E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Ferraris Die letzte Sure
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-96459-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-492-96459-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zoë Ferraris hat ein Jahr lang in einer strenggläubigen muslimischen Gemeinde in Dschidda, Saudi-Arabien, gelebt, bevor sie ihr Romandebüt »Die letzte Sure« schrieb. Für »Die letzte Sure« wurde sie mit dem »Mystery Fiction Award« der Santa Barbara Writers Conference ausgezeichnet. Zoe Ferraris hat einen MFA der Columbia Universität in New York. Zuletzt erschien mit »Wüstenblut« ihr dritter Roman.
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1
Bevor die Sonne an jenem Abend unterging, füllte Nayir seine Wasserflasche, nahm den Gebetsteppich unter den Arm und stieg die gen Süden gelegene Düne unweit des Lagers hinauf. Aus einem der Zelte hinter ihm erscholl lautes Gelächter, und er vermutete, dass seine Männer Karten spielten, wahrscheinlich Tarnip, und den Siddiqi herumgehen ließen. Jahrelanges Reisen durch die Wüste hatte ihn gelehrt, dass man niemanden davon abhalten konnte zu tun, was er wollte. Hier draußen gab es kein Gesetz, und wenn den Männern nach Alkohol zumute war, dann tranken sie eben welchen. Nayir fand die Vorstellung widerwärtig, dass sie am Freitagmorgen, dem heiligen Tag, mit einem vom Schnaps verunreinigten Körper aufwachen würden. Aber er sagte nichts. Nach einer Woche ergebnislosen Suchens war ihm nicht danach, andere zurechtzuweisen.
Er erklomm die Düne in gemächlichem Tempo und pausierte erst, als er den Kamm erreicht hatte. Von hier aus hatte er einen weiten Blick über das Wüstental, verkarstet und flach, umgeben von niedrigen Dünen, die sich im goldenen Licht der untergehenden Sonne als Wellenlinie abzeichneten. Doch sein Auge wurde zu etwas hingezogen, das das friedliche Bild störte: ein halbes Dutzend Geier, die sich über den Kadaver eines Schakals hermachten. Sie waren der Grund gewesen, warum sie hier Halt gemacht hatten – wieder eine falsche Fährte. Vor zwei Tagen hatten sie es aufgegeben, die Wüste abzusuchen, stattdessen waren sie dazu übergegangen, den Geiern zu folgen. Doch jede Ansammlung von Geiern führte sie nur zu einem verendeten Schakal oder einer toten Gazelle. Natürlich waren sie erleichtert, aber gleichzeitig auch enttäuscht. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie sie finden würden.
Er holte seinen Kompass hervor, suchte die Richtung nach Mekka und legte seinen Gebetsteppich aus. Er schraubte seine Wasserflasche auf und schnüffelte zur Sicherheit daran, eine automatische Geste. Das Wasser roch nach Blech. Er nahm einen Schluck und kniete dann schnell auf dem Sand nieder, um seine Waschungen zu verrichten, darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten. Er rieb sich Arme, Hals und Hände ab, und als er fertig war, schraubte er die Wasserflasche wieder fest zu und genoss die kurze Erfrischung des Wassers auf seiner Haut.
Er erhob sich und begann zu beten, doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu Nouf. Aus Gründen des Anstandes versuchte er, sich nicht ihr Gesicht oder ihren Körper vorzustellen, doch je mehr er an sie dachte, desto lebendiger wurde sie. Vor seinem geistigen Auge schritt sie durch die Wüste, den Körper gegen den Wind gestemmt, während das schwarze Gewand gegen ihre sonnenverbrannten Knöchel peitschte. Allah verzeih mir, dass ich mir ihre Knöchel vorstelle, dachte er. Und dann: Wenigstens glaube ich, dass sie noch lebt.
