E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Ferlinghetti Little Boy
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7317-6156-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6156-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lawrence Ferlinghetti wurde 1919 in Yonkers geboren. Als Dichter, Maler, Aktivist und Verlagsgründer gehörte er der Beat-Bewegung an. Sein Gedichtband A Coney Island of the Mind (1958) ist in den USA bis heute ein Bestseller und wurde vielfach übersetzt. Ferlinghetti erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen und verweigerte zuletzt aus Protest gegen die Politik Viktor Orbáns den Preis des ungarischen PEN Club. Er starb im Februar 2021 im Alter von 101 Jahren in San Francisco.
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Little Boy war nah am Nichts. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder woher er stammte. Er lebte bei Tante Emilie, die er sehr liebte. Sie hatte ihn als Windelkind von seiner Mutter übernommen, die bereits vier Söhne hatte und sich einem fünften, zur Welt gekommen nur Monate, nachdem sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, nicht gewachsen sah. Sein Bruder Harry, zwölf Jahre alt, hatte Vaters Leiche gefunden, auf den Kellerstufen hinter ihrem kleinen Haus gleich am Nordrand von Van Cortlandt Park in Manhattan. Jahre später würde Harry schreiben: »Arme Mama, kein Geld, Paps tot«. Seine Mutter, Clemence Albertine Mendes-Monsanto, wurde in Providence, Rhode Island, geboren. Ihre sephardischen Eltern waren aus Saint Thomas auf den Jungferninseln eingewandert, wo die Familie lange als wohlhabende Plantagenbesitzer gelebt hatte, bis sie der zusammenbrechende Zuckermarkt Ende des neunzehnten Jahrhunderts verarmen ließ. Die Familie war zunächst vor der Inquisition in Spanien und Portugal geflohen, erreichte die Neue Welt aber beileibe nicht nur mit ein paar Klamotten und im Zwischendeck. Sie reisten mit all ihren Habseligkeiten in Überseekoffern, mit Gold, Juwelen und sogar Kandelabern und konnten sich entsprechend als Händler und Pflanzer auf Saint Thomas niederlassen, wo sie bald auf einem Hügel mit Blick aufs Stadtzentrum ein großes Haus mit geräumigen Veranden bewohnten. Ein Familienalbum zeigte sie mit breitkrempigen Hüten und schwarzen Schleifenbindern. Saint Thomas war dänische Kronkolonie, bis Amerika zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das Ruder übernahm. Durch Heirat hatten die Monsantos sich sowohl mit Dänen als auch französischen Siedlern verbunden, und es gab viele französische Verwandte, die man besuchte oder die aus Frankreich zu Besuch kamen. Clemence Albertine hatte eine französische Mutter vage aristokratischen Ursprungs, und sie sprach immer noch Französisch. So kam es, dass der Onkel von Clemence Albertine sich mit der aus Nordfrankreich stammenden Emilie vermählte, und so kam Emilie, die immer ein Kind hatte haben wollen, und übernahm den neugeborenen Laurent von seiner verzweifelten Mutter und ging mit ihm nach Frankreich. Little Boy gelangte viele Jahre später zur Einschätzung, dass ihr Gatte Ludwig Monsanto, ein Professor für Sprachen und um einiges älter als Emilie, im vorgerückten Alter kein Kind mehr adoptieren wollte und daher Emilie mit dem kleinen Laurent sitzen ließ. Und so nahm ihn Tante Emilie, als er gerade zwei war, zurück nach Mulhouse (wo auch der berühmte Capitaine Dreyfus herstammte), und dort lebten sie ausreichend lange, dass er Französisch noch vor Englisch sprach, und seine allererste Erinnerung ans eigene Dasein