Feimer | Wir könnten Dschungel sein | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Feimer Wir könnten Dschungel sein


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99200-365-5
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-99200-365-5
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Blätter, die an Ella haften bleiben, sie festhalten, ihr Atem auf ihrer Haut. Der nahe Dschungel wird bedrohlicher, je länger sich Ella in dem kleinen kolumbianischen Dorf aufhält. Die Flucht vor ihrer Vergangenheit hat sie hierhergebracht. Doch jene Zeit lässt sich nicht vergessen. Nicht ihre Kindheit in Wien ohne Vater und mit einer psychisch kranken Mutter, nicht die Jugend bei ihrer Tante und dessen Mann in Paris, der ihre emotionale Abhängigkeit ausgenutzt hatte. Das undurchdringliche Dickicht, das sie umgibt, ruft diese Erinnerungen hervor. Und während die politischen Unruhen im Land zunehmen, scheint es Ella, als würde sie langsam mit dem Dschungel verwachsen. In dessen Überwucherung durchlebt Ella ein Bewegen in einer Gesellschaft, die nur noch wenig hat, an dem man sich festhalten kann.

Isabella Feimer, 1976 geboren, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und arbeitet seit 1999 als freie Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Sie verfasst Romane, Lyrik, Reiseprosa und Essays. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. war sie für den renommierten Bachmann-Preis nominiert. Zu ihren Inspirationsquellen zählen ihre Reisen und die Beschäftigung mit Bildender Kunst. 2022 wurde ihr Roman 'Frieda' für die Veranstaltungsförderung des Büchereiverband Österreich ausgewählt. Zuletzt erschienen: Cadavre exquis (Erzählung, Literaturedition NÖ 2021) und Langeweile (Essay, K&S 2022). Zuletzt bei Braumüller erschienen: 'Trophäen' (2015), 'stella maris' (2017), 'Frieda' (2022).

