E-Book, Deutsch, 194 Seiten
Reihe: zur Einführung
Figal Martin Heidegger zur Einführung
vollständig überarbeitet
ISBN: 978-3-96060-066-4
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 194 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-066-4
Verlag: Junius Verlag
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Günter Figal ist Professor für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Autoren/Hrsg.
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1. Einleitung
Das Werk Martin Heideggers ist selten gelassen aufgenommen worden. Es hat Bewunderung ebenso erregt wie – zum Teil erbitterte – Kritik. Heideggers Denken wurde für das tiefste und weitreichendste der Moderne gehalten, und ebenso hat man sich an seinen sprachlichen Manierismen gestoßen und angenommen, was als Tiefsinn erscheine, sei nichts als die Beschwörung leerer Worte. Außerdem ist das Werk eines Philosophen, der zu den wirkungsvollsten seiner Zeit und nicht nur seiner Zeit gehört und sich zugleich zum Nationalsozialismus bekannte, eine Herausforderung. Ist Heideggers Denken, zumindest sein Denken seit dem Anfang der 1930er Jahre, so tief von seinen politischen und ideologischen Verblendungen geprägt, dass man es im Ganzen für ideologisch halten müsste? Oder lässt sich das Denken von den politischen Überzeugungen des Denkers trennen? Die Antwort ist schwierig, und sie ist seit der Veröffentlichung der so genannten ›Schwarzen Hefte‹ im Rahmen der Gesamtausgabe noch schwieriger geworden. Heideggers Aufzeichnungen in diesen bis in die späten Jahre geführten Notizbüchern lassen deutlich werden, dass sein nationalsozialistisches Engagement tiefer war und auch länger andauerte, als man allein auf der Grundlage der früher zugänglichen Quellen annehmen musste, und sie zeigen, dass er sich auch in den Nachkriegsjahren nicht zu einem klaren und selbstkritischen Wort des Bedauerns durchringen konnte. Während Heideggers im engeren Sinne philosophische Texte aus den 1930er und frühen 1940er Jahren von ideologischen und politischen Äußerungen so gut wie frei sind, findet man in den ›Schwarzen Heften‹ jener Jahre ein irritierendes Gemisch aus philosophischen Überlegungen, politischen Überzeugungsbekundungen und abstoßenden, von Ressentiment geleiteten, zum Teil aggressiven antisemitischen Äußerungen. Wie das Verhältnis von Philosophie und Ideologie einzuschätzen ist, wird sich nur in gründlichen Einzeluntersuchungen klären lassen. Doch gewiss wird man Heideggers Philosophie von der Ideologie, die ihn zumindest eine Zeit lang beherrschte, können. Es gibt philosophische Gedanken, auch aus den 1930er und 1940er Jahren, die auch ohne die ideologischen Konkretisierungen, die Heidegger von ihnen gibt, formuliert und kritisch diskutiert werden können. Und erst recht sollte man Heideggers ideologische Prägung in den 1930er und 1940er Jahren nicht auf die 1920er Jahre, wohl seine philosophisch wichtigste und produktivste Zeit, zurückprojizieren. Nicht zuletzt die Philosophie der 1920er Jahre, wie sie in Heideggers Hauptwerk kulminiert, macht seine philosophische Wirkung aus. Wollte man auch dieses Werk und so Heideggers Philosophie im Ganzen als ideologisch geprägt verstehen, müsste man auch sagen, dass eine Reihe bedeutender Philosophen des 20. und 21. Jahrhunderts, ohne es zu bemerken, durch ein nationalsozialistisches oder faschistisches Denken beeinflusst gewesen seien, und das ist eine wenig plausible Annahme.
Die moderne Philosophie sähe ohne Heidegger anders aus. Ohne ihn wäre der Existentialismus Jean-Paul Sartres ebenso wenig möglich gewesen wie die Ethik der Alterität von Emmanuel Levinas; Hans-Georg Gadamer hätte seine philosophische Hermeneutik ohne Heidegger nicht entwickelt, Michel Foucault ohne die Anregung durch Heidegger anderes geschrieben, und Jacques Derridas Philosophie der Dekonstruktion wäre ohne die Auseinandersetzung mit Heidegger nicht entstanden. Ähnliches gilt für viele andere Philosophen, und zwar nicht nur für solche, die der so genannten ›kontinentalen‹ Philosophie zuzurechnen sind, also den Traditionen der Phänomenologie und der Hermeneutik. Auch analytische oder analytisch geprägte Philosophen wie Stanley Cavell oder Richard Rorty, haben mit Heidegger gedacht und über ihn geschrieben. Nach Heidegger lässt sich die Philosophie nicht ohne Heidegger verstehen.
Heideggers Wirkung ist wohl nicht zuletzt so groß und anhaltend, weil er als einziger Philosoph des 20. Jahrhunderts eine neue Sicht auf die Geschichte der Philosophie im Ganzen eröffnet hat: Es ist Heidegger zu verdanken, dass klassische Autoren wie Platon und Aristoteles, Kant oder Hegel neu gelesen werden können. Die Fragmente von Parmenides und Heraklit wären ohne ihn wahrscheinlich Gegenstände spezialisierter Forschung geblieben. Dass man Nietzsche als Philosophen ernst nimmt, geht auf die Interpretationen Heideggers zurück. Auch Kierkegaard oder Dilthey hätten es ohne Heidegger gewiss schwerer gehabt, in der akademischen Philosophie hoffähig zu werden.
