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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 162, 192 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Fingerle Muttersprache


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99037-126-8
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band 162, 192 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-126-8
Verlag: Folio
Format: EPUB
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Von Bozen nach Berlin: Ein junger Mann auf der Suche nach einer unversehrten Sprache und der Schönheit der Wörter. Paolo Prescher ist besessen von Wörtern. Wörter haben für ihn Geruch, Farbe oder Klang. Paolo hasst dreckige Wörter, sie rauben ihm die Luft. Dreckig sind Wörter, die nicht sagen, was sie sagen sollen. Seine Mutter macht ihm die Wörter dreckig, auch seinem Vater, der Aphasiker ist. Paolo leidet unter der Heuchelei der Mutter und der Boshaftigkeit der Schwester. Er hasst seine Geburtsstadt Bozen mit ihrer behaupteten Zweisprachigkeit und ihren Oberflächlichkeiten. Auf der Suche nach einer unversehrten anderen Sprache flüchtet er nach Berlin und trifft dort auf Mira. Sie schafft es, seine Worte zu reinigen. Bis seine Obsession ihn wieder einholt. Die herausragende Entdeckung der italienischen Literaturszene.

Maddalena Fingerle, 1993 in Bozen geboren, studierte Germanistik und Italianistik in München und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni München. Das Romanmanuskript Lingua madre hat 2020 den renommierten Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte italienische Debüt gewonnen; nach Erscheinen folgten zahlreiche Preise.
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Bozen
Berlin
Bozen


BOZEN


Seit ich auf der Welt bin, heult meine Mutter. Sie heult, weil mein erstes Wort Wort war. Sie heult, weil ich Wort sage und nicht Mama. Sie heult, weil Papa nicht einmal redet, wenn ich Wort sage, und nicht Mama. Meine Mutter heult, heult, heult. Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass Wort nicht mehr Wort bedeutet, weil sie mir das Wort dreckig gemacht hat. Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass ich die dreckigen Wörter hasse, weil sie dreckig sind, und dass sie mir die Wörter dreckig gemacht hat. Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass ich die Wörter im Kopf habe und dass sie dreckig sind wie das Wort Wort. Sie ist dumm, sie kriegt nichts mit und sie heult, was sonst.

Papa allerdings ist ein hoffnungsloser Fall. Es gibt Leute, die nennen es Aphasie, und es gibt Leute, die nennen es Mutismus. Psychiater und Psychologen streiten sich deswegen. Einer schreit Aphasie, der andere schreit Mutismus. Keiner gewinnt. Das alles ist ein großer, ein riesengroßer Streit. Zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, zwischen der Person vom Zeitungskiosk des Viertels und dem Fleischhauer, zwischen der Nachbarin und dem Gärtner, und keiner gewinnt. Papa steht dazwischen und nicht einmal er gewinnt. Ständig sagt meine Mutter: Dein Vater ist aphasisch. Ich habe Angst vor dem Wort aphasisch, weil ich davon keine Luft mehr kriege und auch Asthma, weil wenn er aphasisch ist, dann bin ich eben asthmatisch.

