E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Felnhofer Schnittbild
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-903081-87-1
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-903081-87-1
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Silvester 2016. Fabjan sitzt mit seiner Leica am Fenster. Er blickt auf die vergangenen Monate zurück, in denen er mit einer Frau in ein Spiel geraten ist. Mit jedem Treffen wird er abhängiger von ihr, bis er am Ende überzeugt ist, nicht mehr ohne sie zu können. Frühling 1981. Ein vierzehnjähriges Mädchen wird in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem es versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Es vertraut sich einer Psychologin an. Aber ausgerechnet diese Person erweist sich als Falle für die junge Patientin. Sommer 2004. Erik ist zum ersten Mal, seit vor sieben Jahren seine Frau im Urlaub an der Adria verschwunden ist, auf dem Weg in eine Auszeit in den Kitzbühler Alpen. Doch dieser Aufenthalt wird zu einer Belastungsprobe. Herbst 2017. Eine Frau kann seit fünf Nächten nicht mehr schlafen. Sie wird verfolgt und sie weiß, dass es ihre früheren Fehltritte sind, die sie in diesem Herbst einholen.
Anna Felnhofer erzählt in ihrem Prosadebüt Schnittbild mit großem Sprachgefühl von Begegnungen zwischen jeweils zwei Menschen, deren augenscheinlichste Gemeinsamkeit der Kontakt zu einer Frau ist, die als Therapeutin mit den Protagonisten in Berührung kommt. Sie ist es gewöhnt, eine Rolle zu spielen, und sie ist eine Meisterin darin; die vier Episoden setzen dort an, wo die Rolle der Therapeutin brüchig wird und wo Sprünge in einer sorgfältig komponierten Fassade allmählich ihr wahres Gesicht freilegen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Mohn
Später wird ein fünfundzwanzigjähriger Mark David Chapman nach langen Verhandlungen mit sich selbst doch die vier Hohlspitzgeschosse abfeuern. Er wird sie, gewollt oder ungewollt, jedenfalls aber in einer Art und Weise in der Lunge und Unterschlüsselbeinarterie des anderen platzieren, dass es keinen Zweifel geben kann: John Lennon wird sterben. Und während die Welt aus ihrem klar geschnittenen Rahmen kippt und in ein rotblaues Flattern zerfällt, wird Chapman trotz der Kälte seine braune Lederjacke abstreifen, ein zerlesenes Buch aus der Tasche ziehen und sich damit auf den Gehsteig vor das Dakota setzen. Und dort wird er so sitzen bleiben, mit dem Rücken an der körnigen Wand, die bekannte Passage wieder und wieder lesend, dabei kurz aufblickend, gleichmütig, geradezu gelangweilt, ganz so, als würde ihn diese Variante der Wirklichkeit nichts angehen. Bis es still wird. In seinen Ohren rauscht es, und vor ihm faltet sich ein amüsantes Spiegelspiel auf, dann rutscht etwas auseinander, und die Silhouetten der Beamten stürzen so auf ihn zu, als wollten sie ihn einfangen, dabei rührt er sich nicht. Er hebt nur die Hände bis knapp über den Scheitel. Er macht sie nach, diese universelle Geste der Unterwerfung, wie er sie zuvor ungezählte Male im Fernsehen gesehen hat. Er ist jetzt ganz ruhig. Es läuft alles nach Plan. Er sieht sie schreien, aber er hört sie nicht. Man zerrt ihn hoch, schleift ihn zum Wagen und wirft ihn auf die Rückbank, auch das hat er so mehrere Male in Gedanken durchgespielt. Er weiß, irgendwann ist das alles schon einmal passiert, und er ahmt sie jetzt nur nach, die Erfahrung. Was er aber nicht hatte vorhersehen können, das ist diese Frau. Man