Fatah Onkelchen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-18729-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-18729-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman 'Im Grenzland'. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit 'Das dunkle Schiff', 2012 mit 'Ein weißes Land') nominiert, stand mit 'Das dunkle Schiff' 2008 auf der Shortlist und mit 'Der große Wunsch' 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Autoren/Hrsg.
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II
Sie fuhren südwärts durch ein Stück friedliches und aufgeräumtes Westeuropa, das sich bereits in der jährlichen Nachsaison befand, und schauten, noch in Deutschland, den heimkehrenden Wochenendurlaubern nach – doch schien ihre Reise nicht wirklich beginnen zu wollen. Erst bei ihrem Abstecher nach Kroatien und im Gespräch über die Kriegsereignisse vor wenigen Jahren hatten sie das Gefühl, in der Fremde zu sein. Aber es war eine Fremde, die sie sanft umfing.
Sie näherten sich zusehends dem ersten der Zufluchtsorte Omars. Sein letzter und schließlich erfolgreicher Versuch, nach Deutschland zu kommen, hatte ihn auf der Balkanroute zunächst bis nach Kroatien geführt.
Es kostete sie einige Anstrengungen und eine nicht geplante Übernachtung, die unweit der slowenischen Grenze gelegene Stelle zu finden. Rahman entwickelte bei der Suche einen unerwarteten Eifer. Und es war ein ganz besonderer Moment, als sie dann tatsächlich zu jenem Ort kamen, den Omar bewohnt hatte. Es war, als würden sie aus dem Reich der Erzählungen in die Wirklichkeit treten und dabei diesen Übergang sehr deutlich wahrnehmen. Alles, was sie sahen, hatte eine Bedeutung, weil sie es verglichen mit den Erzählungen, weil sie Übereinstimmungen suchten, wo es eigentlich nichts weiter gab als die spätsommerliche Hitze, den Gesang der Heuschrecken und eine verwilderte Obstplantage.
Omar war wie schon mehrfach zuvor aus einem der Auffanglager für Illegale geflohen, um außerhalb der überfüllten Schlafstätten und umdrängten Kochstellen allein zu sein. Bevor er sich Nina anschloß, mied er grundsätzlich die Städte.
Der Unterschlupf, den er eher zufällig gefunden hatte, als er die halbzerstörten Häuser umschlich und den langen, noch immer Früchte tragenden Reihen von Obstbäumen bis ans Ende gefolgt war, muß ihn sofort mit jener Verlassenheit umfangen haben, die er damals wie nichts sonst brauchte.
Dieser Ort lag hinter einer feuchten, mit Gestrüpp und vermoderndem Holz gefüllten Senke. Sie mußte einmal ein breiter Graben gewesen sein, der die Insel aus großen blühenden Büschen und gewaltigen Bäumen umschloß.
Kurz hielt Omar inne und prüfte noch einmal, was er sah. Aber hier, so weit ab von der Landstraße, hinter der großen Obstplantage, war eigentlich mit niemandem außer einem Versprengten wie ihm selbst zu rechnen. Er ging, schlich weiter, geduckt, als würden die viele Meter breiten, windbewegten Büsche ihn bemerken und angreifen können.
Am Rand des Grabens mußte er stehenbleiben. Er fragte sich, ob er sich hinüberkämpfen sollte und wie tief er dabei wohl einsinken würde. Es war mehr der Gedanke, wieder zurückkommen zu müssen, der ihn schreckte. Still betrachtete er die wogenden Pflanzen auf der Insel. Nach ein paar Sekunden gaben sie für einen Moment den Blick frei auf unverputztes Gemäuer, Holzbalken und herumliegenden Unrat. Mitten in den Büschen stand eine Hütte. Er starrte weiter dorthin in der Hoffnung, mehr erkennen zu können. Aber es blieb bei diesem Stück der Außenmauer.
Jetzt beschloß er hinüberzugehen und suchte nach einer leichter zu passierenden Stelle. Am Ende aber blieb ihm nichts übrig, als auf unsicherem Grund, mit den Armen rudernd, mit den Händen sich abstützend und um jeden Tritt ringend vorwärts zu gehen. Immer wieder blickte er in Richtung der Hütte, die weit überragt wurde von einem toten Baum. Das kahle, im Gegenlicht schwarz in den Himmel greifende Geäst stand in schroffem Gegensatz zu der üppigen, duftenden Vegetation um ihn.
Als er auf der anderen Seite war, blickte er kurz zurück und spürte bereits Beruhigung, die sich wie ein schwerer Mantel um seinen, wie er jetzt empfand, lange schon viel zu leichten Körper legte. Und er überlegte beinahe vergnügt, wie lange ihn die überreifen Früchte an den Bäumen dort drüben wohl ernähren würden. Dann stieg er die letzten Meter hinauf und stand vor der Mauer, die er von fern gesehen hatte, als wäre er hier nun am Ziel eines langen Weges angekommen.
Er umschlich die weiß blühenden Büsche und erkannte immer mehr Mauerstücke dazwischen. An einer Stelle fand er einen Durchbruch, der ihn sofort in die Hütte hineinziehen wollte, so kam es ihm vor. Aber er widerstand, auch wenn sein Bedürfnis, sich zu verbergen, unvermindert stark war, ja, noch stärker geworden war, seit er den Ort gefunden hatte. Er blieb vorsichtig, ein alter Fuchs, der in keine Falle mehr gehen würde, auch wenn er wußte, daß diese, hier in der absoluten Abgeschiedenheit, ihm nur der Zufall hätte stellen können. Doch auch gegen diesen wollte er sich wappnen, weshalb er zurücktrat, um die Hütte weiter zu umkreisen. Als er nichts Verdächtiges festgestellt hatte, prüfte er noch einmal die Einsehbarkeit seines neuen Verstecks.