führt zu einem Balkon über dem Boulevard, wo eine Parade abgehalten wurde, und jemand winkte der großen Parade, während Kapellenmusik und Fetzen der »Marseillaise« nach oben hallten. Und das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass sie sich wieder in New York befanden, in einer großen, hohen Wohnung auf der Upper Westside mit Blick über den Hudson und die Klippen der Palisades am jenseitigen Ufer des großen Flusses, und Dampfschiffe tuteten lautstark, und irgendwie waren Tante Emilie und Ludwig wieder ein Paar. Sein Bart kratzte, als er Little Boy umarmte, und momentlang waren sie in Sonnenlicht gehüllt, bis Onkel Ludwig plötzlich nicht mehr da war und dieses Mal für immer. Also waren wieder nur er und Tante Emilie in der großen eleganten Wohnung, wenn auch nicht für lange, denn sie hatte kein Geld, und bald kam ein Mann vom Gesundheitsamt und nahm ihn mit in ein Waisenhaus in Chappaqua nördlich von New York, weil sie kein Geld hatte, ihm Milch zu kaufen, und der Mann sagte, Little Boy zeige Anzeichen von Rachitis. Und als sie ihn Emilie wegnahmen, flossen viele Tränen, und wie es kam, blieb er im Waisenhaus, und Jahre später war als einzige Erinnerung geblieben, dass er halbgaren Tapiokapudding essen musste, der bei den Kindern unter »Katzenaugen« firmierte. Oh verlorene Zeit und oh versagendes Erinnern bis zu dem Punkt nach einem Jahr, als Tante Emilie ihn holen kam, und es waren immer noch die Zwanziger. Und wie er sich an die damalige Emilie erinnerte. Sie trug Glockenhüte und das Haar so kurz wie Louise Brooks und immer das gleiche elegante Kleid im Stil der Zwanziger, mit tiefem Dekolleté und langer Perlenkette und immer Kölnisch-Wasser-Duft verströmend. Und natürlich gab es dieses »immer« nur in Little Boys Erinnerung, aber es muss ihre verstaubte Eleganz gewesen sein (gut versteckt in ihrem elegant gesprochenen Französisch), die ihr eine Position als französische Gouvernante einbrachte, für die achtzehnjährige Tochter von Anna Lawrence Bisland und Presley Eugene Bisland in Bronxville, New York, die dort in einer efeubedeckten Villa unweit vom Sarah Lawrence College lebten, dessen Gründung auf den Vater von Anna Lawrence zurückging. Und so kam Tante Emilie ihn holen und so begann ihr Leben in einem Zimmer im dritten Stock knapp unterhalb des Dachbodens, wo sich Überseekoffer mit Cunard Line-Aufklebern den Platz mit alten Sätteln und betagtem Schnickschnack teilten. Aber Little Boy erinnerte sich vor allem an die abendlichen Dinner im herrschaftlichen Speisezimmer mit dem massigen holländischen Butler, der auch als Chauffeur arbeitete und das Butlern nicht gewöhnt war und versuchte, der Servierteller Herr zu werden, während tante Emilie mit der schönen Tochter Sally auf Französisch plauderte und die Eltern an den Schmalseiten des langen Tischs von Zeit zu Zeit das Wort ergriffen, oder zumindest Madame Bisland das tat, weil es als stilvoll galt, Französisch zu sprechen und große Reisen nach Europa, besonders nach Paris, zu unternehmen, und Tante Emilie verzauberte sie ohne Frage, bis sie ein paar Monate danach Presley Bisland für den Geschmack von Madame Bisland etwas zu sehr verzaubert hatte, und plötzlich war Tante Emilie aus diesem Haus verschwunden, und man erzählte Little Boy, dass Emilie an ihrem freien Tag gegangen und einfach nie zurückgekommen sei. Nun, insofern als die Bislands einen im Säuglingsalter gestorbenen Jungen namens Lawrence gehabt hatten, schien es ein Akt göttlicher Vorsehung zu sein, dass sie mit einem anderen Lawrence gesegnet wurden. Und so