E-Book, Deutsch, 238 Seiten
Fink Meine Ur-Oma in der Buschschule
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-4542-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hintergründe der Zaubermärchen von den geraubten Königstöchtern
E-Book, Deutsch, 238 Seiten
ISBN: 978-3-7562-4542-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Brauch war so alt, dass er Eingang in die griechische Mythologie gefunden hat, und zwar in Form der Geschichte vom Mädchen Kore, das vom Gott Hades in die Unterwelt verschleppt wird. Tatsächlich kletterten die eingeschulten Knaben und Mädchen in einen brunnenartigen Schacht und befanden sich dann angeblich in der Unterwelt. Für ihre Verwandten galten sie als gestorben. In der Buschschule wurden sie mit den Pflichten und Rechten eines Stammesmitglieds vertraut gemacht und rituell in Erwachsene ver-wandelt. Zugleich damit war der Brauch so zäh, dass er in Mitteleuropa bis ins frühe Mittelalter von Generation zu Generation weitergereicht wurde, trotz der unzähligen Wanderun-gen, Kriege, Seuchen und Hungersnöte. Erst nach der Verbreitung des Christentums haben die Menschen auf ihn verzichtet. In Rumänien und in der Ukraine überlebte er in Form der Mädchen-Spinnstube bis ins 20. Jahrhundert. Nach dem Verschwinden des Brauchs aus der sozialen Wirklichkeit begann man von ihm zu erzählen - in der Späten Bronzezeit entstanden die Urformen unserer Zaubermär-chen, im Mittelalter die Sagen von den hilfreichen Zwergen und Saligen Fräulein. In der europäischen Folklore sind die Zaubermärchen von den geraubten Königstöchtern au-ßerordentlich gut vertreten. Deshalb wählte der Autor sie als Ausgangsbasis bei dem Versuch, den Brauch zu rekonstruieren.
Hans Fink (geboren 1942 in Temeschburg/Timisoara, Rumänien) ist ein rumäniendeutscher Journalist und Publizist. Er studierte Germanistik und Rumänistik und arbeitete viele Jahre als Journalist in Bukarest. Seine Themenfelder waren Unterricht und Erziehung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ERSTER TEIL
DIE EINLEITUNG
Das Vorhaben
Ich bewundere meine fernen Vorfahren, die mit zusammengebissenen Zähnen tapfer durch die Martern der Jugendweihe gegangen sind, Männer wie Frauen, Generation für Generation. Ihr Leidensweg und die darauffolgenden Erlebnisse in der Buschschule bilden den Hintergrund vieler Zaubermärchen. Die Gelehrten konnten sich keinen Reim darauf machen, wovon in diesen Märchen eigentlich die Rede ist, sie rätselten jahrzehntelang. Endlich, im Jahre 1946, veröffentlichte ein russischer Forscher ein Buch und machte auf einen Schlag vieles klar. Der Mann hieß Wladimir Jakowlewitsch Propp, lebte in Leningrad, und seine Abhandlung erschien unter dem geheimnisvollen Titel „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“.1 Hier beschrieb er den Ablauf der archaischen Jugendweihe und ihren institutionellen Rahmen, der mit einem englischen Fachwort Buschschule heißt. Von den Herausgebern der „Enzyklopädie des Märchens“ und ihren Mitarbeitern wurde diese Leistung Propps nicht anerkannt. Meines Wissens ist niemand weiter in die von ihm gewiesene Richtung vorgedrungen. Weder haben andere Erzählforscher versucht, die Entstehungszeit der Märchen von der europäischen Buschschule näher einzugrenzen, noch gaben sie sich die Mühe, die Schlussfolgerungen Propps aufgrund von Forschungsberichten, die ihm nicht zugänglich waren (etwa über Frauenbünde und Mädcheninitiation), zu ergänzen und zu berichtigen. Wären die Erzählforscher Propp gefolgt, hätten sie längst alle noch offenen Fragen