Felixberger / Nassehi | Kursbuch 204 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 204, 200 Seiten

Reihe: Kursbuch

Felixberger / Nassehi Kursbuch 204

Essen fassen!

E-Book, Deutsch, Band 204, 200 Seiten

Reihe: Kursbuch

ISBN: 978-3-96196-170-2
Verlag: Kursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Missionarische Vegetarier, die jedes Schnitzel auf den Prüfstand stellen, militante Veganer, die auch den familiärsten Geburtstagsbrunch zur Zerreißprobe machen, steinzeitliche Paleo-Verfechter, die sich in die vorindustrielle Zeit zurückwünschen, Hardcore-Intervall-Fastende, die der Körpermaschine den Treibstoff verweigern, gerade um sie zu Höchstleistungen anzutreiben: Essen ist schon lange keine körperliche Bedürfnisbefriedigung mehr, sondern gleicht – zu Weihnachts- und Religionsfeierlichkeiten aller Art umso mehr – Dogmen der Kategorie theologischer Unumstößlichkeit – Heilsversprechen inklusive. Kursbuch 204 befragt Überzeugungsesser und Hungerkünstler ohne dabei wissenschaftlichen Tiefgang zu fasten. Kraftfutter für alle, die sich essayistische Omega3-Fettsäuren und hintergründige Ballaststoffe zur Einordnung gegenwärtiger Ernährungsmythen wünschen: Wie hängen Nahrungszufuhr und Psyche zusammen? Worin liegt der Reiz des In-sich-Aufnehmens? Was haben Zivilisierung und Zubereitungsformen miteinander zu tun? Warum muss Essen plötzlich Instagram-tauglich sein – lieber noch als magenfreundlich? Und warum nur steht das profane Thema Essen derart im Fokus? Essen fassen!
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Corinna Schirmer
Vom Fleisch fallen
Das Ende einer Essgewohnheit Im Oktober 2020 beriet das EU-Parlament über einen Gesetzesentwurf, der die Benennung von vegetabilischen Produkten regeln sollte. Ziel des Entwurfs sollte sein, die sprachliche Nähe zwischen pflanzlichen und fleischlichen Produkten zu regulieren beziehungsweise sie klar voneinander abzugrenzen. Mit anderen Worten: Veggie-Burger, vegetarische Wurst und Co. sollten künftig andere Namen bekommen. Vorbild für diesen Gesetzesentwurf war eine EU-Verordnung, die die Benennung von Milchprodukten beziehungsweise von Produkten, deren Namensgebung an originäre Tiermilchprodukte erinnern könnte, mit folgender Regelung unterbindet: »Der Ausdruck ›Milch‹ ist ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten.« 1 Das EU-Parlament entschied – entgegen der Entscheidung aus dem Jahre 2013 zum Thema »Milch« – bei der Benennung von sogenannten Fleischersatzprodukten jedoch dahin gehend, dass eine Regulierung seitens der EU nicht vorzunehmen sei: »Die Abgeordneten lehnten alle Vorschläge ab, sich auf Fleisch beziehende Bezeichnungen für fleischhaltige Produkte zu reservieren. Für Produkte auf pflanzlicher Basis und die Namen, die sie derzeit beim Verkauf verwenden, wird sich nichts ändern.« 2 Die Entscheidung mutet wie ein Erfolg für derzeitige Vermarktungsstrategien fleischloser Steaks, Frikadellen und diverser Äquivalente an. Und dient gleichzeitig zur Dokumentation eines Höhepunkts zwangloser vegetabilischer Ernährung: Seit einigen Jahren erobern Fleischersatzprodukte die Supermarktregale. Sie gehören – teils als Lifestyle-Produkte – zu einer (vermeintlich) umweltbewussten, ethisch-moralisch geprägten Ernährungsweise, die im Zuge fortschreitender Globalisierung, Diskussionen um Klimawandel und Erderwärmung sowie prekärer Tierhaltungsbedingungen zunehmend an Unterstützung gewinnt. Befindet sich das Fleisch als Nahrungsmittel also in der Krise? Vegetabilische Ernährung – eine Erfindung des 21. Jahrhunderts? Im Zuge dieser aktuell omnipräsent erscheinenden Diskussion und der insbesondere im Lebensmittelhandel, in Restaurantküchen und heimischen Kühlschränken stattfindenden Aushandlung um fleischliche oder fleischlose