E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 188 mm
Febos Girlhood
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-910372-16-0
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ein feministisches Zeugnis des Überlebens.« The New York Times Book Review
E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 188 mm
ISBN: 978-3-910372-16-0
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Melissa Febos wurde 1980 in Falmouth, Massachusetts geboren. Heute lebt sie mit ihrer Frau in Iowa und unterrichtet an der dortigen Universität. Für »Girlhood« wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet.
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TOTEISKESSEL
»Worauf stehst du?«, fragten die Männer. »Spucken«, sagte ich. Es fühlte sich wie ein Schimpfwort an, und ich musste mir regelrecht abgewöhnen, dabei zusammenzuzucken, wegzusehen oder beschwichtigend zu lächeln, nachdem ich es ausgesprochen hatte. In den schummrigen Räumen des Dungeon erzog ich mir den Reflex ab, mich zu entschuldigen. Ich lernte, nicht wegzusehen. Ich lernte, Grausamkeit zu genießen.
Keine echte Grausamkeit natürlich. Meine Kunden zahlten 75 Dollar pro Stunde, um ihre eigene Entmachtung zu inszenieren. Die Sexindustrie ist eine Dienstleistungsbranche, und ich lieferte Demütigung nach Wunsch. Das Wichtigste war eine überzeugende Inszenierung. Es war und ist unvorstellbar für mich, jemandem ins Gesicht zu spucken, der das nicht will. Aber einem Mann, der dafür bezahlt?
Sie lagen vor mir auf den Knien. Sie krochen nackt über glänzendes Parkett. Sie bettelten darum, mich berühren zu dürfen, flehten zu meinen Füßen um Vergebung. Aber ich blieb hart. Ich beugte mich über ihre schmerzverzerrten Gesichter und sammelte Speichel im Mund. Spuckte. Wie sie zusammenzuckten, die Augen zukniffen. Der Schock lief mir in Wellen durch den ganzen Körper, setzte sich schließlich und wuchs zu etwas anderem an.
»Hasst du Männer?«, wurde ich manchmal gefragt.
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete ich.
»Du lässt dabei ja sicher eine Menge Wut raus«, sagten andere.
»Ich war in meinen Sessions noch nie wütend«, antwortete ich. Oft erklärte ich, das nützlichste Werkzeug einer Domina sei Empathie. Was ich neugierigen Fremden nicht eingestand, ja nicht einmal mir selbst: Empathie und Wut schließen einander nicht aus.
Wenn es um unsere eigenen Motive geht, sind wir alle unzuverlässige Erzähler. Und dass wir etwas empfinden, beweist dessen Existenz ebenso wenig, wie es sie widerlegt. Bewusste Gefühle sind kein akkurates Abbild des Eindrucks, den bestimmte Erfahrungen auf unsere Psyche gemacht haben; sie sind ein Chaos aus Emotionen zweiten, dritten oder vierten Grades, oft die Symptome jener Gefühle in uns, die wir nicht zulassen. Sie sind nicht die weggesperrte Bertha Mason aus Jane Eyre, sondern ihre Schreie, die durch die Bodendielen dringen, das Feuer, das sie legt, während wir schlafen, und das feuchte Nachthemd, um es zu löschen.
Das Spucken verschafft mir keine sexuelle Befriedigung, versicherte ich den Leuten. Nur eine psychologische. Heute finde ich diese Gegenüberstellung bestenfalls fadenscheinig. Wie kann das Vergnügen daran, den eigenen Speichel in einen fremden hungrigen Mund zu geben, nichts Sexuelles sein? Ich musste diese Lust von dem trennen, was ich vielleicht mit einer oder einem Geliebten empfinden würde. Ich wollte die Lust an der Gewalt von der am Sex trennen. Aber das funktionierte so nicht.
Es ist der Reiz der Grenzüberschreitung, sagte ich. Der Reiz, eine männliche Machtdomäne zu erobern. Es war der Reiz, etwas zu tun, was ich eigentlich niemals tun würde, was mir meine Kultur und mein Gewissen verboten. Und ich kaufte mir diese Erklärung durchaus ab, auch wenn es jetzt leicht ist, sie zu zerpflücken.
