Fatah | Das dunkle Schiff | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Fatah Das dunkle Schiff

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-18730-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-18730-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kerim, von Beruf Koch, macht sich aus dem irakischen Grenzland auf die beschwerliche und gefährliche Reise nach Europa. Er war unter Gotteskrieger geraten und mit ihnen durch das Land gezogen, bevor er sich entschied, vor ihrem Weg der Gewalt zu fliehen. Kerim versucht, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, und findet in dem fremden Land seine erste Liebe. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Seine Heimat fängt ihn wieder ein, als die Gotteskrieger ihn in Deutschland aufspüren und für seine Flucht bestrafen.

Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman 'Im Grenzland'. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit 'Das dunkle Schiff', 2012 mit 'Ein weißes Land') nominiert, stand mit 'Das dunkle Schiff' 2008 auf der Shortlist und mit 'Der große Wunsch' 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
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1.


Kerim erinnerte sich an das immer gleiche Ritual. Seine Mutter rief ihn und seine Brüder zusammen. Gemeinsam holten sie eine alte, vom Waschen zerschlissene Wolldecke hervor und breiteten sie auf dem Boden aus. Manchmal taten es auch Zeitungsbögen. Sie stellten die Töpfe und Schalen in die Mitte und setzten sich wie um ein Lagerfeuer auf den Boden. Es gab Löffel, aber da sie meist unter sich waren, wurde mit den Händen gegessen. Jeder nahm, so viel er wollte, und griff ohne zu zögern in die Töpfe.

Manchmal, in schwachen Augenblicken, kam es Kerim vor, als wäre die Erinnerung an diese Art des Essens alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Denn wenn er daran zurückdachte, standen sie alle, deutlich wie sonst nie, vor seinen Augen: Seine Mutter, die immer dabei war, doch die er kaum je essen sah. An ihre Hände erinnerte er sich und an die zarten Unterarme, die hervorsahen, weil sie die Ärmel zurückgezogen hatte. Imat, den älteren seiner Brüder, sah er vor sich, schmal und blass, wie er den Reis in winzigen Portionen nahm und selbst die Okraschoten nach Größe aussuchte, bevor er sie sich zaghaft, als wären seine Lippen wund, in den Mund schob. Ali dagegen kam schon mehr nach ihm, Kerim, und seinem Vater. Immer hungrig und nah bei seiner Mutter, griff er aus der Deckung zu. Er aß gern und für sein Alter recht viel. Schließlich tauchte auch sein Vater vor Kerims innerem Auge auf, müde meist nach den langen Arbeitstagen. Der schwere, vorgewölbte Bauch ließ ihn zusammengesackt erscheinen, wenn er am Boden saß. Kerim erinnerte sich an die Ringe unter seinen Augen, die im Flimmern des Fernsehlichtes deutlich hervortraten. Halb zum Bildschirm blickend, der über ihren Köpfen hing, halb seiner Familie zugewandt, stets recht schweigsam, ohne dabei stumpf zu wirken, so begegnete ihm Kerim in seinen Erinnerungen.

Sein Vater betrieb ein kleines Restaurant, fast schon außerhalb ihrer Stadt gelegen. Es war nicht mehr als eine Hütte, vollgestellt mit hölzernen Bänken und Stühlen, das Dach hatte an einer Stelle ein großes Loch, behelfsweise mit einer Matte bedeckt. Im Laufe der Zeit war diese Matte verwittert und ließ, vor allem in den frühen Abendstunden, Strahlen eines, wie Kerim es empfand, lieblichen Lichtes in die Hütte fallen. Aber niemand außer ihm bemerkte das.

Die meisten der Gäste waren Durchreisende, die auf ihrem Weg durch den gebirgigen Norden des Landes eine Rast einlegten. Das Gasthaus lag ganz in der Nähe einer der großen Überlandstraßen, auf denen man das gesamte Land durchfahren konnte. Kerim erinnerte sich an den gelblichbraunen Raum, an das Stimmengewirr und an die Rauchschwaden über den Köpfen der Gäste. In der Nähe der Matte füllte der Rauch die einfallenden Lichtstrahlen, als wären sie gläserne Gefäße. Kerims Mutter war sehr unzufrieden darüber, dass das Loch im Dach nie fachmännisch ausgebessert wurde. Doch ihr Mann fand dazu keine Zeit. Sein Leben wurde bestimmt vom Zubereiten des Essens. Solange Kerim ihn kannte, war das Essen das einzige, was ihn ernsthaft beschäftigte.

