E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Gatsby
Fallada Kleiner Mann – was nun?
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-311-70036-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Gatsby
ISBN: 978-3-311-70036-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans Falladas (eigentlich Rudolf Ditzen) Leben war turbulent. 1893 als Sohn eines Landgerichtsrats in Greifswald geboren, war sein Leben von physischen und psychischen Problemen überschattet. Er arbeitete als Adressenschreiber, Annoncensammler und Verlagsangestellter. Einen ersten Erfolg als Schriftsteller hatte er 1931 mit seinem Roman Bauern, Bonzen und Bomben, den Durchbruch aber erlebte er 1932 mit Kleiner Mann - was nun?. Fallada, der zeitlebens mit Alkohol- und Morphinsucht zu kämpfen hatte, starb im Februar 1947 in Berlin. Einen Monat zuvor hatte er seinen letzten Roman beendet: Jeder stirbt für sich allein.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorspiel Die Sorglosen
Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und fasst einen großen Entschluss
Es ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt. Er steht, ein nett aussehender, blonder junger Mann, vor dem Hause Rothenbaumstraße 24 und wartet.
Es ist also fünf Minuten nach vier und auf drei viertel vier ist Pinneberg mit Lämmchen verabredet. Pinneberg hat die Uhr wieder eingesteckt und sieht erst auf ein Schild, das am Eingang des Hauses Rothenbaumstraße 24 angemacht ist. Er liest:
DR. SESAM
Frauenarzt
Sprechstunden 9–12 und 4–6
»Ebend! Und nun ist es doch wieder fünf Minuten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zigarette anbrenne, kommt Lämmchen natürlich sofort um die Ecke. Lass ich es also. Heute wird es schon wieder teuer genug.«
Er sieht von dem Schild fort. Die Rothenbaumstraße hat nur eine Häuserreihe, jenseits des Fahrdamms, jenseits eines Grünstreifens, jenseits des Kais fließt die Strela, hier schon hübsch breit kurz vor ihrer Einmündung in die Ostsee. Ein frischer Wind weht herüber, die Büsche nicken mit ihren Zweigen, die Bäume rauschen ein wenig.
›So müsste man wohnen können‹, denkt Pinneberg. ›Sicher hat dieser Sesam sieben Zimmer. Muss ein klotziges Geld verdienen. Er wird Miete zahlen … zweihundert Mark? Dreihundert Mark? Ach was, ich habe keine Ahnung. – Zehn Minuten nach vier!‹
Pinneberg greift in die Tasche, holt aus dem Etui eine Zigarette und brennt sie an.
Um die Ecke weht Lämmchen, im plissierten weißen Rock, der Rohseidenbluse, ohne Hut, die blonden Haare verweht. »Tag, Junge. Es ging wirklich nicht eher. Böse?«
»Keine Spur. Nur, wir werden endlos sitzen müssen. Es sind mindestens dreißig Leute reingegangen, seit ich warte.«
»Sie werden ja nicht alle zum Doktor gegangen sein. Und dann sind wir ja angemeldet.«
»Siehst du, dass es richtig war, dass wir uns angemeldet haben!«
»Natürlich war es richtig. Du hast ja immer recht, Junge!« Und auf der Treppe nimmt sie seinen Kopf zwischen die Hände und küsst ihn stürmisch. »O Gott, ich bin glücklich, dass ich dich mal wieder habe, Junge. Denke doch, beinahe vierzehn Tage!«
»Ja, Lämmchen«, antwortet er. »Ich bin auch nicht mehr brummig.«
Die Tür geht auf und im halbdunklen Flur steht ein weißer Schemen vor ihnen, bellt: »Die Krankenscheine!«
»Lassen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pinneberg und schiebt Lämmchen vor sich her. »Übrigens sind wir privat. Ich bin angemeldet. Pinneberg ist mein Name.«
Auf das Wort »Privat« hin hebt der Schemen die Hand und schaltet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Doktor kommt sofort. Einen Augenblick, bitte. Bitte, dort hinein.«
Sie gehen auf die Tür zu und kommen an einer andern, halb offen stehenden vorbei. Das ist wohl das gewöhnliche Wartezimmer, und in ihm scheinen die dreißig zu sitzen, die Pinneberg an sich vorbeikommen sah. Alles schaut auf die beiden, und ein Stimmengewirr erhebt sich:
»So was gibt’s nicht!«
»Wir warten schon länger!«
»Wozu zahlen wir unsere Kassenbeiträge?!«
»Die feinen Pinkels sind auch nicht mehr wie wir.«
Die Schwester tritt in die Tür: »Seien Sie man bloß ruhig! Herr Doktor wird ja gestört! Was Sie denken, ist nicht. Das ist der Schwiegersohn von Herrn Doktor mit seiner Frau. Nicht wahr?«
Pinneberg lächelt geschmeichelt, Lämmchen strebt der andern Tür zu. Einen Augenblick ist Stille.