Papa war nicht immer so stumm, als ich klein war, hatte er selektiven Mutismus, das sind Wörter, von denen mir die Luft nicht ganz wegbleibt, und ich hatte gehofft, mit einem selektiven Asthma durchzukommen. Aber dann hat er endgültig aufgehört zu reden, und so hat er jetzt echten Mutismus und ich echtes Asthma. Etwas Ventolin und viel Aerosol, und schon geht es mir besser, für Papa aber ist es nicht so einfach. Ich reiche ihm das Ventolin unter dem Tisch durch, damit meine Mutter nichts merkt. Er zwinkert mir zu und inhaliert das Ventolin, aber er wird davon nicht gesund, weil er immer noch nichts sagt. Deshalb probiere ich es auch mit Aerosol, das mich allerdings total langweilt, weil es nie aufhört, und deshalb mache ich es ständig auf, und meine Mutter schimpft, man muss die Flüssigkeit aufbrauchen und man darf es auf keinen Fall aufmachen, weil es sonst nicht mehr wirkt, aber das sagt sie auch immer vom frisch gepressten Orangensaft, dass man ihn sofort trinken muss, sonst verflüchtigt sich seine Wirkung, aber von mir aus stimmt das alles überhaupt nicht und ich rechtfertige mich: Ich wollte ja nur nachsehen, und kaum schaut sie weg, lass ich Papa probieren, er inhaliert kräftig und trotzdem sagt er immer noch nichts, und sobald meine Mutter abgelenkt ist, gieße ich die Flüssigkeit in die Töpfe der Zimmerpflanzen und denke: Wenn die Asthma haben, dann werden sie jetzt gesund werden. Aber die Zimmerpflanzen in unserer Wohnung haben kein Asthma, sie leiden an Aphasie, weil auch sie nicht reden. Meine Mutter sagt, dass man mit den Pflanzen reden soll, und ich versuche es, auch wenn ich nicht weiß, was sagen, deshalb sage ich irgendein Gedicht auf, dabei fühle ich mich wie ein Dummkopf, aber nein, ich werde es nicht mehr tun, sollen sie doch ihre Aphasie behalten. Aber ich versuche es mit Papa. … Papa? Er lächelt, aber er sagt immer noch nichts. Die Zimmerpflanzen in unserer Wohnung sind nutzlos, sie können nicht lächeln.

Ich erinnere mich nur ungenau an die Zeit, als Papa noch geredet hat, aber ich weiß, dass auch er die Wörter im Kopf hatte, früher. Ich weiß nicht, warum ich es weiß, aber ich weiß es. Dann aber muss er sie verloren haben oder er hat nur so getan, weil es ihm zu viel wurde, mit meiner Mutter zu reden. Ja, ich glaube, er hat nur so getan, als ob, und ich zwinkere ihm zu, so als wollte ich sagen: Dein Geheimnis bleibt unter uns. Ich schwöre, ich werde es niemandem verraten, Papa.

Unsere Wohnung ist vollgeräumt mit Dingen und deren Bezeichnung steht auf aufgeklebten Zetteln. Das ist seine ganz eigene Pesterkrankung der Sprache, sagt Großmutter, und sie betrachtet Papas Aufkleber. Liest er eigentlich noch viel?, fragt Großmutter, und ich bin erleichtert, dass sie seine Aufkleber nicht anfasst. Nein, aber er schreibt viel, sage ich im Kopf. Wenn er weiß, wie man die Wörter schreibt, dann hat er eben nur so getan, als ob er sie verloren hätte, sonst wäre er nicht imstande, sie zu schreiben, denke ich. Ich würde gerne mit jemandem darüber reden, aber ich kann meine Schwester nicht fragen, weil es ihr egal ist, und ich kann meine Mutter nicht fragen, weil sie dermaßen mit sich selbst beschäftigt ist, dass sie nie etwas kapiert.

Auf die Schreibmaschine hat Papa Schreibmaschine geschrieben und auf das Bücherregal hat er Bücherregal geschrieben, auf den Stift hat er Stift geschrieben, auf das Fenster hat er Fenster geschrieben, auf die Tür hat er Tür geschrieben und auf den Brieföffner hat er Brieföffner geschrieben. Unsere Wohnung unterscheidet sich von den Wohnungen anderer Leute, bei uns hier sind die Dinge mit den Bezeichnungen verbunden, und wenn ich Tisch sage, sehe ich den großen schwarzen Tisch im Wohnzimmer, und wenn man ihn berührt, dann sind die Fingerabdrücke zu sehen. Wenn die Leute Tisch sagen, dann rieche ich Holz, Staub und Holzleim. Und wenn meine Mutter den Tisch abwischt, riecht er nach rosarotem Alkohol. Aber es ist kein angenehmer Geruch, weil er mir das Wort Tisch dreckig macht. In meinen Augen sind alle Tische schwarz und sie riechen nach Tinte. Auch die Chimären sind schwarz, ich weiß nicht, warum, aber sie sind kohlschwarz. Kann sein, dass der Grund die Zeichentusche ist oder vielleicht Calimero, die Comicfigur. In unserer Wohnung klebt ein Aufkleber auch auf dem Stuhl, von dem ich Juckreiz kriege, er ist total unbequem und auf ihn setze ich mich nie. Er stinkt und er macht mir das Wort Stuhl dreckig, das jetzt dieser Stuhl hier ist. Er ist ockergelb, eine total hässliche Farbe, eine Farbe für farbenblinde Autisten. Kann sein, dass es mir nur so vorkommt, weil einer meiner Cousins, der Autist war, aber nicht farbenblind, dauernd ockergelbe Hosen anhatte und meine Mutter immer sagte, dass man farbenblind, aber nicht autistisch sein muss, um solche Hosen auszusuchen, und für mich sind Hosen Stuhl und Stuhl ist ockergelb und stinkt nach Stroh. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem Cousin, der farbenblinder Autist ist, weil meine Mutter immer mit allen Streit hat und weil sie heult und die Leute stresst, und so ist es ja ganz klar, dass keiner mehr zu uns nach Hause kommen will. Ich finde es schade, dass ich von meinem Cousin, der farbenblinder Autist ist, nichts mehr höre, und ich frage mich, was aus ihm geworden ist.