Wenn er nicht betete, stellte er sich andere Dinge vor. Er sah sie knieend vor sich, wie sie sich Sand in den Mund schaufelte, im Irrglauben, es sei Wasser. Er sah sie ausgestreckt auf dem Rücken liegen, und das metallene Handy sengte ihr ein Brandmal in die Hand. Er sah die Schakale ihren Körper in Stücke reißen. Doch während des Gebets bemühte er sich, diese Ängste beiseitezuschieben und sich vorzustellen, dass sie noch um ihr Leben kämpfte. Heute Abend rang sein Geist verzweifelter als je zuvor darum, diesem scheinbar aussichtslosen Fall doch noch einen Funken Hoffnung einzuhauchen.
Nach dem Gebet fühlte er sich erschöpfter als zuvor. Er rollte den Teppich zusammen, setzte sich am äußersten Rand des Hügels in den Sand und blickte hinaus auf die Dünen. Der Wind nahm zu und streichelte den Wüstenboden, hob ein paar Sandkörner auf, um seine Eleganz besser zur Schau zu stellen, während die Erde ihre Haut mit einem Kräuseln abstreifte und die Flucht zu ergreifen schien. Die Gestalt der Dünen veränderte sich unablässig mit dem Wind. Mal erhoben sie sich zu Gipfeln, mal legten sie sich in schlierende Muster, wie Schlangenspuren. Die Beduinen hatten ihm beigebracht, die Formen zu deuten, um daraus praktische Folgen abzuleiten wie etwa die Wahrscheinlichkeit eines Sandsturms oder die Windrichtung am nächsten Tag. Einige Beduinen glaubten, dass die Formen auch prophetische Bedeutungen bargen. Im Moment bildete das Gelände, das ihm direkt gegenüberlag, eine Reihe von Sicheln, anmutige Halbmonde, die sich dem Horizont entgegenfächerten. Sicheln bedeuteten, dass Veränderung in der Luft lag.
Nayirs Gedanken wanderten zu dem Bild in seiner Tasche. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand hinter ihm den Hügel heraufkam, holte er das Foto hervor und gestattete sich das seltene Vergnügen, das Gesicht einer Frau zu betrachten.
Nouf ash-Shrawi stand in der Mitte des Bildes, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht, und schnitt sich ein Stück Torte ab. Es war auf der Geburtstagsparty ihrer jüngeren Schwester. Sie hatte eine lange Nase, schwarze Augen und ein umwerfendes Lächeln. Es war schwer vorstellbar, dass sie kaum vier Wochen nach der Aufnahme fortgelaufen war – und dann auch noch in die Wüste – und alles hinter sich gelassen hatte: einen Verlobten, ein luxuriöses Leben, eine glückliche Familie. Auch die kleine fünfjährige Schwester hatte sie verlassen, die da auf dem Foto neben ihr stand und bewundernd zu ihr hochblickte. Warum?, fragte er sich. Nouf war erst sechzehn. Sie hatte noch das ganze Leben vor sich.
Und wo war sie hingegangen?
Als Othman anrief und ihm vom Verschwinden seiner Schwester berichtete, war Nayir wie vor den Kopf gestoßen. Noch nie hatte er Othman so schwach erlebt. »Ich würde mein Blut hergeben«, hatte er gestammelt, »wenn das helfen würde, sie zu finden.« In dem langen Schweigen, das folgte, spürte Nayir, dass Othman weinte. Er hatte das Schlucken in der Stimme gehört. Othman hatte ihn noch nie um etwas gebeten. Nayir versprach, er wolle alles tun, um zu helfen.
Schon seit vielen Jahren hatte er die Männer der Familie Shrawi in die Wüste geführt. Dutzende Familien wie die Shrawis. Und sie waren alle gleich: reich und aufgeblasen, krampfhaft bemüht zu beweisen, dass sie ihr beduinisches Geburtsrecht nicht verloren hatten, auch wenn für die meisten von ihnen die dunklen Ölquellen des Landes immer eine größere Anziehungskraft haben würden als jede oberirdische Landschaft. Aber Othman war anders. Er war einer der wenigen, die die Wüste ebenso leidenschaftlich liebten wie Nayir, und er war klug genug, seine Abenteuer auch zu genießen. Er bestieg ein Kamel erst dann, wenn ihm jemand erklärt hatte, wie man wieder herunterkam. Er holte sich nie einen Sonnenbrand. Er verlor nie die Orientierung. Er und Nayir waren sich durch ihre gemeinsame Liebe für die Wüste nähergekommen, und es war eine unkomplizierte Freundschaft entstanden, die sich im Lauf der Jahre vertieft hatte.