Kost könnte der Eindruck entstehen, dass eine vegetabilische Ernährung eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sei. Gemeint ist damit eine fleischlose Ernährungsweise, die auf dem bewussten Fleischverzicht beruht und nicht auf möglichen Versorgungsengpässen mit tierischen Produkten. Diese Form der Enthaltsamkeit ist schon wesentlich älter, als heutige Diskurse vermuten lassen: So ist schon in der griechischen Antike karnivore Abstinenz ein Thema, das den Ernährungsalltag insbesondere gut situierter Personen mitbestimmt. Auf dem europäischen Festland ist der bewusste Fleischverzicht schon seit mehreren Jahrhunderten vor allem Teil verschiedener Bewegungen, die sich mit einem gesunden Lebensstil auseinandersetzen und diesen auch mittels spezifischer Ernährungsweisen in ihrem Alltag umzusetzen versuchen. En vogue ist eine pflanzliche Ernährung dabei insbesondere in diversen Religionen, denn Fastenvorschriften beziehen oftmals den Fleischkonsum mit ein. Trotz teils raffinierter Umgehungsversuche dieser Speisevorschriften – sind beispielsweise Maultaschen doch ein bis heute beliebtes Gericht der schwäbischen Küche, das seinen fleischlichen Inhalt optisch gut verbirgt und nicht umsonst den Namen »Herrgottsbscheißerle« trägt – bestimm(t)en sie letzten Endes, ob und wann welches Fleisch gegessen oder nicht konsumiert werden darf. Daneben entwickelten sich auch nicht religiöse Fleischverzichtsbewegungen, die insbesondere im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichten und deren Akteure sich sogar in eigens dafür gegründeten Verbänden zusammenschlossen. Schlussendlich aber ist der bewusste Fleischverzicht ein Privileg – er beruht auf dem Luxus, dass Fleisch, wenn es auf dem Speiseplan gewollt wäre, als Teil der Nahrung zur Verfügung stünde, und es dennoch nicht in die Ernährung mit eingebunden ist. Dabei ist Fleisch ein Bestandteil der Ernährung, der den Menschen schon seit seiner Ur- und Frühgeschichte begleitet. Fleisch in der menschlichen Ernährung Als Jäger und Sammler hatte man von der Verfügbarkeit verschiedenster Fleischstücke, zumindest aus alimentärer Sicht, nur träumen können. Fleisch war ein rares Gut, dessen Verzehr erst mit ausgefeilten Jagdtechniken zunehmen konnte. Zunächst stand es in der Regel roh auf dem Speiseplan, fehlten doch geeignete Zubereitungsmöglichkeiten wie Feuerstellen. Und selbst heutige Freunde der Garstufen rare oder gar raw müssen wohl zugeben, dass die Möglichkeiten der Zubereitung von Speisen durch Hitze den Essenskosmos durchaus erweitern. Erst die Nutzbarmachung des Feuers im Verlauf der älteren Altsteinzeit ermöglichte es, Fleisch gegart oder gebraten verspeisen zu können. Ein evolutionärer Kniff, der das geschmackliche Repertoire erweiterte und überdies dem Verdauungstrakt zugutekam. Leichter verdaulich und durch Erhitzung von Parasiten befreit, trug das am Feuer zubereitete Fleisch auch zur sozialen Entwicklung des Menschen bei: Die gemeinsame Mahlzeit war erfunden. Fleisch wurde nicht mehr to go verzehrt, sondern zunächst zur Feuerstelle geschafft, um es dort erhitzen und gemeinsam verspeisen zu können. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die Jagd eine komplexe Aufgabe darstellte, die – anders als bei den meisten heutigen Supermarktstreifzügen – neben körperlicher Höchstleistung auch das ein oder andere Opfer erforderte. Das zog wiederum geschlechterspezifische Herausforderungen nach sich, mit denen es umzugehen galt: etwa die körperlich (meist) unterschiedlichen Konstitutionen von Mann und Frau oder die Betreuung der Kinder inklusive Säuglingspflege. Ausgehend von dieser neuen Entwicklung differenzierten sich Geschlechterrollen aus: Frauen versorgten die Kinder in der Nähe der Feuerstelle, Männer gingen auf die