Fatah | Schwarzer September | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Fatah Schwarzer September

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-16216-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-16216-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Schwarzer September“ ist ein Roman über den Terrorismus der Siebziger Jahre. Rebellische Idealisten wie Theresa, Alexander und Jakob reisen in den Nahen Osten, um sich ausbilden zu lassen. Ihre Familien bleiben mit Legenden in der Bundesrepublik zurück. Menschen aus dem Nahen Osten wiederum wechseln in die Bundesrepublik, um Aktionen vorzubereiten. Sie alle verbindet eines: Werkzeuge zu sein in einem Zusammenhang, den sie nicht überschauen. Kraftwellen einer Gewalt, die uns bis heute beschäftigt, auch wenn sich der Terrorismus inzwischen von einer mit revolutionärem Elan ausgeübten Gewalt zum Ausdruck einer extrem politisierten Religiosität gewandelt hat.

Sherko Fatah ist einer der klügsten Beobachter und Deuter der Vorgänge im Nahen Osten. Seine faktenreichen und doch atmosphärisch dicht erzählten Romane sind ihrer Zeit auch dann voraus, wenn sie den Blick in die Vergangenheit richten. Sie spüren den abenteuerlichen Wegen der handelnden Figuren aus unterschiedlichen Kulturen inmitten der Konflikte im Nahen Osten nach und beschreiben die Auswirkungen dieser Konflikte, die wie Druckwellen auch das heutige Westeuropa erreichen.
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Wie schon oft zuvor hatte er damals in der Bar des Fleurs darüber nachgedacht, was ihn zur indirekten Zusammenarbeit mit den Amerikanern getrieben hatte. Ausgerechnet die verhasstesten Ausländer waren auch die am meisten umworbenen. Das galt für die ganze Region. Ziad führte das Teeglas an die Lippen und nickte bei jedem Schluck. Er wusste, dass ihn dies nicht entlastete. In den Augen mancher war und blieb er ein Verräter.

Sein Blick schweifte über die leeren Tische des Nachtclubs, der jetzt, am frühen Abend, entzaubert wirkte wie ein hell erleuchteter Kinosaal. Die Tischplatten waren fleckig und voller Krümel, Zigarettenkippen lagen am Boden, und am Tresen lehnte ein Reisigbesen.

Ziad staunte gerade noch über die Schäbigkeit dieses allgemein als Ausländertreffpunkt geltenden Etablissements, da zog ein Schatten hinter einem der dunklen Fenster seine Aufmerksamkeit auf sich. Wie immer in solchen Situationen machte sich Ziad klein, atmete aus und ließ die Schultern hängen. Seiner privaten Mythologie zufolge ließ ihn dies ein wenig mehr verschmelzen mit dem jeweiligen Hintergrund, vor dem er saß oder stand. Unauffälligkeit war wichtig in einer Stadt voller Verschwörer und Bombenleger, zumal, wenn man für die Amerikaner arbeitete. Ziad lächelte. Arbeiten, das hörte sich weitaus bedeutender an, als es war. Tote Briefkästen leeren, Leute ausspionieren, Botengänge machen. Nichts davon war aufregend, aber alles gefährlich.

Der Schatten im Fenster bewegte sich erneut. Diesmal glaubte Ziad, ruckartige Bewegungen wahrgenommen zu haben, er stellte sich vor, jemand suchte etwas in seiner Manteltasche. Gleich darauf war der Schatten wieder verschwunden, das Fenster leer, als hätte es nie eine Bewegung darin gegeben. Er blickte sich noch einmal im Raum um. Das tat er häufig, bevor er eine Entscheidung traf. Es zwang ihn, sich ganz auf die Situation zu konzentrieren, lenkte ihn auch, zum Guten oder zum Schlechten, vom Bevorstehenden ab.

Hinter dem langen schwarzen Tresen mit den aufwendig verzierten Zapfhähnen und vor der schimmernden Wand aus zumeist französischen Schnapsflaschen wischte ein junger Mann den Fußboden. Er war so dünn, dass sein Hemd tatsächlich leer wirkte. Leicht nach vorn gebeugt, fielen ihm pechschwarze Haarsträhnen ins Gesicht, wahrscheinlich war er ein Asiate. Auf der anderen Seite, weiter hinten im Raum, lungerten drei junge Männer auf Polstersesseln herum. Die Nische lag im Halbdunkel, an der Wand darüber war der gemalte, wohlgeformte nackte Körper einer Frau gerade noch zu erkennen.