»Nu bloß schnell!«, flüstert die Schwester und schiebt Pinneberg vor sich her. »Diese Kassenpatienten sind zu gewöhnlich. Was die Leute sich einbilden für das bisschen Geld, das die Kasse zahlt …«
Die Tür fällt zu, der Junge und Lämmchen sind im roten Plüsch.
»Das ist sicher sein Privatsalon«, sagt Pinneberg. »Wie gefällt dir das? Schrecklich altmodisch finde ich.«
»Mir war es grässlich«, sagt Lämmchen. »Wir sind doch sonst auch Kassenpatienten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns reden.«
»Warum regst du dich auf?«, fragte er. »Das ist doch so. Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen …«
»Es regt mich aber auf …«
Die Tür öffnet sich, eine andere Schwester kommt: »Herr und Frau Pinneberg, bitte? Herr Doktor lässt um einen Augenblick Geduld bitten. Wenn ich unterdes die Personalien aufnehmen dürfte?«
»Bitte«, sagt Pinneberg und wird gleich gefragt: »Wie alt?«
»Dreiundzwanzig.«
»Vorname: Johannes.«
Nach einem Stocken: »Buchhalter.«
Und glatter: »Immer gesund gewesen. Die üblichen Kinderkrankheiten, sonst nichts. – Soviel ich weiß, beide gesund.«
Wieder stockend: »Ja, die Mutter lebt noch. Der Vater nicht mehr, nein. Kann ich nicht sagen, woran er gestorben ist.« Und Lämmchen …: »Zweiundzwanzig. – Emma.«
Jetzt zögert : »Geborene Mörschel. – Stets gesund. Beide Eltern am Leben. Beide gesund.«
»Also einen Augenblick noch. Herr Doktor ist sofort frei.«
»Wozu das alles nötig ist«, brummt er, nachdem die Tür wieder zufiel. »Wo wir doch nur …«
»Gerne hast du es nicht gesagt: Buchhalter.«
»Und du nicht das mit der geborenen Mörschel!« Er lacht. »Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geborene Mörschel. Emma Pinne…«
»Bist du stille! O Gott, Junge, ich müsste noch einmal ganz unbedingt. Hast du eine Ahnung, wo das hier ist?«
»Also das ist doch immer dieselbe Geschichte mit dir …! Statt, dass du vorher …«
»Aber ich bin, Junge. Ich bin wirklich. Noch auf dem Rathausmarkt. Für einen ganzen Groschen. Aber wenn ich aufgeregt bin …«
»Also Lämmchen, nimm dich doch einen Augenblick zusammen. Wenn du wirklich eben erst …«
»Junge, ich muss …«
»Ich bitte«, sagt eine Stimme. In der Tür steht Doktor Sesam, der berühmte Doktor Sesam, von dem die halbe Stadt und die viertel Provinz flüstern, dass er ein weites Herz hat, manche sagen auch, ein gutes Herz. Jedenfalls hat er eine volkstümliche Broschüre über sexuelle Probleme verfasst, und darum hat Pinneberg den Mut gehabt, ihm zu schreiben und sich und Lämmchen anzumelden.