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An der nächstgelegenen Schwelle zum Dschungel, bei Tonis Haus, führt ein schmaler Weg ins Dickicht, sein Pick-up steht in der Einfahrt, die Eingangstür ist verschlossen. Im Inneren des Hauses ist alles dunkel, niemand ist zu sehen. Es beruhigt mich, Toni zurückgekehrt aus der Stadt zu wissen, kann sein, auch ihn hat es in la selva gezogen. Kurz nachdem ich in Minca angekommen war, zeigte mir Toni den Dschungel, unser Kennenlernen war diese erste Wanderung gewesen, eine Annäherung über jenen Ort, dem wir unterschiedlich verbunden waren, er von Geburt an, ich in der Aneignung des Dickichts, und die Sehnsucht danach hatte mich in dieses Land gebracht. Toni zeigte mir ein Kolibrinest, ich hätte es übersehen, das kaum handflächengroße Gebilde aus Spinnweben, Pflanzenwolle, Flechten und Moos, das auf einem Ast im Unterholz hing, verlassen war es, ausgeflogen, sagte Toni und erzählte mir, dass das Weibchen, ist es auf Futtersuche, wie ein herunterfallendes Blatt aus dem Geflecht gleitet, unentdeckt will es bleiben, täuschen will es mögliche Angreifer und sich und seine Jungen in Sicherheit wissen, täuschen will es, flüstere ich, unentdeckt will es bleiben, in Sicherheit sein. Bei meiner Ankunft hatte mich Alejandra dazu eingeteilt, mich um die Zimmer und den Erhalt der Sauberkeit des Gästehauses zu kümmern. Toni wäre es egal gewesen, ob ich mitgeholfen hätte oder nicht, sofort hatte sich zwischen uns eine Verbindung geknüpft und das Ritual des Begegnens eingestellt, das wir jeden Tag pflegten. Morgens, die Veranda, das Wachzittern mit den Kolibris. Von Santiago sah ich in den ersten Wochen wenig, er hatte zu tun, Nightmonkey ging seinen Geschäften in Santa Marta und Taganga nach, teilte Pillen aus, fuhr auf Tauchgänge mit Touristen, zeigte ihnen das Nachtleben der Stadt, teilte auch ihnen Pillen aus. Eine Kurznachricht genügte, und wir verabredeten uns zu einem Treffen am Fluss oder an einem der pozos. Dort badeten wir, tranken, rauchten Joints. Danach trennten sich unsere Wege wieder. Alejandra hatte Santiago verboten, im Gästehaus zu übernachten, sie sagte und deutete auf mich, sie kann bleiben, weil ich María einen Gefallen schuldig bin, nicht deinetwegen, was sollen sich die Gäste denken, das hier ist kein Unterschlupf. Einmal vor Einbruch der Dämmerung waren Santiago und ich beim Fluss, wir hörten dem Plätschern des Flusslaufs zu, der Rauch des Joints hielt die Moskitos fern. Sticht dich einer, sagte ­Santiago, tropfst du Limette darauf, und wenn du dich verbrennst, sei es bloß, wenn du Kaffee ­verschüttest, reibst du Limettensaft darüber, und hilft die ­Limette nicht, musst du Tequila ­trinken, reichlich davon. Ich musste lachen, lachte viel in seiner ­Gesellschaft, fühlte mich in dieser Unbekümmertheit geborgen, mochte, dass allen ­Geschichten Leichtigkeit inne war. Leicht fühlte sich der Kuss an, den er mir gab, nachdem mein Lachen verstummt war, und er über­raschte mich. Santiago hatte sich zu mir gebeugt, hatte mein Kinn zu sich gezogen, und kurz trafen unsere Lippen aufeinander, ich wich zurück, wusste nicht, ob ich wollte, dass wir einander näherkamen, als wir es waren. Santiago sah mich an, lo siento, sagte er und senkte den Blick, es gibt nichts, sagte ich, was dir leidtun muss. Ich sah zum Wasser, versuchte die Steine am Grund zu sehen, ihre Formen auszumachen, ihre scharfen Kanten, ich folgte einem Blatt flussabwärts und erspähte einen Zweig, der zwischen Steinen stecken geblieben war und nun aufrecht, ein kleines Blatt als Fähnchen, im Wasser stand. Eine Hälfte des Zweiges an der Oberfläche, die andere war im Begriff, sich zu verändern, sich Schicht für Schicht aufzulösen, immer wieder kam eine neue Welle, die nach dem Blatt langte. Ich sagte, ohne Santiago anzusehen, dass Wasser ein Gedächtnis habe, man habe herausgefunden, dass Wasser, wenn es unterwegs ist, Informationen sammle und sie mit sich nehme, siehst du den Zweig dort?, fragte ich und zeigte auf ihn, er wird Teil der Erinnerung des Flusses werden, und der Fluss wiederum wird sich an den Zweig erinnern und den Zweig als Erfahrung weitergeben, an den nächsten Widerstand, auf den er trifft. Ich stand auf, sagte, es sei spät geworden. Wir gingen den in Abschnitten matschigen Weg Richtung Hauptstraße nebeneinander. Ich spürte eine Irritation zwischen uns, etwas aus den Fugen Geratenes, greifbar nahm es den Raum zwischen unseren Körpern in Besitz. Hätte man dieses Etwas greifen können, es hätte sich ebenso matschig wie der Boden angefühlt, der manchen meiner Schritte schluckte. Dass ich mich nicht einlassen könne, dachte ich, dass das, was uns verbindet, ohnehin stark genug wäre, dass ich Santiago meine Bedürfnisse nicht antun könne, nichts von meiner Dunkelheit sollte ihn belasten, und instinktiv begann ich, schneller zu gehen. ¡Espera!, sagte Santiago bestimmt, und