ging es weiter, und Little Boy blieb bis Ende der Zwanzigerjahre bei ihnen in der feinen Villa in Lawrence Park, West Bronxville. Und weil er nun aber schulpflichtig geworden war, schickten sie ihn gleich ins Internat der Riverdale County School in Riverdale-on-Hudson, woran Little Boy keine weitere Erinnerung hat als die an einen netten Schulleiter, der sich um ihn, den Jüngsten an der Schule, kümmerte, und in den Adirondacks veranstalteten sie ein Sommercamp, wo Little Boy schwimmen und Knoten knüpfen lernte und zum ersten Mal die großen Wälder sah, die hochstämmigen Kiefern, die schimmernden Seen, die versteckten Bäche und das Licht, in dem sie strahlten wie am ersten Morgen dieser Welt. Aber das war nur eine flüchtige Idylle, von der er lange zehren musste, während zwischen Camp und Schule das Leben in der Villa in Bronxville für Little Boy sehr einsam war, der nächste Nachbar außer Sichtweite und kein Kind welchen Alters auch immer zum Spielen da, und es gab nur die erwachsenen Bislands, die Little Boy sehr alt vorkamen, obwohl sie vielleicht nur in ihren Fünfzigern waren, und er hatte ein Zimmer in einem Flügel des Hauses, wo große Eichen ihre Zweige über seine Fenster breiteten, und der Wind heulte um die Steinmauern des großen Hauses, aber der Wind war sein Gefährte in diesem Zimmer, das so weit weg vom Rest des Hauses schien. Erst zur Essenszeit, wenn eine Tischglocke ertönte, stieg er zum Familientisch hinab, um zwischen Presley und Anna Bisland zu sitzen, die wie aus enormer Entfernung miteinander sprachen. Sie nun alle zu beschreiben, wäre ein Unterfangen für einen Schriftsteller wie Charles Dickens, denn sie waren wirklich in jeder Hinsicht viktorianisch, jeder für sich ein einzigartiger Charakter aus einer anderen Zeit, zumindest für Little Boy. Und Presley Eugene Bisland war in Natchez, Mississippi, in eine vornehme, aber verarmte Familie hineingeboren, wenige Jahrzehnte nach dem Sezessionskrieg, in dem sie alles außer ihrer großen alten Villa »Mount Repose« verloren hatten. Presley war der jüngste Sohn einer kinderreichen Familie, und es gab für ihn nichts zu erben. Also machte er sich mit fünfzehn auf in den Westen, in der Hoffnung, in Goldrauschkalifornien sein Glück zu finden. Er begleitete den Viehtrieb über den Chisholm Trail, lernte Pferde zähmen und arbeitete sich als Cowboy nach Westen vor. Irgendwo in Nordkalifornien setzte er ganz auf eine vielversprechende Goldmine, nur um jeden einzelnen Cent zu verlieren, als die Mine nichts abwarf. Pleite, aber immer noch erst zwanzig, landete er in New York City, wo er – dank der Verbindungen seiner Familie – bald mit entfernt verwandten reichen Cousins verkehrte (im Alten Süden waren alle mit allen verwandt) und zu vielen Partys um die obere Park Avenue und Fifth Avenue herum eingeladen wurde. Tatsächlich war er ein schmucker Mann, und obwohl er nur einen bescheidenen Job bei der Abt Coin Counter Company hatte, war er bei den Debütantinnen jener Zeit äußerst gefragt, darunter auch die junge Anna Lawrence, deren Familie ein herrschaftliches Haus in der oberen Fifth Avenue besaß. Dort arrangierte man die Ehe (ob mit oder ob ohne Liebe, erfuhr man nie) zwischen dem sehr schmucken, wortgewandten Presley und der schlichten, aber fügsamen Anna Lawrence. Nach einer großen Hochzeit ließen sie sich in Bronxville nieder, etwa fünfzig Meilen von der Stadt entfernt. Zu jener Zeit war Bronxville wenig mehr als offenes Feld, und Annas Vater hatte den größten Teil der Anbauflächen aufgekauft und eine Modellstadt mit schönen Häusern...