Und schließlich: Heidegger hat in seinen intensiven Interpretationen der philosophischen Tradition sich immer wieder die Frage gestellt, was Philosophie ist und wie man Philosophie betreiben kann, ohne die Geschichte der Philosophie zu vergessen und ohne zum bloßen Verwalter des Überlieferten zu werden. Heidegger hat den geschichtlichen Charakter der Philosophie ernst genommen; es war ihm klar, dass eine Philosophie, die ihre Tradition ignoriert, hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt, allein schon, weil sie dann ihre Eingebundenheit in die Tradition nicht durchschaut. Doch Heidegger hat andererseits immer daran festgehalten, dass Philosophie mehr ist als ihre eigene Geschichte – immer dann, wenn sie sich einer sachlichen Frage unterstellt. Das ist, dem Selbstverständnis Heideggers nach, die Frage nach dem Sein – die Frage, von der Heidegger dachte, dass sie die Zentralfrage der Philosophie überhaupt sei.
Im Allgemeinen, zumindest am Anfang der Beschäftigung mit Heidegger, weiß man nicht genau, was mit der ›Seinsfrage‹ gemeint ist, und dann liegt es auch nahe, Heideggers oft rätselhafte Formulierungen als bloßen Wortzauber abzutun. In der Tat ist es schwierig, die Frage nach dem Sinn von ›Sein‹, so abstrakt, wie sie zunächst erscheint, zu verstehen. Und wenn man mit einer unvermittelten Erläuterung dieser Frage beginnt, gelangt man schnell ins Programmatische und übersieht, dass Heidegger die angeblich zentrale Frage der Philosophie oft indirekt erläutert und dabei seine reichsten und anschaulichsten Gedanken entwickelt. Um Heidegger zu verstehen, sollte man deshalb die »Seinsfrage« erst einmal auf sich beruhen lassen. Einen Zugang zu seinem Philosophieren findet man sehr viel leichter, wenn man verfolgt, wie Heidegger seine Gedanken entwickelt und die Sachverhalte, an denen er diese Gedanken festmacht, beschreibt. Beginnt man mit seinen ersten eigenständigen Überlegungen, dann kristallisieren sich die zentralen Motive und Gedankenfiguren seiner Philosophie bald heraus.
Obwohl Heidegger diesen Motiven und Gedankenfiguren durchgängig treu bleibt, bietet sein Werk keine allmählich fortschreitende Entwicklung eines bereits früh entworfenen Programms. Es ist vielmehr ein gigantischer Torso; immer wieder setzt er neu an, wechselt seine Begriffe oder, was noch schwieriger zu überschauen ist, verwendet einmal eingeführte Begriffe in neuen Bedeutungen. Seine Schriften und Vorlesungen dokumentieren ein rastloses Experimentieren mit dem eigenen philosophischen Ansatz; in ihnen versucht Heidegger immer neue Darstellungen, immer neue Fassungen seiner Gedanken zu finden. So gelangt Heidegger beim Versuch der Durchführung seines Programms zu Lösungen, die sich nicht mehr aufeinander reduzieren lassen, sondern in ihrer Verschiedenheit und Vorläufigkeit stehen bleiben. Er verrennt sich auch, indem er seine Überlegungen hart an die Grenze der Nachvollziehbarkeit treibt. Doch immer findet er neue Wege: neue Möglichkeiten, das, was ihn als Denker bewegt, in Worte zu fassen.
Wer Heideggers Philosophieren verstehen will, muss sich auf den experimentellen Charakter seines Werkes einlassen. Einen Zugang zu ihm findet man deshalb vor allem an den Brüchen und Bruchstellen. Dort sieht man, mit welcher Konsequenz Heidegger seine Fragestellung verfolgt und zugleich bereit ist, seine Gedanken anders zu formulieren, wenn sich ein Lösungsversuch für ihn als unbefriedigend erweist.
Wer Heideggers Philosophie verstehen will, kann sich jedoch nicht damit begnügen, nur Heidegger verstehen zu wollen. Viele, oft die entscheidenden Gedanken Heideggers sind in der Auseinandersetzung mit anderen Philosophien gewonnen und in Textinterpretationen dargestellt. Heidegger denkt und schreibt lesend; was ihn herausfordert, ist weniger die Anschauung, sondern vielmehr ein Text, den er wie mit der Lupe durchgeht, um ihm bis dahin verborgene Bedeutungs- und Sinnmomente abzulesen. Entsprechend ist es für die Philosophie Heideggers charakteristisch, dass sie eigene und höchst eigentümliche Verfahren der Textinterpretation entwickelt hat. Eine Einführung in Heidegger kann man nicht geben, ohne auch von Hegel, von Husserl und Dilthey, von Aristoteles und Platon, von Hölderlin und Nietzsche, von Ernst Jünger zu sprechen. Am wichtigsten dabei sind jedoch Aristoteles und Platon. Es ist unmöglich, Heidegger ohne die Berücksichtigung der klassischen griechischen Philosophie gründlich und angemessen zu verstehen.
Eine Einführung in Heidegger wird also mehr als nur Heideggers Texte zur Sprache bringen müssen. Andererseits ist sie, wie jede Einführung, ja, wie jede Darstellung eines...




