E-Book, Deutsch, 255 Seiten
Fels Ein Unding der Liebe
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86913-489-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 255 Seiten
ISBN: 978-3-86913-489-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ludwig Fels, 1946 im mittelfränkischen Treuchtlingen geboren, arbeitete in verschiedenen Gelegenheitsjobs, bevor er 1970 nach Nürnberg zog. Seit 1973 ist er freier Schriftsteller. Er debütierte mit dem Lyrikband Anläufe, zahlreiche weitere Publikationen, Theaterstücke und Romane folgten. Ein Unding der Liebe befand sich 1981 monatelang an der Spitze der SWR-Bestenliste. Immer wieder veröffentlichte Fels auch Hörspiele und arbeitete für den ORF. Er wurde mit vielen Auszeichnungen bedacht, u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis 1979, dem Preis der SWR-Bestenliste 1979 und dem Wolfgang-Koeppen-Preis 2004. Fels lebt seit 1983 in Wien.
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Die Übermacht
Dezember, Monat, wo es Federn regnet. In den Häusern blasen die Menschen ihre Betten auf. Die Landschaft trägt einen weißen Verband. Das Stroh der Krippe steckt in allen Köpfen, die Pfarrer gurgeln mit Hustensaft. Motorsägen heulen in den Wäldern, Lastwagen mit bewipfelter Ladefläche rollen den Städten zu. Fische beißen ins Eis. Man reicht sich die Handschuhe zur Begrüßung, kocht Wein, fettet Stiefel ein, legt sich nachts nieder, steht nachts wieder auf. Wenn der Tag ein bißchen Grau abgibt, erwacht die Erinnerung an die vergessene Sonne, die hinter tausend Horizonten scheint. Totengräber hacken mit Pickeln die beinharte Erde auf, streuen Viehsalz in die Gruben, denn es wird noch allerhand gestorben vor der neuen Jahreszahl. Die Leute brennen Kerzen ab, die Elektrizitätswerke verlieren Kundschaft. Schnaps und Speck versiegeln die vermummten Poren. Die Einsamen und die Traurigen fallen nicht ins Gewicht.
Georg Bleistein hatte Feierabend.
Er empfand nichts dabei, es war wie immer, nicht einmal das Wetter hatte sich geändert. Morgen früh würde er den gleichen Weg zurückfahren, ein paar Stunden älter, erholt für die Arbeit. Georg war ziemlich betrunken; auch das war er gewohnt.
Langsam fuhr er auf seinem Sportrad über den leeren Kundenparkplatz, keuchte vor Kälte, der feuchte Schnee war von Reifen glattgewalzt. Flocken schmolzen in seinen Augen, Wasser lief ihm aus den Nasenlöchern. Seine Kollegen hupten, sobald sie ihn überholt hatten. Die Rücklichter ihrer Autos verlöschten in der Dunkelheit, dann war er allein unterwegs.
Es ging auf Weihnachten zu.
Wie eine löchrige Wand rückte die Stadt aus dem zitternden Gewirbel, die Mauern der Häuser waren schwarz vor Nässe. Bevor Georg in die Hauptstraße einbog, an der die meisten Geschäfte standen, stieg er ab und schob sein Rad. Überall flackerten verzierte Glühbirnen. Er mußte endlich Geschenke für seine Tante und seine Großmutter kaufen, Gaben zur Bescherung für die Weiberbande. Er wußte aber nicht recht, wonach er suchen sollte. Beide Frauen rauchten nicht, seine Tante trank kaum. Nur seine Großmutter pichelte gern und heftig. Außerdem hatten sie einen Geschmack, der ihn nichts anging. Daheim, in seinem Zimmer versteckt, lagen erst eine Schachtel Weinbrandbohnen und ein Glas Dörrpflaumen in Kognaksud, alles aus Sonderangeboten. Es blieb ihm nur übrig, irgend etwas für ihre Gesundheit zu erstehen.