beantwortet: wie die alteuropäische Buschschule eingerichtet war; wie das Initiationsritual ablief; warum unsere Vorfahren auf die Buschschule verzichtet haben; wann die Buschschule aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden ist; was wir aus den Märchen von der Buschschule über die Gesellschaft der Späten Bronzezeit erfahren; wie und aus welchen Gründen sich die Märchen im Laufe von 3.000 Jahren veränderten; wie das Märchen von den zwei Brüdern, das wir aus der Grimm'schen Sammlung kennen (KHM 60), in die Folklore der Yoruba in Nigeria gelangte; wie sich die Übereinstimmungen zwischen europäischen Märchen von der Buschschule und Überlieferungen erklären lassen, die in Südchina, Vietnam, Laos, Kambodscha und Indonesien aufgezeichnet worden sind. Wegen der Folgen des Zweiten Weltkriegs fanden Propps Erkenntnisse zum Ursprung der Zaubermärchen nur allmählich Verbreitung. Die deutsche Übersetzung der genannten Abhandlung erschien sogar mit einer Verspätung von vierzig Jahren. Die Redakteure und Mitarbeiter der „Enzyklopädie des Märchens“, unter ihnen Max Lüthi, hielten daran fest, dass alle Märchen erfunden worden sind. Mir ist in den siebziger Jahren, als ich noch in Rumänien lebte, die rumänische Übersetzung von Propps Abhandlung in die Hände gefallen. Kurz darauf las ich den Aufsatz von Monica Bratulescu über die rumänische Mädchen-Spinnstube, die als Ausläufer eines antiken Initiationsritus erkannt wurde. Unter dem Eindruck dieser zwei Texte begann ich gezielt Märchen, Literatur über Märchen, volkskundliche und völkerkundliche Literatur zu lesen. Ich stieß auf Bücher, die das Bild, das Propp sich gemacht hatte, ergänzten und berichtigten. Zu diesen gehört die Monografie von Georg Bohdan Mykytiuk über die ukrainischen Andreasbräuche, denn aus ihr geht hervor, dass es in der Ukraine Mädchen-Spinnstuben gegeben hat, die den rumänischen glichen wie ein Ei dem anderen. Aus dieser Ähnlichkeit lässt sich auf eine gemeinsame Urform schließen. Dank der Berichte über die kollektive Jugendweihe in Afrika, Amerika, Asien, Australien und Neuguinea ist es möglich, die europäischen Märchen von der Buschschule zu interpretieren. Sie enthalten – streng wissenschaftlich formuliert – Motive, die Momenten der archaischen Jugendweihe entsprechen. Oft bilden die Motive eine längere Kette, wobei ihr Platz in der Kette vom Ablauf der Jugendweihe bedingt ist. Die archaische Jugendweihe, die im vorgeschichtlichen Europa praktiziert wurde, spiegelt sich in den Varianten von mehreren Märchentypen des Aarne-Thompson-Katalogs wider, z.B. AT 301 „Die drei geraubten Königstöchter“ (auch bekannt als „Die Prinzessinnen in der Unterwelt“); AT 303 „Die zwei Brüder“; AT 303 A „Sechs Brüder suchen sieben Schwestern zu Frauen“; AT 310 „Die Jungfrau im Turm“; AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“, AT 325 „Der Zauberer und sein Schüler“, AT 400 „Der Mann auf der Suche nach seiner verschwundenen Gattin“; AT 425 A „Amor und Psyche“. Aus meiner Lektüre ergab sich die Frage, ob man den Weg, den Propp gegangen war, um die Märchen von der Buschschule zu erklären, nämlich vom Brauch zum Text, nicht in umgekehrter Richtung beschreiten könnte, um die europäische Buschschule zu rekonstruieren, ausgehend von den bekannten Märchen. Für diesen Coup bot sich der Märchentypus AT 301 an, weil er a) einerseits weit verbreitet, andererseits gut belegt ist und b) die Handlung sich auf eine erstaunlich lange Motiv-Kette stützt – wenn man die Varianten in Betracht zieht, sind es 39 Motive. Mit AT 301 als