Ziad beobachtete die drei ein paar Sekunden lang. Sie saßen mit dem Rücken zu ihm und wirkten unbeteiligt und nur miteinander beschäftigt. Er hielt sie für Botenjungen oder Lieferanten, die dort auf ihren nächsten Auftrag warteten.

Noch einmal ging er alles durch. Am frühen Abend hatte das Telefon geklingelt, lange und durchdringend, bis er endlich abgehoben und Massuds vertraute Stimme gehört hatte. Er schickte ihn ins Fleurs, um dort jemanden zu treffen. Es sei nicht ganz sicher, ob es klappen würde, aber den Versuch wert, sagte Massud. Solcherlei nebulöse Aufträge waren nicht selten, und jedes Mal ärgerte er sich sehr darüber, denn sie reduzierten ihn auf die Bedeutung jener Botenjungen dort drüben, mit denen man ähnlich umsprang. Jetzt aber ließ er sich nicht dazu hinreißen, innerlich darüber zu fluchen, dass man über ihn und seine Zeit nach Belieben verfügen konnte. Vielmehr rekapitulierte er innerhalb der nächsten Sekunden, was er über Massud wusste. Er hegte keinen wirklichen Verdacht, es war eher ein Was-wäre-wenn-Spiel, eine kurze Selbstvergewisserung.

Er lehnte sich zurück und starrte in das kalte Licht der Neonröhren, die über der Bar befestigt waren. Er betrachtete die großen Lampenschirme aus Ziegenleder in der Mitte der Raumdecke und dachte an das verführerische rötliche Dämmerlicht, das sie entstehen ließen, wenn sich gegen neun Uhr abends der Saal mit Gästen zu füllen begann. Jetzt war das alles weit entfernt, weder das glänzende Metall der Zapfhähne noch die vielen übereinanderstehenden Flaschen, noch nicht einmal der süßliche, scharfe Geruch im Raum konnten der sachlichen Vorabendstimmung etwas anhaben.

Kaum wiederzuerkennen war die Bühne. Der dicke Teppich, der sie bedeckte, war fleckig und grau. Nur mit Mühe konnte Ziad sich vorstellen, wie die Herrin der Hunde dort spät am Abend ihre Nummer aufführte. Halb nackt, in rotes Licht getaucht, streckte sie die Brüste vor und schwenkte die Hüften. Vor allem aber stolzierte sie barfuß umher, und allein schon, wie sie die Füße aufsetzte, sich umwandte und, vom Licht geblendet, herrisch sich umblickte, elektrisierte die anwesenden Männer. Das jedenfalls bildete Ziad sich ein.

Für ihn war sie die europäische Traumfrau, hell und hochgewachsen, Hure und Beute in einem, Herrin und unerreichbares Traumgebilde im anderen Moment, ganz wie sie es wollte. Der Anblick der jetzt schmutzigen Bühne ernüchterte Ziad. Kurz machte er sich bewusst, wie billig diese Inszenierung aus ein paar Bühnenstrahlern und lauter Musik war – und wie wirkungsvoll. Gleich darauf hatte er wieder die Tänzerin vor sich, ihre beweglichen Hüften, die wohlgeformten Schultern und den tiefrot geschminkten Mund.

Beim Gedanken an sie wurde ihm heiß, und, wie immer in solchen Momenten, verachtete er sich für diese jugendliche Geilheit, diese überbordende Leidenschaft, die so stark werden konnte, dass sie ihm den Atem nahm. Er dachte an die Europäer und Amerikaner, an Touristen und Leute, die er aus der Ferne von der Agentur her kannte, an diese Männer in Jeans und Freizeithemden oder auch in Leinenanzügen. Im Vergleich zu ihm waren das rational denkende Erwachsene, sie waren planvoll und zuverlässig, jedenfalls gaben sie das vor. Allem, was sie taten, schien Überlegung vorausgegangen zu sein, und ihre dauernde höfliche Distanz konnte hier leicht als Kälte und Berechnung missdeutet werden. Ihnen gegenüber kam sich Ziad vor wie ein Tier, ungezügelt und unberechenbar. Der Gedanke, dass diese Westler ihre Lüsternheit nur besser verbargen, tröstete ihn nicht, denn im Verbergen lag ja ihre Stärke. Etwas stimmt mit uns nicht, dachte er, wir sind zu heißblütig. Dachte er an die Tänzerin, an ihre leicht emporgereckten Zehen, wenn sie zu Beginn ihrer Nummer die spitzen Pantoffeln von ihren Füßen warf, dann wurde ihm der Mund trocken. Er wollte sich vor ihr niederwerfen und sie im gleichen Moment beherrschen, unter und über ihr sein. Diese Vorstellung aber erzeugte in seinem Geist eine Dissonanz, die ihn sich seufzend die Stirn wischen ließ. Vielleicht stimmt auch nur etwas mit mir nicht, dachte er und zwang sich zur Konzentration.