In einem Reformhaus kaufte Georg zwei Flaschen Nervensaft, die er in seidiges Blümchenpapier verpackt bekam. Mit klammen Fingern verstaute er die Flaschen in seiner Aktentasche, die er an den Lenker hängte. Dann schob er sein Rad die Auslagen entlang, deren Scheiben schier platzten vor Fülle. Vor jedem Schaufenster blieb er stehen und versuchte, sich die Preise zu merken. Die Leute störten ihn; sie rannten wie kopflos herum. Ein Bekleidungsgeschäft hatte Pelzmützen im Fenster, die als billiger Restposten ausgezeichnet waren. Das Fell war zwar nicht echt, aber der Tante würde das bestimmt nicht auffallen. Georg ging hinein und wartete ungeduldig, bis er an die Reihe kam. Die Verkäuferin fragte nach der Kopfgröße: er wußte keine Antwort, überlegte heftig und schätzte grob ab, denn Umtauschen konnte die Tante das Ding immer noch. Während er umherschaute vor lauter Verlegenheit, entdeckte er einen wattierten Morgenrock für vollschlanke Damen. Kurz entschlossen nahm er ihn für die Großmutter mit. Das Gewebe gleißte und knisterte, als es im Karton zusammengefaltet wurde. Die Finger der Verkäuferin strichen flink über Knöpfe und Nahtwülste, das mochte Georg; seiner Fahne wich die Verkäuferin geschickt mit dem Kopf aus. Sie steckte die Mütze in eine Tüte, band eine Schnur um den Karton, bedankte sich, als Georg bezahlte; es reute ihn. Grußlos verließ er den Laden.
Draußen spannte er seinen Einkauf auf den Gepäckständer und radelte heimwärts. Er war nicht besonders zufrieden mit dem, was er erworben hatte. Die Straßenlampen strahlten zuckend. Er hatte das Gefühl, ein riesiges Trostpflaster heimzuschleppen. Als sich die Häuserreihen lichteten, griff ihn wieder der eisige Wind an. Das Fahrrad holperte auf und ab, je mehr er sich dem Stadtrand näherte. Immer öfter rutschte er vom Sattel, der viel zu klein für sein ausladendes Gesäß war.
In seinem abnehmenden Rausch konnte sich Georg plötzlich einbilden, er transportierte das in Packpapier gewickelte heilige Baby. Maria hatte die Geburt nicht überlebt, und er zog jetzt durch Grönland, wollte die Eisbären füttern mit dieser milchweißen Gestalt, die sich stumm und starr durchrütteln ließ. Es war Sommer am Nordpol. Vor den Iglus standen Blumenkästen, die Blüten glichen gelben Sternen.
»Servus, Georg!«, sagte ein Nachbar.
Georg kam wieder zu sich, war am Ziel.
Er wohnte in der Lenzkirchstraße. Rosengarten hieß der Ortsteil. Die rechte Ecke des Reihenhauses trug die Nummer 176 a. Da war er daheim.
Er öffnete das Gartentor.
Das Fahrrad stellte er in der Laube unter; die Geschenke versteckte er im Keller hinter dem Öltank.
Schon in der Waschküche roch Georg das Essen, die Tür zur Speisekammer stand einen Spalt offen: die Vorräte hatten nicht abgenommen. Schinkenhämmer hingen an Haken von der Decke wie verrußte Echsenpanzer. Das Sauerkrautfaß schwitzte leicht und glitzerte wie mit Reif beschlagen. Die Glasballons mit Beerenweinen waren mit alten Säcken umhüllt. Zucker und Mehl stapelten sich in einem tiefen Regal, das er einmal, ungeschickt und fluchend, gebastelt hatte. In einer Kiste sprossen Strünke aus den Augen der Kartoffeln, die runzligen Schalen waren noch von Erdklumpen verkrustet. Angesichts der ganzen Fülle schluckte Georg siegessicher seinen abgestandenen Speichel. Schon als Kind hatte er sich am liebsten hier unten aufgehalten, andächtig versunken in all die Pracht und Herrlichkeit, von der er naschte nach Lust, Laune und Bedarf. Er genoß alles, was eßbar war, am liebsten Fleisch, das so schön durch die Zahnritzen kroch.