Am Telefon war Othman derart verzweifelt, dass die Geschichte nur in verwirrenden Bruchstücken aus ihm herauskam. Seine Schwester sei verschwunden. Fortgelaufen. Vielleicht sei sie entführt worden. Weil die Familie wohlhabend war, sei es denkbar, dass jemand ein Lösegeld verlangte – aber Entführungen waren selten, und es war auch noch keine Lösegeldforderung eingegangen. Es war zwar erst ein Tag vergangen, aber das war lang genug. Nayir musste nachbohren, um zu erfahren, was eigentlich passiert war. Niemand wusste genau, seit wann sie weg war. Erst am Nachmittag hatten sie bemerkt, dass sie verschwunden war. Sie war zuletzt am Morgen gesehen worden, als sie ihrer Mutter sagte, sie wolle zum Einkaufszentrum, um ein Paar Schuhe umzutauschen. Doch im Laufe des Nachmittags entdeckte die Familie, dass noch mehr verschwunden war: ein Pick-up und der neue schwarze Umhang, den sie für ihre Hochzeitsreise gekauft hatte. Als dann im Stall auch noch ein Kamel fehlte, waren sie überzeugt, dass sie in die Wüste wollte.
Ihr Verschwinden überraschte alle. »Sie war doch glücklich«, sagte Othman. »Sie stand kurz vor der Hochzeit.«
»Vielleicht ist sie nervös geworden?«, fragte Nayir behutsam.
»Nein, sie wollte diese Ehe.«
Falls zu der Geschichte noch mehr zu sagen war, behielt Othman es für sich.
Den nächsten Tag verbrachte Nayir damit, Vorbereitungen zu treffen. Er lehnte die fürstliche Bezahlung ab, die ihm die Familie anbot, und nahm nur so viel an, wie er benötigte. Er mietete zweiundfünfzig Kamele, kontaktierte jeden wüstenerfahrenen Mann, den er kannte, und rief sogar beim Innenministerium an, Abteilung Spezialdienste, um anzufragen, ob sie sich mit ihrem Militärsatelliten an der Suche beteiligen würden, aber ihre Beobachtungsgeräte waren anderen Aufgaben vorbehalten. Gleichwohl gelang es ihm, ein Such- und Rettungsteam zusammenzustellen, das aus dreiundvierzig Männern bestand und einer Einheit von Teilzeitbeduinen, die es nicht für nötig hielten, auch nur einen Blick auf Noufs Foto zu werfen, da es ihrer Ansicht nach nur eine Sorte Frau gab, für die es eine gewisse Verbesserung gegenüber ihrem Alltagsleben darstellte, sich in der größten Sandwüste der Welt zu verirren. Die Männer entwickelten die Theorie, Nouf sei mit einem amerikanischen Geliebten davongelaufen, um ihre arrangierte Ehe nicht eingehen zu müssen. Es war schwer zu sagen, wieso alle das glaubten. Es hatte einige Fälle gegeben, wo sich ein reiches saudisches Mädchen in einen Amerikaner verliebt hatte, und sie waren so schockierend gewesen, dass sie sich in der kollektiven Erinnerung festgesetzt hatten. Aber es geschah nicht so oft, wie man gemeinhin annahm, und soweit Nayir wusste, war noch nie ein saudisches Mädchen in die Wüste geflohen. Trotzdem, die meisten Männer seines Trupps glaubten, dass Noufs Verschwinden etwas mit einem heimlichen Geliebten zu tun hatte.
Die...