Ich wollte nicht wütend sein. Worauf sollte ich wütend sein? Meine Kunden kamen zu mir, um durch die Reinszenierung von Kindheitstraumata eine Katharsis zu erleben. Sie waren Geiseln ihrer Vergangenheit, Geiseln jener, die sie entmachtet hatten. Ich war keine Geisel – ich wollte nicht einmal darüber nachdenken. Ich wollte einfach nur kühn und neugierig sein und die Kontrolle haben. Meine Lust sollte keinerlei Wiedergutmachung sein. Eine Wiedergutmachung braucht man nur für etwas, das man bereits verloren hat oder das einem genommen wurde. Ich wollte nicht zugeben, dass mir jemand etwas genommen hatte.
Er hieß Alex und wohnte am Ende einer langen, unbefestigten Zufahrt, die von derselben Straße durch den Wald abging, in der auch meine Familie wohnte. Zu Fuß dauerte es zehn Minuten, um von einem Haus zum anderen zu kommen, beide waren nicht weit vom Ufer des Deep Pond entfernt. Wie viele der Seen auf Cape Cod war auch unserer vor etwa fünfzehntausend Jahren entstanden, als sich ein Eisblock von einem schmelzenden Gletscher tief in das sich verdichtende Land geschoben hatte, das später einmal unser Garten werden würde. Als der Eisblock schmolz, füllte sich die tiefe Mulde mit Wasser und wurde zu einem sogenannten Toteiskessel.
Obwohl nicht sehr groß, war unser See fünfzehn Meter tief. Mein Bruder und ich und alle anderen Kinder aus der Gegend schwammen dort jeden Sommer, erfanden irgendwelche Spiele und jagten einander, planschten, gurgelten und johlten fröhlich. Ich schwamm oft zur tiefsten Stelle hinaus – nicht in der Mitte des Sees, sondern ein Stück weiter links – und ruderte mit den Beinen über dieser Herzkammer. Im Sommer erwärmte die Sonne die Oberfläche auf Badetemperatur, aber anderthalb, zwei Meter tiefer wurde es kalt. Das Gesicht gewärmt, tauchte ich mit rudernden Armen die Füße ins kühlere Tiefe und zitterte. Fünfzehn Meter – so hoch war kein Gebäude in unserer Stadt, das war mehr als zehnmal ich ausgestreckt übereinander. Der See war ein Mysterium, so groß, dass die ganze Stadt darin Platz fand. Ich konnte mein Leben lang darin schwimmen, ohne je zu erfahren, was unten auf seinem Grund lag.
Als ich zehn war, schrieb ich in mein Tagebuch: »Heute ist Alex vorbeigekommen und mit uns geschwommen. Ich glaube, er mag mich.«
Alex war eine Klasse über mir und einen Kopf größer als ich. Er hatte einen breiten Mund und Mandelaugen, und wenn er lachte, stoben Atemwolken in die morgendliche Herbstkühle an unserer Bushaltestelle. Er trug an vier von fünf Schultagen dasselbe T-Shirt, und er gefiel mir. Ich kannte Alex schon seit Jahren, aber das hier festgehaltene gemeinsame Schwimmen ist meine erste konkrete Erinnerung an ihn. Ein paar Monate später spuckte er mich zum ersten Mal an.