Er war, das wusste Ziad, auch hier, gerade hier in Gefahr. Selbst wenn er Massud nicht ernsthaft unterstellte, etwas gegen ihn im Schilde zu führen, so konnte doch immer noch etwas schiefgegangen sein. Wie hatte er es formuliert: »Tu mir den Gefallen, mein Freund, es ist keine große Sache. Bleib einfach, wo du bist, bis er kommt. – Ich muss heute noch viele Informationen auswerten. Du verstehst, alles wichtig, eilig – wie die Oberen eben sind.« Es war das Übliche, erst die Zumutung, dann der Trost durch Vertraulichkeit.

Ziad sah auf die Uhr. Er war jetzt seit einer halben Stunde hier und niemand schien ihn bemerkt zu haben. Der Raum war offen und betretbar wie eine Bahnhofshalle, und zu Ziads Verwunderung hatte sich niemand gerührt, nachdem er sich an einen der Tische gesetzt hatte.

Hinter ihm knarrte eine Tür, dort, wo zwischen zwei überlebensgroßen Porzellanhunden ein dunkler Gang zu den Toiletten führte. Er lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Momente später stand tatsächlich ein hochgewachsener Mann bei ihm. Ziad sah ihn aus dem Augenwinkel und rührte sich nicht.

»In den Bergen hat es gestern geregnet«, sagte der Mann auf Englisch.

»Am Schwarzen Horn oder im Schuf?«, sagte Ziad leise.

Der Mann schwieg unangenehm lange und kramte einen Briefumschlag aus seiner Manteltasche hervor. Unbeholfen setzte er sich schließlich Ziad gegenüber, legte die flache Hand auf den Umschlag und schob ihn über die Tischplatte zu ihm.

Ziad schmunzelte.

»Ich muss es einfach fragen«, sagte er, als würde er zu sich selbst sprechen, »warum ausgerechnet hier?«

»Der einzige Ort, den ich in Beirut kenne.« Der Mann blickte sich andeutungsweise um. » Sorry«, fügte er noch an.

Er erhob sich, zupfte den Mantel zurecht und ging. Ziad blickte ihm nach, beobachtete, wie er in den gewaltigen Windfang und von dort ins Licht der Straße trat. Er spürte den Umschlag unter seiner Hand und fragte sich, ob dieser Mann, der aussah, als käme er aus dem Süden des Landes und möglicherweise ein Schiit war, tatsächlich die ganze Zeit über in der Toilette auf ihn gewartet hatte. In solchen Momenten sah er alles, was er tat, von außen. Doch die Lächerlichkeit des Spiels konnte ihn nicht amüsieren, sie erschreckte ihn. War das auf den höheren Etagen der Agentur möglicherweise anders, gab es dort einen Grad von Professionalität, der Szenen wie diese nicht zuließ? Wer weiß, dachte er, vielleicht ist auch das eine Illusion.

Er wartete noch fünf Minuten, fing einen stumpfen, missmutigen Blick des Asiaten auf, der nichts als Überdruss zum Ausdruck brachte. Dann prüfte er kurz den Stapel Banknoten im Umschlag und erhob sich. Kurz vor dem Windfang blickte er noch einmal zu den drei Männern und bemerkte, dass es vier waren. Einer saß so tief im Schatten, dass er dunkelblau wirkte. Ziad öffnete die...


Fatah, Sherko
Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman »Im Grenzland«. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit »Das dunkle Schiff«, 2012 mit »Ein weißes Land«) nominiert, stand mit »Das dunkle Schiff« 2008 auf der Shortlist und mit »Der große Wunsch« 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.



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