Folgte man seinem Weg von der Obstplantage her weiter an der Hütte vorbei, so ging man auf breiten, überwucherten Betonplatten bis zu einer Wand aus Gestrüpp, welche kaum mehr erkennen ließ, wie sich hier die Insel wieder senkte. Das Gestrüpp überwucherte die weite Fläche eines sanft abfallenden Hanges bis an ein lichtes Waldstück auf dem nächsten Hügelrücken. Es ist schon möglich, daß sich jemand durch die hohen Pflanzen hierher bewegt, dachte Omar. Und er stellte fest, wie wenig er davon sehen würde. Aber abgesehen von einer Insel im Meer oder einer Stellung ganz oben im Gebirge konnte er sich dennoch kaum einen besseren Ort als diesen vorstellen.
Er ging zurück und suchte den Boden nach Brauchbarem ab. Dabei fand er zwei Blecheimer, gefüllt mit stinkendem Wasser, in die er beinahe hineintrat: Sie waren bereits überwachsen; das Wasser darin mußte vom Regen herrühren. Dennoch standen sie säuberlich nebeneinander, hingestellt eben, wenn auch vor geraumer Zeit. Lange verharrte er vor den Eimern und wußte nicht, was er davon halten sollte. Dann trat er einen von ihnen um und sah zu, wie sich die dickflüssige Brühe im Gras verteilte.
Michael betrachtete die beiden Eimer und richtete den umgestürzten mit der Schuhspitze wieder auf. Omar mußte beunruhigt gewesen sein. Im hohen Gras verteilt waren ringsum die Spuren vergangener menschlicher Anwesenheit. Wahrscheinlich existierten auch damals schon die vielen Reste von Feuerstellen, ganz sicher aber die säuberlich aufgeschichteten, verrottenden Holzblöcke. Es gab auch ein niedriges, eisernes Gatter, längst verrostet und ohne jede Verbindung zu einer Befestigung, aber doch noch immer gesichert durch ein schweres Schloß an einer Kette.
Er nahm die alte Hütte für sich in Besitz. Bevor Rahman und Michael sie näher untersuchten, mußten sie mannshohes Gestrüpp durchdringen und einen gewissen Ekel überwinden. Sie stießen das morsche Holz der hinter den Pflanzen kaum noch erkennbaren Tür beiseite und stiegen durch die Öffnung ein in den dunklen Raum, der durchbrochen war vom gleißenden Tageslicht, das durch die Löcher des schadhaften Daches fiel.
Nach beider Meinung konnte dies nicht die Behausung des Alten gewesen sein, obwohl es ihnen anders berichtet worden war. Dieser Raum war unbewohnbar. Rahman wandte sich um und trat gegen die Reste der Tür, bis sie umstürzten und das Gestrüpp mit sich rissen. Das Licht breitete sich langsam in dem Raum aus, so als müßte es den zähen, muffigen Dämmer zurückdrängen. In einer Ecke, hoch über zerborstenen Dachbalken und herabhängenden Strohfahnen, geriet ein verputzter Mauerrest in Bewegung. Dutzende von Fledermäusen regten sich dort oben, zitternd verformten sich ihre zusammengefalteten Leiber. Rahman zog sich angewidert zurück.
In diesem Moment wollte Michael der Ort entgleiten und mit ihm alles, was er von ihm wußte und mit hierher gebracht hatte: Er zweifelte daran, daß Omar jemals hier gewesen war. Daß er zunächst sicher gewesen war, hatte mit diesem Haus zu tun, mit seiner Verlorenheit inmitten der riesigen abgestorbenen Bäume und damit, daß sie es erst nach langer Suche gefunden hatten. All das erschien ihm nun als Täuschung. Es konnte viele solcher Orte geben.
Er wollte Rahman nach draußen folgen, da sah er, was vorher in der Dunkelheit verborgen gewesen war: Auf dem von altem Stroh bedeckten Boden lag in der Nähe der Wand ein schmutziges Deckenbündel. Gleich dahinter erkannte er einen alten, feucht und schwarz gewordenen Strohballen. Michael ging hinüber und schob die Decken mit dem Fuß auseinander. Darunter legte er einen metallenen Bügel frei, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte. Er dachte darüber nach, zu welcher Art von Gerät er passen könnte, aber ihm fiel keines ein. Danach untersuchte er die Wände. Sie waren überzogen von breiten, dunklen Schmutzspuren und von Ruß.
Nicht weit entfernt von den Decken gab es eine Öffnung, die mehr eine Luke als eine Tür gewesen sein mußte. Sie war, wie er jetzt feststellte, von außen mit nachlässig zusammengezimmerten Holzbalken verschlossen. Michael trat dagegen. Die Fledermäuse kamen nicht zur Ruhe. Der Deckenhaufen erschien ihm nun tatsächlich wie ein Schlaflager, durch die Luke leicht zu erreichen und zu verlassen.
Er eilte hinaus, um Rahman von seiner Entdeckung zu berichten. Dieser hockte auf den verwitterten Steinfliesen und schaute auf das buschige, von gespeicherter Wärme gleichsam knisternde Hügelland hinaus. Als Michael zu ihm trat, blickte er demonstrativ auf die Uhr. Widerwillig folgte er ihm und besah sich dessen Fund.
»Ich weiß nicht«, sagte er dann. »Das könnte alles sein.«
»Aber es ist möglich«, erwiderte Michael. »Er könnte hier geschlafen haben. Vielleicht war der Strohballen damals frisch, und er hat sein Lager damit immer wieder erneuert. Sieh doch hin, der Ballen ist an einer Stelle ausgefranst.«
Rahmans schmale Augen musterten eilig...