Als ich elf wurde, kam ich zusammen mit allen anderen Fünft- und Sechstklässlern in unserer Stadt auf die öffentliche Mittelschule. Der Bus hielt jetzt ein Stück weiter die Straße hinunter an einer Kreuzung. Dort an der Ecke stand ein großes Haus, das Robert Ballard gehörte, dem Ozeanografen, der 1985 das Wrack der Titanic entdeckt hatte. Zu Beginn seiner Karriere hatte Ballard eine Stelle bei der nahegelegenen Woods Hole Oceanographic Institution gehabt, und während seiner Tiefseetauchgänge vor der Küste von Massachusetts entdeckte er seine Faszination für Schiffswracks. Manchmal sah ich mir das Haus ganz genau an – die vielen glänzenden Fenster, den efeuumwucherten Tennisplatz – und dachte über den Unterschied zwischen Ballard und meinem Vater nach, einem Kapitän bei der Handelsflotte. Der eine Mann fuhr seine Fracht über die Meere, der andere wagte sich tief in ihr Inneres, um die seine zu finden. Ich konnte beidem etwas Romantisches abgewinnen: über die glitzernde Oberfläche zu gleiten, aber auch, in die kühle Tiefe zu tauchen. Der Hof der Ballards war von einer Steinmauer umschlossen. Hier warteten wir auf den Schulbus.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle las ich Bücher. Lesen vertrieb mir die Zeit. Ganze Stunden verschwanden am Stück. Lesen verkürzte die Seereisen meines Vaters, brachte mich mit jeder Seite seiner Rückkehr näher. Ich war eine Magierin mit einer einzigen Zauberkraft: Ich konnte die Welt verschwinden lassen. Manchmal tauchte ich aus ganzen durchlesenen Nachmittagen auf, mein Leben ein traumähnlicher Nebel, durch den ich wandelte, während mein eigenes Ich wieder schwarz in mich hineinsickerte wie frisch aufgebrühter Tee.
Der Beginn der fünften Klasse brachte noch mehr Veränderungen mit sich als nur die Stelle, an der der Bus abfuhr. In jenem Sommer trennten sich meine Eltern. Und mein Körper, jenes einst so zuverlässige Schiff, begann sich zu verändern. Was dabei herauskam, war keine fröhliche Zauberei, kein Abrakadabra. Es ging ka-wumm. Den neuen Körper verschwinden zu lassen, war deutlich schwerer.
»Ich wünschte, die Leute würden sich nicht einfach so verändern«, schrieb ich in mein Tagebuch. Mit »Leute« meinte ich meine Eltern. Mich. Ich meinte den Jungen, der durch den Teich auf mich zuschwamm – meinen neuen Körper, der ködern, aber nicht kontrollieren konnte.
Vor der Pubertät hatte ich mich zielstrebig und unbefangen durch die Welt und auf andere Menschen zubewegt. Ich hatte Unmengen von Büchern verschlungen und in einem Notizbuch mit rotem Samteinband all jene Wörter aufgelistet, die ich nachschlagen wollte. Dieses Notizbuch besitze ich heute noch. »Substitut«, steht da. »Entropie. Mnemonik. Morast. Korpulent. Grünspan.« Ich war klug und stark, und allein darin lag meine Kraft. Meine Eltern liebten mich von ganzem Herzen und spiegelten mir meine Stärken.
Die Welt meiner frühen Jahre war sicher, vielleicht sicherer als die anderer Mädchen. Meine Mutter hielt Kabelfernsehen und zuckrige Flakes von mir fern und nahm in meinen Kinderbüchern mit Edding feministische Korrekturen vor. Wenn mein Vater von der See zurückkam, brachte er mir bei, wie man einen Baseball wirft oder einen Punch schlägt, wie man den Polarstern findet und ein Feuer entfacht. Ich war geschützt vor den dunkleren Seiten des Frauseins. Gerade muss ich an die Titanic denken – nicht an die bekannte Tragödie ihres Untergangs, das Kreischen von Eis an ihrer Steuerbordseite, das durch die Risse rauschende Meerwasser. Ich denke an das kurze Wunder ihrer Überfahrt. Die dreihundertfünfundsiebzig Meilen, die sie makellos über den Atlantik glitt. Ein ebenso großes Wunder war der Beginn meiner Reise. Genau wie das der Titanic sollte es nicht von Dauer sein.
Meine Mutter bemerkte es zuerst. »Dein Körper ist ein Tempel«, sagte sie zu mir. Der...