holt sie, weil man es ihr versprochen hat. Man stellt sie vor ihn hin. Nur die Scheibe trennt sie voneinander. Sie muss sich zur Seite neigen, das Glas spiegelt und wirft das nächtliche Lichtermeer zurück, eine Kapsel aus Reflexen, klebrig wie Limonade, aber sie findet den Spalt, blickt hindurch, fixiert ihn. Und während sie so dasteht, diese pantherhafte Gestalt, und ihn ansieht, als wäre er das Tier, als sie also einander so gegenübergestellt sind, auf immer verbunden durch den Blick des Betrachters zum Betrachteten, begreift Chapman. Er begreift es in diesem Augenblick. So könnte es gewesen sein. Aber noch ist es nicht so weit: Noch fällt nachmittäglicher Schnee auf den Central Park und legt sich, als wolle er sie für immer bedecken, über das Harlem Meer und jene Stelle, an der künftig die Strawberry Fields wachsen werden; noch schwillt der Verkehr auf die Ausmaße der abendlichen Stoßzeit an; und noch sind Yoko Ono und Lennon ein paar Straßen weiter im beheizten Record Plant Studio und nehmen ihre gemeinsame Platte auf, von der sie nicht wissen, dass es die letzte sein wird. Und knapp sechs Längengrade entfernt, im ebenso winterlichen Wien, ist der Tag, als könne er es nicht mehr erwarten, schon in ein neues Datum hinübergesprungen. Da ist es jetzt kurz nach null Uhr, am neunten Dezember neunzehnhundertachtzig. Und in einem mintgrünen Raum sitzt ein Kind und will, ohne es zu können, seine Beine über die Bettkante heben und fortgehen. „Ich möchte“, sagt jemand zu dem Kind, „dass du mir ganz genau erzählst, woran du dich erinnern kannst.“ Das Kind hebt den Kopf und betrachtet die Quelle dieser Worte: eine schmale, blonde Frau, die links vom Kind, halb an das hohe Bett gelehnt, auf einem Stuhl sitzt. Die Beine in roséfarbenen Jeans sind überkreuz, die Hände ruhen im Schoß und die Finger ragen auftragslos in die Luft. Zuvor hatten die Finger das Kind kurz an der Schulter berührt, wie zur Begrüßung oder Beruhigung, aber dann hatten sie sich zurückgezogen, und seither hält die blonde Frau sie so zwischen ihren Schenkeln. Es ist möglich, denkt das Kind, dass auch die Frau nicht weiß, warum sie hier sind. Man hatte sie dem Kind vorgesetzt und war gegangen. Und so hatten sie es seitdem in dieser unausweichlichen Zweisamkeit gehalten, hatten sich in die Gegebenheiten gefügt, wie sich ein Gefangener in das räumlich-zeitliche Gewebe seiner Haft fügt. Hin und wieder stellt die Frau wie zur Probe eine Frage. „Erinnerst du dich an etwas?“, sagt sie. Oder: „War das ein Zufall? Du. An diesem Ort. Genau zu dieser Zeit.“ Oder: „Bist du sicher, dass du es nicht geplant hast?“ „Dass dir gerade nur so viel passiert ist und nicht mehr.“ Aber das Kind ist mit seinen Beinen beschäftigt, die nicht folgen wollen. In tadelloser Parallelität liegen sie unter der Decke, die Konturen zeichnen sich in der ihm bekannten Form ab, alles scheint in Ordnung und richtig so. Als aber das Kind die Decke zurückschlägt, wirft sich der Raum in eine rasende Umdrehung und es geht eine kauende Übelkeit durch seinen Körper. Das Kind beugt sich nach vorn und glaubt, sich auf diesen Anblick übergeben zu müssen. Da drückt eine Hand das Kind nach hinten, während eine andere die Decke eilig über die Stelle breitet. Das Kind schließt die Augen. Es ist gefangen, das ist klar. Und dabei hatte die Frau daraus von Anfang an kein Hehl gemacht. „Da kommst du nicht raus“, hatte sie gesagt. Und, nach einer Pause, weil das Kind abwechselnd die Frau und die Tür angestarrt hatte, hatte sie hinzugefügt: „Die ist versperrt.