Dieser Doktor Sesam steht also in der Tür und sagt: »Ich bitte.«
Doktor Sesam sucht auf seinem Schreibtisch nach dem Brief. »Sie haben mir geschrieben, Herr Pinneberg. Sie können noch keine Kinder brauchen, weil das Geld nicht reicht.«
»Ja«, sagt Pinneberg und ist schrecklich verlegen.
»Machen Sie sich immer schon ein bisschen frei«, sagt der Arzt zu Lämmchen und fährt dann fort: »Und nun möchten Sie einen ganz sicheren Schutz wissen. Ja, einen ganz sicheren …« Er lächelt skeptisch hinter seiner goldenen Brille.
»Ich habe in Ihrem Buch gelesen«, sagt Pinneberg, »diese Pessoirs …«
»Diese Pessare«, sagt der Arzt, »ja, aber sie passen nicht für jede Frau. Und dann ist es immer etwas umständlich. Ob Ihre Frau das Geschick hat …«
Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein bisschen ausgezogen, nur so angefangen, die Bluse und den Rock. Mit ihren schlanken Beinen steht sie sehr groß da.
»Nun, gehen wir einmal rüber«, sagt der Arzt. »Die Bluse hätten wir nun nicht auszuziehen brauchen, kleine junge Frau.«
Lämmchen wird ganz rot.
»Jetzt lassen Sie sie schon liegen. Kommen Sie. Einen Augenblick, Herr Pinneberg.«
Die beiden gehen in das Nebenzimmer. Pinneberg sieht ihnen nach. Der ganze Doktor Sesam reicht der »kleinen jungen Frau« nicht bis an die Schultern. Pinneberg findet wieder, sie sieht herrlich aus, das beste Mädchen von der Welt, das einzige überhaupt. Er arbeitet in Ducherow und sie hier in Platz, er sieht sie höchstens alle vierzehn Tage, und so ist sein Entzücken immer frisch und sein Appetit über alles Begreifen.
Nebenan hört er den Arzt ab und zu halblaut etwas fragen, gegen einen Schalenrand klappert ein Instrument, das Geräusch kennt er vom Zahnarzt, es ist kein angenehmes Geräusch.
Nun fährt er zusammen, diese Stimme von Lämmchen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schreiend, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch einmal: »Nein!« Und dann ganz leise, aber er hört es doch: »O Gott!«
Pinneberg macht drei Schritte gegen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon gehört, dass solche Ärzte schreckliche Wüstlinge sind … Aber nun spricht Doktor Sesam wieder, nichts zu verstehen, und nun klappert wieder das Instrument.
Und dann lange Stille.
Es ist ein Hochsommertag, etwa Mitte Juli, herrlichster Sonnenschein. Der Himmel draußen ist dunkelblau, ins Fenster reichen ein paar Zweige, sie bewegen sich im Seewind. Da ist ein altes Lied aus Pinnebergs Kinderzeit, es fällt ihm eben ein:
Wehe-Wind, Puste-Wind,
Nimm den Hut nicht meinem Kind!
Sei gelind zu meinem Kind,
Wehe-Wind, Puste-Wind!
Die im Wartezimmer reden. Denen wird die Zeit auch lang. Eure Sorgen möcht ich haben. Eure Sorgen …
Die beiden kommen wieder. Pinneberg wirft einen ängstlichen Blick auf Lämmchen, sie hat so große Augen, wie von einem Schreck erweitert. Sie ist blass, aber nun lächelt sie ihm zu, kümmerlich erst, und dann breitet sich das Lächeln voll aus über das ganze Gesicht und wird immer stärker und blüht auf … Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hände. Schräg schaut er...