Bevor er zur Schule aufbrach, musste Kerim bereits arbeiten. Er hatte die kleine Küche vorzubereiten, die sich in einem Anbau der Hütte befand. Der Tag begann um vier Uhr morgens, denn um diese Stunde fanden sich die Taxifahrer ein. Sie waren immer unterwegs und zahlten im Gasthaus Sonderpreise, dafür übernahmen sie ab und an Lieferungen für Kerims Vater. Um diese frühe Morgenstunde gab es nur Brühe oder Innereien am Spieß. Das war so üblich; später am Tag hatten die Gäste die Wahl zwischen Huhn oder Hammel und der dazugehörigen Brühe. Dazu gab es immer Reis, der in einem riesigen schwarzen Kessel in Unmengen gekocht wurde. Das regelmäßige Umrühren und schließlich das Ausleeren und Wiederbefüllen überließ sein Vater gänzlich Kerim, später auch die Sorge um die Gasflaschen, die ein schweigsamer Mann regelmäßig auf einem Holzkarren vorbeibrachte. Das war ein wenig teurer als sie selbst im Laden abzuholen, doch dafür schloss er sie gleich an und überprüfte die Dichtung mit einem Streichholz. Kerim kannte diesen Mann sein ganzes Leben lang, ohne je mehr als ein paar Sätze mit ihm gesprochen zu haben.

So weit er zurückdenken konnte, stand das Essen im Zentrum seines Lebens. Er hatte eine Abneigung gegen dieses wiederkehrende Ritual und gegen die viele Arbeit, die es verursachte. Manchmal beobachtete er seinen Vater nur einfach, wie er, vornübergebeugt und schnaufend von der Hitze in der engen Küche, rasend schnell die vielen Teller vorbereitete, die Kerims Mutter eine halbe Stunde später wieder einsammeln würde. Und bereits als Kind verspürte Kerim die Gewissheit, diese Arbeit niemals selbst tun zu wollen.

Hinter der Hütte gab es einen fensterlosen Schuppen mit Blechdach, in dem nach Bedarf auch geschlachtet wurde. Kerim betrat diesen dunklen Raum nur selten, denn die stickige Hitze und der Geruch waren ihm unerträglich. In der Mitte lagen in Haufen abgetrennte Schafsköpfe, jeder einzelne mit offenen, glasigen Augen und heraushängender Zunge. Ein paar Jungen aus ärmeren Familien der Nachbarschaft verdingten sich bei Kerims Vater und arbeiteten in dem Schuppen. Sie reinigten die Köpfe und trennten die Zungen heraus. Einmal, nur um ihn damit vertraut zu machen, hatte ihm sein Vater die Sache erklärt: Die Zungen mussten durch die weiche Stelle im Unterkiefer herausgeschnitten werden, durch das Maul wäre es zu mühselig. Die Jungen hockten in ihren schmutzigen Hosen und Hemden inmitten des Blutgeruchs am Boden und warfen die langen Zungen neben sich in Blechschalen. Sie blickten neugierig zu Kerim auf, doch sagten kein Wort. Das Sonnenlicht fiel nur in einem weiten Streifen von der Tür über den dunklen Boden, und es schien, als würde es die Fliegenschwärme mit sich tragen.

Eine solche Arbeit war, nach Meinung seines Vaters, nichts für Kerim, seinen ältesten Sohn. Das Kochen brachte er ihm nebenher bei, für die Handreichungen in der Küche musste er zur Verfügung stehen. Dennoch ging Kerim regelmäßig zur Schule. Sein Vater hatte sogar einen Gehilfen, der ihn, wenn Kerim fort war, mit einem alten Pritschenwagen zum Einkauf der Vorräte in den Basar begleitete.