Georg aß für sein Leben gern, bekam nie genug. Er hätte Kraft für die Liebe gehabt, im Überfluß. Daß Frauen zum Vernaschen seien, hielt er für die wahrste Weisheit übers andere Geschlecht.
Seit er denken konnte, fühlte er sich gemästet.
ln den Märchen gab es Schlaraffenländer und Lebkuchenhäuser, aber in seinen Träumen spürte er eine ungewisse Sehnsucht nach großen, harten Städten.
Seine Welt war ihm zuviel Einerlei.
Oft stellte er sich vor, fette schwarze Erde zu essen.
In den Märchen gab es Ströme von Milch, Flüsse aus Honig, aber er hätte sich am liebsten spindeldürr gewünscht, seit er seinen breiten Schatten bemerkt hatte.
Wenn er über sich nachdachte, fühlte er sich schlachtreif. Häufig verlor er den Geschmack an seinem Leben.
Sein Tagesablauf war in Mahlzeiten gegliedert.
Das Paradies stellte er sich als Küche vor, den Himmel als Speiselokal.
Nur wenn er satt war, hielt er es für erträglich in seiner Haut.
Ein Suppenkasper war er nie gewesen, immer
ein großer Fresser vor den Herrn
die seine Kräfte brauchten. Für sie
tötete er mit Feuer und Eisen
die Leichen der Tiere
verwertete das geschächtete Fleisch
zu Mammutportionen.
Und jene, die Hungersnöte beschwörten, Angst
vor schlechtern Zeiten, solche
vertrugen nur nichts.
Georg stampfte die Betonstufen zum Erdgeschoß hinauf. Im Flur roch es beißend nach durchweichter Wolle. Er quälte sich aus seinem abgeschabten Ledermantel, der so schwer wog, daß er beim Gehen hart an den Stiefelschäften wetzte. Die beiden Frauen hantierten wortlos in der Küche. Er schlüpfte aus den fleckigen Stiefeln und trat ein. Der Tisch war gedeckt. Dampf ließ die Deckel auf den Töpfen klirren; die Wucht der Hitze machte Georg benommen.
»Du kommst spät!«, sagte seine Tante.
»Scheißwetter«, sagte er.
»Setz dich!«, sagte seine Großmutter.
Er hockte sich auf seinen Stuhl und röchelte Schleim locker.
Die Großmutter nahm auf der Eckbank Platz. Sitzend glich sie einem verhutzelten Zwergenmädchen, einer lustigen Mißgeburt. Ihr Leben lang war sie noch bei keinem Frisör gewesen. Einmal in der Woche löste sie den Knoten am Hinterkopf und kämmte sich die schütteren Haare durch, seufzend und jammernd, als würde sie mit einer Stahlbürste gestriegelt. Da sie so gut wie nie außer Haus ging, zog sie sich nicht mehr richtig an, schlurfte in karierten Pantoffeln, von denen die Fransen abstanden, zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Ihre dünnen Beine steckten sommers wie winters in rauhen Wollstrümpfen, die schlotterten und rutschten, sich über den Knöcheln wellten wie Fußlappen. Unter ihren verblichenen Kleiderschürzen trug sie dicke Westen, dazu wogende, dunkle Röcke. Ihr Gesicht war wächsern. Wenn sie lächelte, schien es kurz vorm Zerspringen. Ihre Nase ragte wie ein blaurot schillernder Buckel zwischen den blassen Augen heraus; sie trank häufig und leidenschaftlich etwas Scharfes gegen das inwendige Frieren. Nur in Anwesenheit der Tante wagte sie nicht, zu oft mit den Zähnen zu klappern. Ihr Alter beachtete sie nicht. War im Fernseher von Greisen die Rede, schnaufte sie jedesmal ungemütlich. Sie hatte ein verträgliches Wesen, wenn man sie einfach gewähren ließ. Immer wieder erzählte sie die gleichen Geschichten aus ihrer Jugendzeit, während der sogar der Dreck und auch sonst jeder Mist gespart werden mußte, aber man hörte ihrer hechelnden Stimme schon...