Jagd. Eine Rollenverteilung, die sich in den meisten Kulturen bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat und deren Aufweichung nach wie vor nur langsam im Prozess begriffen ist. Zumindest zieht sich dieser Wandel wesentlich länger hin als die Sesshaftwerdung der Menschen. Der schleichende Abschied vom Wildbeuterdasein stellte eine gravierende Veränderung des (Zusammen-)Lebens dar und läutete die neolithische Revolution ein. Und von einigen Nomaden, Aussteigern und Weltreisenden abgesehen, kann man behaupten, dass dieser Prozess nahezu menschheitsumfassend ablief. In Gemeinschaften an einem Ort zusammenzuwohnen ist auch derzeit noch die bevorzugte Lebensweise. Die Jäger und Sammler entdeckten im Zuge des Neolithikums zudem peu à peu Pflanzenanbau und Viehhaltung – meist Rinder, Ziegen, Schweine und Schafe – für sich. War es doch weitaus angenehmer, für das saftige und zudem energiereiche Stück Fleisch nicht erst tagelang, von Familie und Freunden getrennt, durch die Gegend ziehen und Ausblick nach geeignetem Jagdwild halten zu müssen. Irgendwann reichte es nicht mehr, das Vieh zu halten, zu schlachten und dann in aller Eile verspeisen zu müssen, um dem Verderb des Fleisches durch Konsum zuvorzukommen. Ob es nun der Ehrgeiz war, der den Erfindergeist vorantrieb, oder ob die Vorgängertechniken der heutigen Konservierungsmethoden zufällige Entwicklungen waren, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Belegbar ist jedoch, dass ab etwa 1000 v. Chr. eine neue Nutzungsart des tierischen Fleisches hinzukam: das Räuchern. Die Vorratshaltung wurde im Laufe der Zeit nicht nur in verschiedene Räuchermethoden ausdifferenziert, sondern noch um weitere Konservierungstechniken ergänzt. Lebensmittel, darunter auch Fleisch, werden bis heute eingesalzen, getrocknet oder gepökelt. Bekommt man als Verbraucher diese technisch-chemischen Verfahren meist gar nicht mehr mit, sondern greift im Supermarkt zu Corned Beef, Salami und Co., entdecken seit einigen Jahren immer mehr Nostalgiker vor allem das Einkochen am heimischen Herd wieder für sich. Die Firma Weck erlebt ein Revival, und manch Köchin oder Koch wird bei Recherchen zum Thema klar, dass »Einwecken« in Wirklichkeit ein Eponym ist und »Einkochen« der Begriff, der den Vorgang vom Wortsinn her beschreibt. Dieser neue Umgang mit den vorhandenen Lebensmitteln eröffnete ganz neue Möglichkeiten der Ernährung und dehnte auch die zeitlichen Bedingungen des Verzehrs des gehaltenen Schlachtviehs aus. Mit den verschiedenen Kulturen entwickelten sich dann während der Eisenzeit auch verschiedenste Speisepläne, der Zugriff auf Lebensmittel veränderte sich ebenso wie die genutzten Produkte selbst.3 Durch Kontakt zwischen den Kulturen wurden verschiedene Prozesse angestoßen, auch im Bereich der Ernährung. Entwicklungen, die sich bis heute im Rahmen von Globalisierung und Migration beobachten lassen: So führten zum Beispiel die Handelsbeziehungen und kolonialen Bemühungen Großbritanniens im 19. Jahrhundert dazu, dass indische Gerichte, wie das Curry, den Weg auf die Britischen Inseln fanden. Von dort gelangten sie beispielsweise wiederum auf westfälische Speiseteller, wie sich unter anderem in Henriette Davidis’ Praktischem Kochbuch 4 nachvollziehen lässt: Curry findet sich in der Ausgabe von 1887, herausgegeben von Luise Rosendorf, die das Kochbuch nach dem Tod von Henriette Davidis als erste weitere Autorin weiterführte.5 In die...


PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: "Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?"

ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft", in der kursbuch.edition erschien zuletzt "Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests".


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