Im Wohnzimmer haben wir einen grünen Sessel der Marke Frau mit einem Aufkleber und meine Mutter gibt ständig an mit der Marke vor ihren erloschenen Freundinnen, mit denen sie den Fünfuhrtee nippt. Wenn sie Frau sagt, kriegt sie einen starren Blick, wie ein toter Fisch, und ganz stolz schürzt sie die Lippen, da muss man echt lachen über sie. Der grüne Sessel der Marke Frau macht mir das Wort Sessel dreckig, der nach den klebrigen Schenkeln stinkt. Klar, das kommt von Tante Rosis klebrigen Schenkeln. Tante Rosi ist eine alte Tante von mir, aber sie ist nicht wirklich meine Tante, vielleicht sind wir nicht einmal verwandt, alle nennen wir sie Tante Rosi. Ich finde sie echt ätzend und ich habe Angst vor ihr. Es ekelt mich auch ein wenig vor ihr. Und sie geht mir auf die Nerven. In der Küche, die nach Fett und Fleisch stinkt, zwickt sie mir mit ihrem fetten, öligen Mittelfinger und dem Zeigefinger fest in die Wangen. Dann versinkt sie im Ledersessel. Die Schenkel von Tante Rosi sind total fett und voller Dellen, sie kleben am Sessel und machen ein schreckliches Geräusch, wenn sie sich langsam lösen vom grünen Leder des Sessels der Marke Frau.

Hinter der Wohnungstür, gut sichtbar, steht Fußboden. So denken alle Leute, die bei uns zur Tür hereinkommen: Was ist das für ein Irrenhaus. Der Fußboden ist aus Holz und riecht nach Wachs und auch das Wort Fußboden ist aus Holz und riecht nach Wachs; es ist hell, das Wort Fußboden, auch wenn es dreckig ist. Die Leute denken immer, dass die hellen Dinge sauber sind und die dunklen Dinge dreckig, aber das stimmt überhaupt nicht. Nie verstehen die Leute, was ich meine, wenn ich sauber sage oder dreckig. Sommersprossen zum Beispiel find ich ätzend. Sie stinken nach Milch. Und auch die roten Haare, weil sie verbrannt riechen. Wie die Wörter Sommersprossen und rot. Aber es gibt ein Mädchen, das ich immer an der Bushaltestelle sehe, das Hallo sagt. Es hat saubere rote Haare und saubere Sommersprossen. Klar, Sommersprossen und rote Haare find ich ätzend, aber nicht bei dem Mädchen: Es kommt eben jedes Mal darauf an, um wen es geht. Keiner kapiert, was ich unter sauber und dreckig verstehe, und nie schaff ich es, das zu erklären, ich kriege so eine Wut davon, also rede ich definitiv nicht mehr...


Maddalena Fingerle, 1993 in Bozen geboren, studierte Germanistik und Italianistik in München und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni München. Das Romanmanuskript Lingua madre hat 2020 den renommierten Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte italienische Debüt gewonnen; nach Erscheinen folgten zahlreiche Preise.



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