen Leib hineingetauft» (12,13). Von diesem Geist (griechisch pneuma), in dem Christus in der Gemeinde lebendig ist, lebt die Gemeinde. Es ist «ein und derselbe Geist, der jedem auf besondere Weise zuteilt, wie er es will» (12,11). |30| Genau dieses «Zuteilen» von Geistesgaben (griechisch charismata), die bei der Gemeinde in Korinth hoch im Kurs stehen, wird von Paulus kritisch beleuchtet. «Jene Gemeinde damals in Korinth war keine kümmerlich dahinvegetierende oder gar tote Gemeinde, sondern eine nach unsern Vorstellungen bis in die unerhört bewegte und leidenschaftliche Atmosphäre ihrer Gottesdienste hinein höchst lebendige Gemeinde mit ihren Gruppen der Gnostiker und Ekstatiker, mit den eindrucksvollen Erscheinungen von Zungenrede, mit der Bereitschaft zu wirklichen Opfern, ja zum Martyrium» (Günter Jacob, 103). Für Paulus bleiben noch einige Fragezeichen; die Weise, wie das Christentum in Korinth floriert, ist ihm unheimlich. Dieses «Unheimliche» sieht Paulus im Defizit an Agape, Liebe. Das kosmopolitische Korinth: Prototyp der multireligiösen Weltstadt
Um den Hintergrund des Briefes an die Korinther und somit Paulus’ Aussagen über die Liebe verstehen zu können, ist es nötig, uns die antike Hafen- und Weltstadt Korinth – den Lebensraum der Gemeinde – vor Augen zu führen. Zunächst muss betont werden, dass es sich um eine Stadt handelt, denn der Graben zwischen Stadt- und Landbevölkerung war damals weitaus tiefer als in unserer Zeit. In der Stadt sprach man die Universalsprache Griechisch, ausserhalb wäre man damit, angesichts der Vielzahl der lokalen Dialekte, kaum von allen verstanden worden; ähnlich kann es einem noch heute mit Englisch ergehen. Das Stadtleben beeinflusst einen Menschen auf vielfältige Weise: in seinem Konsumverhalten, in seiner kulturellen Bildung, in seinen Begegnungen mit Menschen |31| anderer Herkunft und anderer Prägung, in seiner Kenntnis von Neuigkeiten und Ereignissen. Korinth gehörte damals zu den grossen und bedeutenden Städten des Mittelmeerraumes, die in wenigen Jahrzehnten eine regelrechte Bevölkerungsexplosion erlebt hatte. Der Handel und die Schifffahrt an der Schnittstelle von Orient und Okzident liessen sie reich werden. Der eine Hafen war nach Italien, der andere nach Asien ausgerichtet. Neben dem regen Hafenbetrieb gab es das Handwerk, für das Korinth ebenso berühmt war: Töpfereien, Keramikbetriebe, die Vasen und Tonziegel herstellten, Teppichwebereien und Metallbetriebe. Manch ein wandernder Handwerker schlug hier für eine Weile seine Werkstatt auf, so auch Paulus als Zeltmacher (Apostelgeschichte 18,3). Das Gespräch mit der Kundschaft war, wie man sich vorstellen kann, ein wichtiger Faktor bei der Verbreitung von Nachrichten, Ideen und religiösem Denken. Der private Lebensraum war für die meisten äusserst beengt; das Leben spielte sich darum hauptsächlich auf Plätzen und Strassen ab. «Ein fahrender Händler mit Kupferpfannen und Zauberamuletten, mit Horoskopen oder irgendeiner Offenbarung konnte sich darauf verlassen, dass sich die Nachricht von diesen Wunderdingen – war der anfängliche Kontakt erst einmal hergestellt – rasch herumsprechen würde» (Wayne A. Meeks, 64). Die wirtschaftliche Blüte gab der Stadt ein starkes internationales Flair. Hier trafen sich viele Sprachen, Gebräuche – und auch Religionen. Korinth war «ein Ort zahlreicher Kulte und Tempel, sozusagen ein Modellfall des antiken Synkretismus. Gottheiten und Kulte des alten Griechenland waren ebenso vertreten wie die ägyptischen Mysterienreligionen und die Institutionen des Kaiserkults» (Wolfgang Schrage, 1, 27). Auch eine jüdische Gemeinde war vertreten; man schätzt, |32| dass ihr Bevölkerungsanteil in Städten dieser Grösse bei zehn bis fünfzehn Prozent lag. Hier gab es nichts, was es nicht gab. «Dieses tolerante, multireligiöse Klima war einerseits für die Ausbreitung des Christentums günstig, brachte andererseits aber auch die Gefahr einer pluralistischen Einebnung mit sich» (Helmut Merklein, 1, 28). Der Ruf der Stadt war – wie oft bei grossen Hafenstädten – denkbar schlecht. Im Gegensatz zum traditionsbewussten Athen sagte man den Korinthern Laxheit und Genusssucht nach. «Das ausschweifende und lasterhafte Leben dieser Hafengrossstadt war sprichwörtlich» (Wolfgang Schrage, 1, 29). Eine entsprechende Wortschöpfung dieser Zeit belegt das: Man sprach griechisch von korinthiazesthai, zu übersetzen etwa mit «herumkorinthern», wenn jemand ein sexuell ausschweifendes Leben führte. In der Tat war neben dem Handel und den alle zwei Jahre hier stattfindenden Isthmischen Spielen die...