ich blieb stehen. Er griff nach meiner Hand, leicht und flüchten könnend fühlte sie sich in seiner an, no puedes lastimarme, como si no pudiera lastimarte, sagte er, ich lächelte, entonces, sagte ich und wiederholte in meiner Sprache, was Santiago gesagt hatte, du kannst mir nicht wehtun, so wie ich dir nicht wehtun kann, ein Versprechen war es, wusste ich, dass wir uns in diesem Moment gegeben hatten. Als wir zur Hauptstraße kamen, war es bereits dunkel, das Licht aus den Straßenlaternen matt und flackernd, niemand war zu sehen, so als hätte man sie alle weggezaubert, nur für uns, nur, damit wir weiterhin in unserem Versprechen verweilen konnten, und das taten wir, leer und in Stille, bis wir das Gästehaus erreichten, bis zum Torbogen, rosenberankt, weiter ging Santiago nie. Nos vemos, sagte Santiago, machte sich mit diesen Worten und einem Schritt rückwärts für einen Abschied bereit. Zuerst nickte ich, ich wusste, wir würden uns bald wiedersehen, wenn nicht morgen, dann tags darauf, wenn dann nicht, spätestens in ein paar Tagen. Wieder nahm er einen Schritt zurück, auch ich ging rückwärts, ohne ihn aus meinem Blick zu lassen, lehnte mich an den Torbogen, konnte die Rosen riechen und die Dornen in ihrer Zweig­verflechtung spüren, dann hob ich meine Hand und hielt sie ihm offen. Er kam zu mir, ergriff meine Hand und zog sich an mich heran, ich schloss die Augen, Santiago zitterte, und in seinem Kuss weitete ich mich. Kaum bin ich ein paar Schritte im Dickicht, schließt es mich ein und hält mich fest, sodass sich ihm jeder weitere Schritt entgegenstemmen möchte, Farne, so groß wie ich, manche höher, streifen an meiner Haut, Mücken umschwirren mich, von irgendwo höre ich immer einen Vogelschrei. Dem mit Dornen übersäten Stamm des Sandbüchsenbaums versuche ich auszuweichen, giftig sei die ceiba amarilla, hat Toni mir bei einem unserer Streifzüge erzählt, als ich den Stamm berühren wollte, sein weißer, milchiger Saft sei toxisch, Pfeilgift sei er den Indigenen gewesen, und auch als Droge sei der getrocknete Saft wegen seiner halluzinogenen Wirkung verwendet worden, und siehst du dir die Dornen an der Borke an, weißt du, jedes Tier wird den Baum in Ruhe lassen, jedes Tier meidet instinktiv die Orte, wo es sich verletzen kann. Alles im Dschungel ist darauf aus, sich zu schützen, durch sichtbare oder unsichtbare Abwehr, wie es Dornen, Stacheln oder Gift sind, durch Tarnung und auch Täuschung und durch Farben, deren Intensität das Gegenüber zurückschrecken lassen, tagsüber. Nachts will la selva Beute fangen, duftet und strahlt aus sich heraus. Es existiert eine fleischfressende Pflanze, die Insekten mit süßem Nektar lockt, und als wäre das nicht genug Anziehung, lockt sie die Insekten zusätzlich mit Licht, legt biolumineszente Fährten aus, eine Art Landebahn, der zu folgen ist, und blind folgen sie. Nektar waren Santiagos Küsse und Berührungen, und ich folgte ihnen, Fäden aus grellem blauem Licht fingen mich ein, und ich schmiegte mich in sie. Lange gab es zwischen ihm und mir nicht mehr als diese Küsse und Berührungen, die wir miteinander vor dem Abschied in die Nacht teilten. Auch wenn ich wollte, ich konnte die Zurückhaltung nicht übertreten, die in mir und ein neues Gefühl gewesen war und die sich an Santiagos Schüchternheit maß. Auch Santiago wollte mehr als die Küsse und Berührungen, ich spürte seinen Wunsch, mit mir auf mein Zimmer zu gehen, fragte jedoch nie, was ihn daran hinderte, es war kein Spiel zwischen uns, das wusste ich, kein absichtliches Hinauszögern einer Unausweichlichkeit. Eines Nachts, wärmer und luftfeuchter als sonst war es gewesen, und das tiefe Schwarz des Himmels umschloss das Gäste­haus, klopfte Santiago, lange nachdem wir uns verabschiedet hatten, an mein Fenster, und ich ließ ihn ein. Schnell ging es, dass wir nackt waren, im Bett lagen, unsere Körper berührten wie nie zuvor und dass wir miteinander schliefen. Überstürzt gaben wir uns dem Verlangen hin, das sich über Wochen aufgestaut hatte. Wir liebten einander nicht, wir suchten im Geben und Nehmen des Akts nur die eigene Befriedigung, den leeren Raum, nachdem man gekommen war. Im abgefallenen Laub, das dem Dschungel Nahrung sein wird,...


Isabella Feimer, 1976 geboren, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und arbeitet seit 1999 als freie Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Sie verfasst Romane, Lyrik, Reiseprosa und Essays. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. war sie für den renommierten Bachmann-Preis nominiert. Zu ihren Inspirationsquellen zählen ihre Reisen und die Beschäftigung mit Bildender Kunst. 2022 wurde ihr Roman "Frieda" für die Veranstaltungsförderung des Büchereiverband Österreich ausgewählt. Zuletzt erschienen: Cadavre exquis (Erzählung, Literaturedition NÖ 2021) und Langeweile (Essay, K&S 2022).

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