“ Eine andere Frage: „Weißt du, wo du bist?“ Das Kind sieht sich um. Da drüben lehnt sich die Nacht risslos gegen die hohen, mehrfach gegliederten Scheiben, und darin spiegeln sich das Kind und die Frau. Das Kind kneift die Augen. Vor ihm verschwimmen die Dinge, und da hilft es auch nicht, dass es seine Hände hebt und durch die gespreizten Finger blickt, ein Trick für Sehschwache, der irgendwie mit Lichtbrechung zu tun hat. Es nützt nichts, die Schränke, die Regale, all diese vielteiligen Vorrichtungen, von denen jede ihren Platz hat und ihren Zweck, wollen nicht stillhalten. „Weißt du, wo wir sind?“, fragt die Frau. Flatternd stellen sich einzelne Bilder ein: der Götterspeisenglanz über grünen Fliesen, das Pulsieren einer fernen, vierköpfigen Lampe, das Schaukeln der Schatten in den Ecken. „Weißt du, in welchem Spital?“ Rastlos geht der Blick Runde um Runde durch den Raum. Wie ein Pferd an der Longe, denkt das Kind, ein Pferd, das unaufhörlich um einen Mittelpunkt kreist. Ob es sich je Gedanken darüber macht, wie wohl dieser Mittelpunkt entstanden ist, zu dem sich die Menge all seiner Erfahrungspunkte in einem konstanten Abstand hält? Und ob es sich fragt, warum der Mittelpunkt sich gerade dort befindet, an genau dieser Stelle und nicht an einer anderen. Und schließlich: Warum da in der Mitte ein Mensch steht! „Weißt du, welcher Tag heute ist?“ Dem Kind ist kalt, es möchte die Decke hochziehen, aber da wird es abgelenkt: Aus seinem Arm ragt ein Schlauch heraus. In der Mulde seiner Beuge, dort, wo der Eigengeruch des Menschen am stärksten ist, sitzt er, und ringsum hat sich ein blauvioletter Kranz gebildet, mit härchendünnen Ästen, die sich, je weiter sie vorgreifen, desto mehr im wärmeren Fleischrosa verlieren. Das Kind betastet den Schlauch und verfolgt seinen Lauf bis hin zur Glasflasche, die kopfüber hängt und eine rätselhafte Lösung ausspuckt; einen Tropfen pro Sekunde, plop plop plop. Das Kind zupft mit spitzen Fingern an der Plastikvorrichtung und spürt den Zug in den geschichteten Tiefen des Fleisches, dazu das Kribbeln und schließlich auch den hellen, scharfen Schmerz, der sich kreisförmig durch seinen Arm fortsetzt. Da ist wieder, wie aus dem Zusammenhang gerissen, der Gedanke an die Longe und an das Pferd, das immer weiter von der Leine gelassen wird, für jede Umkreisung ein zusätzlicher Zentimeter, sodass es zeitweilig sogar daran glauben will, dass es irgendwann dieser Mitte und dem Menschen entkommen wird. Aber so ganz begreift es sie naturgemäß nicht, diese gottgleiche Erweiterung seines Handlungsspielraums. Wie es wohl sein muss, denkt das Kind, während es weiter am Venflon zieht, wie es sich wohl anfühlt, auf ein anderes Wesen derart angewiesen zu sein? Dann greift das Kind das Plastikstück mit Daumen und Zeigefinger. Ein gezielter Schlag in die Mitte, da, wo der Mensch mit der Leine steht, und die Ader würde wohl zerplatzen. Diese lächerliche Hinfälligkeit des Fleisches. Und da erinnert es sich wieder: Es hatte hingesehen, obwohl man ihm einen Ausweg geboten hatte. Da drüben, hatte die Frau gesagt, an der Wand, sieh dir dieses Bild an, zähl sie, die Mohnblumenblüten und die vom Wind fortgetragenen Petalen, ja, so heißen die, und ich verspreche dir, du wirst noch nicht durch sein, da wird der Pikser und alles andere schon hinter dir liegen; aber das Kind hatte sich nur auf den Anblick des Stechens...