Es schien, als gäbe es nichts, was seine Eltern nicht getan hätten, um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Aus diesem Grund sah es sein Vater nicht gern, wenn Kerim in den Schuppen ging, um den Jungen zuzusehen. Vielleicht fürchtete er, es könnte etwas von der bedrückenden, sprachlosen Tätigkeit in jenem Dämmer auf seinen Sohn überspringen und ihn verderben. Kerim wuchs in dem Gefühl auf, wenn schon nicht zu Großem, so doch Besserem bestimmt zu sein.

Sehr früh schon begann er, dick zu werden. Anfangs fiel es nicht weiter auf, es gab in der Nachbarschaft mehrere füllige Kinder. Doch sie hielten nicht Schritt mit Kerim. Als er sieben Jahre alt war, war er das dickste Kind weit und breit. Seine Mutter ermahnte ihn oftmals, nicht an die Essensreste zu gehen. Sie schickte ihn schließlich sogar aus dem Haus, damit er sich mehr bewegte. Doch sie tat all das heimlich, bemüht, nicht die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu erregen. Denn Kerims Vater hatte den Leibesumfang von drei Männern, und nichts daran störte ihn. Er war nicht groß, der Anlage nach von eher schmaler Gestalt mit feinen Hand- und Fußgelenken. Doch das Essen hatte ihn völlig verwandelt.

Kerims Mutter kannte ihren Mann bereits, als er mehr als fünfzig Kilo weniger wog. Manchmal flocht sie die Erinnerung daran ein in die abendlichen Gespräche. Sie verweilte gern bei diesem Thema. Ihr Gesicht hellte sich auf, ihre mandelförmigen Augen verengten sich, sie wirkte vergnügt. Wenn sich Kerim später daran erinnerte, war ihm klar, was er damals nicht wissen konnte: Dies war die einzige kleine Respektlosigkeit, die seiner Mutter gestattet war – und sie kostete sie aus, so sehr sie nur konnte. Sein Vater kauerte derweil, friedlich lächelnd, auf der mit Kissen gepolsterten Bank und atmete wie immer schwer.

»Er war dünn wie ein Kind, als ich ihn das erste Mal sah«, sagte sie. »Mager wie unsere Ziege, ihr wisst schon, die kleine graue ...«

Kerim und seine Brüder lauschten ihr aufmerksam, auch wenn sie das alles schon oft gehört hatten. Denn für sie war es eine Möglichkeit, ihren Vater anders zu sehen, als sie ihn kannten. Jedenfalls konnten sie es versuchen. Verstohlen blickten sie zu dem schnaufenden Mann hinüber, darauf bedacht, dass er es nicht bemerkte. Doch es war fast unmöglich, in ihm denjenigen wiederzuerkennen, den sie beschrieb.

»Ich musste ihn zwingen zu essen«, berichtete sie. »Er war bestimmt am Verhungern. Was ich ihm auch kochte, er nagte nur daran. Wie eine Maus. Ich musste die Stellen suchen, von denen er genommen hatte.«

Kerim kannte seinen Vater als Mann, der wenig Worte machte. Selbst wenn es um die Küche ging, gab er nur Anweisungen und erklärte das Nötigste. Doch er erinnerte sich auch an ein Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe. Wenn sie mittags durch die Gassen der Stadt gingen, warf er neben ihm einen gewaltigen Schatten auf die Mauern. Sein Vater hielt ihn fest an der Hand, und so konnte Kerim diesem Schatten und seiner Verlängerung auch dann nicht enfliehen, wenn er kurz zurückblieb und sich ziehen ließ.

Kerim hätte nicht zu sagen gewusst, ob sein Vater – und überhaupt seine Familie – in der Nachbarschaft beliebt war. Geachtet sicher, dafür sorgte der Gasthausbetrieb. Doch auf der Straße begegneten die Leute ihm immer mit höflicher Distanz.

Vielleicht hatte das zu tun mit seiner Herkunft aus einer alevitischen Familie. Wenig erfuhr Kerim darüber, da sein Vater nur spärliche Erinnerungen daran zu haben schien. Sie hatten im türkischen Tunceli gelebt; schon das Wort klang aus...


Fatah, Sherko
Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman »Im Grenzland«. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit »Das dunkle Schiff«, 2012 mit »Ein weißes Land«) nominiert, stand mit »Das dunkle Schiff« 2008 auf der Shortlist und mit »Der große Wunsch« 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.



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