Ausgangsbasis ließe sich der Ablauf der Jugendweihe im Alten Europa umfassend präsentieren, natürlich mit dem Vorbehalt, dass der Ritus nicht bei allen Stämmen identisch verlaufen ist. Vorarbeiten zu einer derartigen Studie waren mir nicht bekannt. Ich gab mir Rechenschaft, dass ein Mensch allein dieses Projekt nicht zu bewältigen vermag – aber es war erlaubt, sich darüber Gedanken zu machen. Im Folgenden wird beschrieben, was die archaische Jugendweihe war, wann sie aufgegeben wurde und warum das geschah. Manche Informationen, die schon in der Anthologie „Was einmal war“2 auftauchen, erscheinen hier in einem neuen Kontext. Im ersten Teil des Buches wird auch veranschaulicht, wie und warum die Überlieferungen, die sich auf die Buschschule beziehen, im Laufe von 3.000 Jahren umgemodelt und zugleich damit entstellt worden sind. Beim Märchentypus AT 301 wird der Ritus der archaischen Jugendweihe nicht vollständig dargestellt, davon sind wir weit entfernt. Das betrifft nicht irgendeine Variante, sie gilt für die Gesamtheit der Texte, die zu diesem Typus gehören. Etliche Momente des Ritus sind hier gar nicht vertreten. Um die vermissten Momente zu benennen und durch Szenen aus anderen Märchen zu illustrieren, muss ich Exkurse einfügen, dabei sind Wiederholungen unvermeidlich. Propps Grenzen
Im Leben unserer Ahnen war die Jugendweihe das größte Ereignis, denn nur wer sie bestanden hatte, wurde als vollberechtigtes Stammesmitglied anerkannt. Das verdeutlichen die Beobachtungen Diedrich Westermanns im Hinterland von Liberia, wo der Männerbund Poro die Jugendweihe für Knaben veranstaltete: Bei den Kpelle musste ein freier Mann Mitglied im Poro-Bund sein, sonst durfte er kein Landeskind heiraten, durfte kein öffentliches Amt ausüben, blieb vom Mitbesitz der religiösen Güter ausgeschlossen und erhielt kein ehrenvolles Begräbnis.3 Um zu verstehen, was in der Buschschule geschah, können wir von Propps Definition des Ritus ausgehen: „Was ist Initiation? Es ist dies eine der Institutionen, die der Gentilordnung eigentümlich sind. Dieser Ritus wurde bei Eintritt der Geschlechtsreife vollzogen. Mit diesem Ritus wurde der Jüngling in den Stammesverband eingeführt, wurde dessen vollberechtigtes Mitglied und erlangte das Recht, in die Ehe zu treten. Das ist die gesellschaftliche Funktion dieses Ritus. Seine Formen sind verschieden, und auf sie werden wir noch in Zusammenhang mit dem Märchenmaterial eingehen. Diese Formen sind durch die gedankliche Grundlage des Ritus bestimmt. Es wurde angenommen, dass der Knabe während des Ritus starb und hernach als nunmehr neuer Mensch wieder auferstand. Dies ist der sogenannte zeitweilige Tod. Tod und Auferstehung wurden durch Handlungen hervorgerufen, die das Verschlucktwerden, das Verschlungenwerden des Knaben durch ein Untier darstellten. Er wurde gleichsam von diesem Tier gefressen und kehrte, nachdem er eine Zeitlang im Magen des Ungeheuers verbracht hatte, wieder zurück, d. h., er wurde ausgespieen oder ausgestoßen. Für den Vollzug dieses Ritus wurden manchmal spezielle Häuser oder Hütten gebaut, die die Form eines Tieres hatten, wobei die Tür den Rachen darstellte. Hier wurde auch die Beschneidung vorgenommen. Der Ritus vollzog sich immer tief im Walde oder im Dickicht, unter strenger Geheimhaltung; er war von körperlichen Misshandlungen und Verletzungen (Abhacken eines Fingers, Ausschlagen mehrerer Zähne u. a.) begleitet. Eine andere Form des zeitweiligen Todes äußerte sich darin, dass man den Knaben symbolisch verbrannte, kochte, briet oder...